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Israel kommt nicht zur Ruhe

Israels vorige Regierungen blickten nur auf knappe Mandatsmehrheiten, was für Unbeständigkeit sorgte. Das jüngste Wahlergebnis brachte diesbezüglich eine Entscheidung, aber trotzdem keine Stabilität, sondern das Gegenteil.
Von Antje C. Naujoks

Schon im Verlauf der Koalitionsverhandlungen musste Israels neuer Alt-Premier Benjamin Netanjahu feststellen, dass seine Wunschpartner, obwohl ideologisch gut einander ergänzend, gar nicht so einfach unter einen Hut zu bringen waren. Obwohl der Likud mit 32 Abgeordneten als mandatsstärkste Partei aus der Wahl hervorging, hatte er an die beiden ultra-orthodoxen Parteien, die zusammen 18 Sitze errangen, große Zugeständnisse zu machen.

Die als Bündnis zur Wahl angetretenen Parteien Religiöse Zionisten, Otzma Jehudit (Jüdische Stärke) und Noam sollten Netanjahu mit ihren 14 Mandaten zur parlamentarischen Mehrheit verhelfen. Da sie sich aber voneinander lösten, musste er separat geltend gemachte Ansprüche deichseln, die umfassender ausfielen als ursprünglich angenommen. Erst zwei Monate nach der Wahl stand Netanjahus Koalition, die gegenwärtig auf 60 Tage im Amt blickt.

Polarisierung

Noch bevor der Regierungsalltag begann, war klar, dass das Machtgerangel unter den Regierungspartnern weitergehen würde. Klar war allerdings auch, dass sie dennoch ihre parlamentarische Mehrheit nutzen würden, um ihre politischen Ziele durchzudrücken. Das sind vielfältige Ziele, doch zwei Themenkomplexe stehen über allem. Für die ultra-orthodoxen Parteien wäre ein vor ihren Augen Gestalt annehmender Tora-Staat der größte Traum. Dagegen haben die religiös geprägten Parteien der Rechtsaußenflanke grundsätzlich nichts einzuwenden, wenngleich sie ihrerseits eher auf deutliche jüdisch-israelische Zeichen im Westjordanland setzen, womit wiederum die ultra-orthodoxen Parteien prinzipiell kein Problem haben.

Das Wahlergebnis schien die Wahl-Dauerschleife, in der Israel seit 2019 steckt, zu beenden. Die Spaltung des Volkes war damit allerdings nicht überwunden. Denn trotz der deutlichen Mandatsmehrheit der Koalition veranschaulicht die Stimmabgabe am Wahltag, dass sich fast genauso viele Israelis gegen wie für eine Netanjahu-Regierung aussprachen.

Somit stand von Anfang an fest: Die religiöseste und am stärksten rechtsnational orientierte Regierung in Israels Geschichte würde polarisieren. Die Koalitionsabkommen verhießen, dass sich die Fronten noch weiter verhärten würden. Während ein Teil Israels im Machttaumel in noch größeren Jubel als am Wahlabend ausbrach, erwachte der andere Teil aus der Wahlergebnis-Schreckstarre und kam zu der Erkenntnis: Wenn wir untätig bleiben, wird uns unser Zugehörigkeitsgefühl zu diesem Land und zu dieser Gesellschaft genommen.

Ein Land im Zeichen von Großkundgebungen

Als Justizminister Jariv Levin (Likud) der Öffentlichkeit wenige Tage nach Vereidigung der Regierung die Justizreformpläne präsentierte, zog es die ersten Israelis zu Protesten auf die Straße. Es waren einige zehntausend Aktivisten, auf die die Lieblingsbehauptung von Premier Netanjahu, nur die Linke gehe gegen ihn auf die Straße, mehrheitlich durchaus zutraf.

Doch die Demonstrationen schwollen seither an. Organisatoren wie Teilnehmer haben bereits das achte Wochenende der Kundgebungen hinter sich. Nicht nur in Tel Aviv, Jerusalem und Haifa demonstrieren immer mehr Menschen nach dem Ausklang des Schabbat, um Unmut über die Justizreform zu bekunden. Schon nach zwei, drei Wochen fanden in allen Großstädten des Landes Proteste statt. Inzwischen sind Einwohner auch kleinerer Städte und sogar im erzkonservativen Be’er Scheva und in der Westjordanland-Siedlung Efrat auf den Beinen. Ein Überblick über Teilnehmerzahlen ist kaum mehr möglich.

Im Zuge der Demonstrationen vor der Knesset kam es zudem zu Blockaden der privaten Wohnsitze der Abgeordneten der Regierungsparteien. Diese Proteste erfolgten zu Zeiten erfolgten, als im Justizausschuss über die Reform beraten und im Plenum über die ersten Gesetzänderungen abgestimmt wurde. Längst wurden überdies Warnstreiks ausgerufen und Hauptverkehrsadern zeitweilig lahmgelegt. Aufsehen erregte zudem ein mehrtägiger Protestmarsch von teilweise hochdekorierten Veteranen der Israelischen Verteidigungsstreitkräfte.

Eine neue Front tut sich auf

Nicht wenige Unternehmer und Wirtschaftswissenschaftler warnten bereits vor Monaten, dass die Justizreform schwere wirtschaftliche Folgen haben könnte. Das könnte insbesondere den wirtschaftstragenden Hochtechnologiesektor treffen, so dass Israels Aushängeschild als innovative Jungunternehmer-Nation in Gefahr wäre.

In Regierungskreisen wurde das zunächst belächelt. Als zum einen immer mehr Kreise und zum anderen zunehmend scharfe Warnungen zu hören waren, wies Premier Netanjahu dies als Panikmache zurück und bekräftigte, die Justizreform würde die Wirtschaft des Landes vielmehr ankurbeln.

Kettenreaktion

In dem Moment, in dem die Regierung die ersten Justizreform-Elemente auf den Weg der parlamentarischen Absegnung brachte, schlugen ausmachbare wirtschaftliche Tendenzen in alarmierende Entwicklungen um. Israels Banken, die zunächst von einigen hundert Millionen ins Ausland transferierten US-Dollar sprachen, meldeten in der siebten Woche der Netanjahu-Regierung: Eine beispiellose Summe von 4 Milliarden US-Dollar wurde ins Ausland überwiesen.

Daran soll die Hightech-Industrie, die eine Kapitalflucht als eine ihrer Protestmaßnahmen angekündigt hatte, jedoch nur einen kleinen Anteil haben. Ein Großteil der Summe geht laut Bank-Angaben auf Privatkunden zurück, die Rücklagen im Ausland in Sicherheit bringen.

Zu dieser Entwicklung kam ein Werteinbruch der seit Monaten schwächelnden, aber weiterhin als stabil geltenden israelischen Landeswährung hinzu. Angesichts des stetig hochgesetzten Leitzinses und einer unerwartet hoch ausgefallenen Inflationsrate kündet das vom Straucheln der israelischen Wirtschaft. Hinweise auf mögliche weitere negative Entwicklungen, wie die Zurückstufung der israelischen Kreditwürdigkeit, ließen zudem israelische Staatsanleihen – die Israel Bonds – ins Augenmerk von alarmierten Fachleuten rücken. Sie hatten schon seit einiger Zeit vor der Abwanderung von Firmen und vielversprechenden Nachwuchstalenten sowie vor einem stockenden oder gar ausbleibenden Zufluss von Finanzmitteln aus dem Ausland gewarnt.

Bis vor einigen Tagen schienen das eher hypothetische Szenarien zu sein. Inzwischen liegt die erste konkrete Ankündigung vor. Der Mitbegründer der israelischen Cyber-Sicherheitsfirma Wiz, Assaf Rappaport, gab bekannt, dass die rund 300 Millionen US-Dollar, die seine Firma in der jüngsten Finanzierungsrunde auftrieb, nicht Richtung Israel fließen werden.

Angekündigter Kollaps

Somit darf nicht verwundern, dass Israels Bankenchefs einen offenen Brief herausgaben, der weit über den Charakter einer Warnung hinausging, und der Gouverneur der Landesbank eine Notfallsitzung der professionellen Wirtschaftsexperten des Landes einberief. Danach hört man Landesbank-Chef Amir Jaron verkünden: „Eine Wirtschaftskrise kann jeden Moment ausbrechen.“

Noch dramatischer klang ein Unkenruf aus dem Mund von Finanzminister Nir Barkat. Der Jerusalemer Ex-Bürgermeister und Hightech-Millionär, der Netanjahus Ansicht teilt, die Justizreform werde der Wirtschaft des Landes guttun, meinte vor einigen Tagen, dass die ihm zugetragenen Informationen lediglich eine Feststellung zulassen: „Die israelische Wirtschaft wird zusammenbrechen.“

Das sind besorgniserregende Vorgänge und schlechte Vorzeichen, die Israel wenige Wochen vor dem 75. Unabhängigkeitstag weiter in Unruhe versetzen. Doch fast täglich stellen sich unerwartete neue Entwicklungen ein, die erahnen lassen, dass Israels bewegte Zeiten gerade erst angefangen haben.

Antje C. Naujoks studierte Politologie an der FU Berlin und an der Hebräischen Universität Jerusalem. Die freischaffende Übersetzerin lebt seit fast 35 Jahren in Israel, davon ein Jahrzehnt in Be‘er Scheva.

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