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Wie sich der Verfassungskonflikt in Israel weiter zuspitzt

In Israel tobt ein Streit um das Verhältnis der Staatsgewalten zueinander. Nun fordert das Oberste Gericht die Entlassung eines Ministers. Der Machtkampf geht damit in die nächste Runde.
Von Sandro Serafin

Israelische Medien sprechen von einem „Paukenschlag“: Das Oberste Gericht in Jerusalem hat am Mittwoch in seiner Funktion als Hohes Gericht die Ernennung des Vorsitzenden der ultra-orthodoxen Shass-Partei, Arje Deri, zum Innen- und Gesundheitsminister für rechtswidrig erklärt. Premierminister Benjamin Netanjahu (Likud) ist nun aufgefordert, einen seiner treuesten Verbündeten zu entlassen, sollte dieser nicht von sich aus den Hut nehmen.

In einer fünfseitigen Mitteilung des Gerichts heißt es, die Ernennung Deris sei „ein Fehler von extremer Unangemessenheit“. Sie stehe „in schwerwiegendem Widerspruch zu den Grundprinzipien von Rechtsstaatlichkeit, Integrität und Sauberkeit, zu denen gewählte Amtsträger verpflichtet sind“. Das Urteil wird von 10 der 11 zuständigen Richter getragen.

Hintergrund sind strafrechtliche Vergehen Deris, der die israelische Politik seit Jahrzehnten an maßgeblichen Stellen prägt. Bereits im Jahr 1999 war der heute 63-Jährige wegen Korruption zu einer Haftstrafe verurteilt worden, die er auch tatsächlich teilweise absitzen musste. 2021 sprach ihn ein Gericht wegen Steuervergehen schuldig. Eine Haftstrafe konnte Deri dieses Mal aber umgehen.

Im Gegenzug hatte er allerdings nach Ansicht des Hohen Gerichts versprochen, sich aus der Politik weitgehend zurückzuziehen. Tatsächlich legte er sein Knesset-Mandat nieder. Allerdings trat er bei den jüngsten Neuwahlen gleich wieder an und wurde so im Dezember erneut Minister. Unter anderem wegen dieses Verhaltens seien „die Grenzen des Zumutbaren eindeutig überschritten“, meint das Gericht.

Die Wurzeln des Konflikts

Das Urteil spitzt den massiven Verfassungskonflikt im Land weiter zu. Die seit Dezember amtierende rechtskonservative und religiös geprägte Regierung hat weitreichende Anpassungen im Rechtssystem angekündigt. Sie will das Verhältnis zwischen den drei Gewalten – Regierung, Parlament und Gerichtsbarkeit – zulasten der Judikative neu justieren. Beispielsweise soll sich die Knesset in vielen Fällen – wenn auch nicht ausnahmslos – darüber hinwegsetzen können, wenn das Hohe Gericht Gesetze für rechtswidrig erklärt hat.

Der mit aufgeheizter Rhetorik ausgetragenen Konflikt hat seine Wurzeln insbesondere in einer starken Kompetenzausweitung des Obersten Gerichts seit den 1980er und 1990er Jahren. Das betrifft vor allem seine Möglichkeiten, Knesset-Gesetze gegebenenfalls für ungültig zu erklären. Diese Verschiebung ist fest mit dem Namen des seinerzeitigen Gerichtspräsidenten Aharon Barak verbunden, der selbst von einer „konstitutionellen Revolution“ sprach. Barak sah sein Vorgehen in neuen sogenannten „Grundgesetzen“ begründet, die die Knesset verabschiedet hatte. Kritiker halten es hingegen für demokratisch nicht legitimiert.

Ein Dorn im Auge ist letzteren auch, dass die Richter Regierungsentscheidungen auf deren sogenannte „Angemessenheit“ prüfen. Die Kritiker erachten dies als ein Einfallstor für persönliche Befindlichkeiten der Urteilenden, die dann über die Geltung von demokratisch getragenen Beschlüssen entscheiden. So werde eine liberale Agenda durch die Hintertür durchgesetzt – gegen die konservativen Mehrheiten im Land.

Auch im Fall Deri stützen sich die Richter nun unter anderem auf Erwägungen zur Angemessenheit. Entsprechend sehen sich die Kritiker einmal mehr in ihrem Vorhaben bestätigt, dem Gericht künftig stärkere Grenzen zu setzen. Das Urteil sei eine „Ungerechtigkeit, die zum Himmel schreit“, erklärte der Justizminister. Die Richter setzten sich über die Entscheidung des Volkes, des Premierministers und der Knesset hinweg, die der Regierung das Vertrauen ausgesprochen hat. Auch Vertreter der anderen Koalitionsparteien kommentierten das Urteil in diese Richtung.

Wie weit darf die Mehrheit gehen – und wie weit ein Gericht?

Tatsächlich weist auch das Gericht selbst auf die Gratwanderung seiner Entscheidung hin: Die Erwägungen des Premierministers bei der Auswahl seiner Minister müssten erhebliches Gewicht haben, dem Regierungschef komme ein weiter Ermessensspielraum zu, heißt es in der Mitteilung. Auch dass Deris Partei das Vertrauen einer nicht unerheblichen Zahl an Wählern bekommen hat, müsse berücksichtigt werden.

Gleichwohl bedeute ein weiter Ermessensspielraum nicht zugleich ein unbegrenztes Ermessen, betonen die Richter. Es entspreche jahrelanger Rechtsprechung, dass die Ministerernennungen wie andere Verwaltungsentscheidungen der richterlichen Kontrolle unterlägen.

Damit stößt das Urteil ins Zentrum des derzeitigen Verfassungskonflikts vor: Wie weit darf eine demokratische Mehrheit im Parlament oder eine von ihr getragene Regierung gehen? Wo kann die Justiz ihr Grenzen setzen? Und wie eng dürfen diese Grenzen gezogen werden, ohne wiederum das demokratische Element zu beschädigen? Es gibt keine gleichsam natürlichen Antworten auf diese Fragen. Am Ende handelt es sich um einen Machtkampf, dessen Diskussion die israelische Politik in den kommenden Monaten weiter prägen wird.

Arje Deri (61), Innenminister, Schass. Deri ist in Marokko geboren. Er diente bereits in der vorhergehenden Regierung als Innenminister, zudem schon einmal unter Jitzchak Schamir in derselben Position. Er ist Mitbegründer der ultra-orthodoxen, sephardischen Schass-Partei. Im Jahr 2000 wurde er zu einer vierjährigen Haftstrafe wegen Korruption verurteilt. Auch in den vergangenen Jahren gab es wieder Betrugsvorwürfe gegen ihn, zu einer Anklage kam es jedoch bislang nicht. Foto: Adi Cohen Zedek (עדי כהן צדק) | CC BY-SA 3.0 Unported
Minister mit rechtlichen Problemen: Arje Deri von der ultra-orthodoxen Schass-Partei

Bevor sich die Regierung aber wieder der großen Justizreform zuwenden kann, muss sie sich darüber klar werden, wie es mit Deri weitergeht. Mit Stand von Donnerstagmittag war der Minister noch im Amt; ob die Regierung sich dem Urteil beugt, ist offen. „Wenn sie die Tür für uns schließen, steigen wir eben durchs Fenster ein und notfalls auch durchs Dach“, erklärte der Betroffene selbst.

Entsprechend spekulieren israelische Medien nun, dass Deri womöglich auf einen anderen Posten verschoben werden könnte, wobei sich wieder eigene Probleme ergeben würden. Am Mittwoch pilgerten zahlreiche Regierungsvertreter als Unterstützer zu dessen Haus in Jerusalem, darunter auch der Premierminister: „Wenn mein Bruder in Not ist, eile ich zu ihm“, erklärte Netanjahu.

Weitere Demonstrationen angekündigt

Wie für die Regierung stellt das Urteil auch für die Opposition einen weiteren Mobilisierungsfaktor dar. Unter den Gegnern der Justizreformen finden sich Bürger mit linken und liberalen Überzeugungen. Dabei sind aber auch rechte Israelis. Diese sehen zwar vielfach ebenfalls einen Reformbedarf im Justizwesen, halten die nun angedachten Änderungen aber für eine zerstörerische Art, mit dem Problem umzugehen.

Für die Gegner steht die Person Deris gleichsam stellvertretend für das, was sie für eine korrupte, egozentrische Clique um „Bibi“ Netanjahu halten, die sich den Staat zur Beute gemacht habe. Oppositionsführer Jair Lapid (Jesch Atid) erklärte am Mittwoch, wenn Deri nun nicht entlassen werde, sei die Regierung nicht mehr legitim. Israel werde dann in eine „beispiellose Verfassungskrise“ geraten und nicht länger Demokratie und Rechtsstaat sein.

Am Samstagabend will Lapid an einer Demonstration gegen die Regierung teilnehmen, nachdem er sich in der vergangenen Woche noch gegen eine Präsenz gesträubt hatte. Bereits da waren in Tel Aviv nach polizeilicher Schätzung rund 80.000 Menschen auf die Straße gegangen – eine erhebliche Zahl. Sie ist allerdings noch weit entfernt von den 300.000 bis 400.000 Menschen, die 1982 bei einer deutlich kleineren Gesamtbevölkerung gegen das Vorgehen der israelischen Armee im Libanon demonstriert haben sollen.

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