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Der Protest und seine Slogans

Auch zwei Monate nach der Ankündigung der brandneuen Regierung, die Justizreform voranbringen zu wollen, gehen allwöchentlich Zehntausende Israelis auf die Straße. Die mitgeführten Schilder geben einen eigenen Einblick in die Forderungen der Demonstranten.
Von Israelnetz

JERUSALEM (inn) – „Israel, wir haben ein Problem“. In großen Buchstaben stehen die Worte auf Englisch auf einem Schild, das eine Frau hochhält. Sie steht an der Absperrung, die die private Wohnung von Premierminister Benjamin Netanjahu (Likud) in der Jerusalemer Gaza-Straße 35 von den Demonstranten abschirmt. Laut ruft sie in ein Megafon: „De-mo-kra-tia!“ Hunderte fallen in den Chor mit ein.

Auffällig viele Demonstranten nehmen mit Israelflaggen an den Protesten teil, die seit der Ankündigung der neuen Regierung Anfang Januar, eine Justizreform zu starten, vor allem am Samstagabend landesweit stattfinden. Die größten Demonstrationen mit mehreren Zehntausend Teilnehmern gibt es in Tel Aviv. Doch auch in Jerusalem, Haifa und anderen Städten gehen Hunderte und Tausende auf die Straße.

Neben dem Aufruf zur Demokratie skandieren die Demonstranten in Sprechchören beispielsweise den Reim, der sich an Justizminister Jariv Levin (Likud) richtet, der die Justizreform vorgeschlagen hat: „Ja-riv Le-vin, wird sind hier nicht Po-len!“. Andere rufen, ebenfalls in Reimform: „Wir haben drei Gewalten, und wollen keine weniger!“

Mahnung an den israelischen Präsidenten

Während in Jerusalem noch vor wenigen Jahren gegen Premierminister Netanjahu vor seiner Residenz in der Balfour-Straße und um den benachbarten Paris-Platz demonstriert wurde, sind die Proteste nun in der Präsidenten-Straße, direkt vor der Residenz des Staatspräsidenten. Es soll eine Mahnung an Präsident Jitzchak Herzog sein, sich einzumischen und der neuen Regierung die vorgeschlagene Reform nicht durchgehen zu lassen. Jeden Samstagabend ist neben oder gegenüber der Präsidentenresidenz eine Bühne aufgebaut, auf der Aktivisten, Journalisten, Politikern oder andere Personen des öffentlichen Lebens Kundgebungen abhalten.

Nach der offiziellen Kundgebung verlagert sich die Demonstration oft in Richtung Balfour-Straße, auch wenn allen bewusst ist, dass der Premierminister dort zur Zeit wegen Umbauarbeiten gar nicht wohnt. Neben den Samstagabends-Demos gibt es auch immer wieder am Donnerstagabend Proteste in der Nähe der privaten Netanjahu-Wohnungen, in der Gaza- oder Portzimstraße. Anlässlich der ersten Lesung über die geplante Justizreform kamen auch Zehntausende Protestler aus dem ganzen Land an zwei aufeinanderfolgenden Montagen, um vor der Knesset zu demonstrieren.

Beliebt ist auch das Lied des bekannten israelischen Sängers Ehud Manor: „Ich habe doch kein anderes Land“, das auf den Demonstrationen immer wieder angestimmt wird. Manor schrieb es 1986 als späte Reaktion auf den Tod seines Bruders, der im Libanonkrieg 1982 gefallen war. Transparente zeigen auch die Liedzeile „Ich werde nicht schweigen, weil mein Land sein Gesicht verändert hat“.

Forderungen auf Transparenten

Zwischen Tausenden geschwenkten Israelflaggen führen viele Demonstranten auch Protestschilder mit sich. Einige zitieren bekannte Aussprüche von Politikern oder Schriftstellern. Allgemeine Forderungen der Schilder lauten etwa: „Demokratie für alle!“, „Wir wollen eine echte Reform!“, „Verfassung jetzt!“ oder „Wir kämpfen für unser Zuhause und um die Demokratie!“ und „Wir wollen eine unabhängige Justiz“.

Auf weiteren Schildern ist zu lesen: „Ein biblisches Desaster“, „Zu Pessach werden wir schon nicht mehr in Freiheit sein“, „Eine Regierung von Bosheit, Lüge und Untergang“ und „Wir kämpfen für die Zukunft unserer Kinder“. Durch die Demonstrationen tragen mehrere Menschen eine Dutzende Meter lange Stoffröhre, die mit Luft aufgeblasen ist und die von vielen Demonstranten erwähnte rote Linie darstellen soll.

Andere Schilder wenden sich direkt und persönlich gegen einzelne Mitglieder der neuen Regierung. Als Befürworter der Justizreform gelten etwa Levin, Netanjahu und der Vorsitzende des Justizausschusses der Knesset, Simcha Rothman (Religiöser Zionismus). Dementsprechend sehen die Schilder aus: „Rothman, du Betrüger! Eine Polizeirevolution mit 7 Mandaten!“ Und „Jariv Levin hat den Unterricht für politische Bildung geschwänzt“.

Manche Schilder spielen auf die Korruptionsvorwürfe gegen aktuellen Premier an, der im Volksmund oft Bibi genannt wird: „HaBIBI, Der Angeklagte setzt das Haus in Brand. Wir sind frei und werden unser Land mit unserem Leben schützen“ und „Bibis Erbe: Angst, Hetze und Demokratiezerstörung“. Auch „Niemand steht über dem Gesetz“ und „Crime-Minister“ (Minister der Verbrechen) in Anlehnung an die englische Bezeichnung „Prime-Minister“ ist auf Schildern zu lesen.

Auf einem anderen Transparent stehen die israelische und die türkische Flagge nebeneinander. Unter ersterer ist zu lesen: „Wisse, woher du kamst.“ Unter der zweiten heißt es: „Wisse, wohin du gehst.“ Diese Sätze sind dem Traktat „Sprüche der Väter“ aus der Mischna entnommen, die dem Talmud zugrundeliegt.

Bibelverse über Recht und Richter

Auf den Schildern werden auch zahlreiche Bibelverse zitiert, oder es gibt Anspielungen darauf. Zu lesen ist etwa Jesaja 1,26: „Zion wird durch Recht erlöst werden.“ Eine andere Aufschrift zitiert Micha 6,8: „Gottes Wort halten und Liebe üben“.

Auf einem Plakat mit den Bildern von Netanjahu, Levin und Rothman ist Jesaja 49,17 geschrieben: „Deine Erbauer eilen herbei, aber die dich zerbrochen und zerstört haben, werden sich davonmachen.“

Die Aufschrift „dema-GOG und MAGOG“ spielt auf den im Buch Hesekiel und der Offenbarung des Johannes beschriebenen Endzeitkampf an und zeigt ein Foto von Netanjahu.

Anspielung auf die Plagen in Ägypten

Eine Frau hält das Schild hoch: „Und das Land stank“. Der Satz ist ein Zitat aus 2. Mose 8,11 und beschreibt die Konsequenz des Fröschesterbens als eine der zehn Plagen, die Gott als Strafe über die Ägypter kommen ließ.

„Ein und dasselbe Recht“ steht auf einem anderen Schild, verbunden mit 3. Mose 24,22: „Es soll ein und dasselbe Recht unter euch sein für den Fremdling wie für den Einheimischen; ich bin der Herr, euer Gott.“

Auch ein Vergleich mit dem Turmbau zu Babel aus 1. Mose 11,6 wird bemüht: „dies ist der Anfang ihres Tuns; nun wird ihnen nichts mehr verwehrt werden können von allem, was sie sich vorgenommen haben zu tun“. Ein weiteres Bild nennt die Jotam-Fabel, in der verschiedene Bäume vorkommen. Aus Richter 9,15 stammt der Satz auf dem Schild, das ein religiöser Mann hochhält: „Vom Dornbusch gehe ein Feuer aus“.

In Anspielung auf den Feiertag Purim hält ein Demonstrant das Schild hoch: „Und die Stadt Susa schämte sich“. Das Original findet sich im Buch Ester 8,15: „Und die Stadt Susa jauchzte und war fröhlich.“

Demonstranten setzen auf zwei Frauen

Die Demonstranten identifizieren sich stark mit dem Obersten Gerichtshof. Die aktuelle Vorsitzende ist Esther Chajut und so ist vor allem auch sie immer wieder auf den Schildern zu sehen. Ein Schild spielt mit ihrem Namen: „Lasst Chajut leben – tnu leChajut li-chjot“.

Die erste weibliche Generalstaatsanwältin ist Gali Baharav-Miara. Sie und Chajut stehen wie niemand anderes als Gegenpol der geplanten Justizreform. Auf manchen Schildern sind ihre Gesichter auf einer Fotomontage mit Superhelden verschmolzen. Darunter steht: „Gali, rette uns! Esther, du hast die Macht, rette die Demokratie!“ Auf anderen Schildern sind die beiden Frauen mit der Aufschrift aus Sprüche 31 mit dem „Lob der tüchtigen Frau“ zu sehen.

Ein weiteres Bild zeigt die beiden Frauen mit der Aufschrift „Wächterinnen über deinen Mauern!“. In Jesaja 62,6 steht: „O Jerusalem, ich habe Wächter über deine Mauern bestellt, die den ganzen Tag und die ganze Nacht nicht mehr schweigen sollen. Die ihr den Herrn erinnern sollt, ohne euch Ruhe zu gönnen.“

Schilder ohne Konsens

Einzelne Schilder haben Aufschriften, mit denen sich die meisten Mitdemonstranten nicht identifizieren: In Anlehnung an den Roman über den totalitären Überwachungsstaat von George Orwell heißt es auf einem: „1984“. Auf einem anderen steht: „Es geschah im Land von Mozart und Beethoven. Es kann auch im Land von Bialik und Alterman geschehen“. Ein weiteres Schild trägt die Aufschrift „Kischinev-Pogrom 1903, Bagdad-Farhud 1941, Huwara-Pogrom 2023“.

Ein Schild sorgt für besonders viel Aufmerksamkeit: „Leil HaBdolach 2023“, „Reichskristallnacht 2023“. „Was ist hier die Aussage?“, fragen umstehende Demonstranten. „Unsere Lage ist ernst, aber solche Vergleiche, die die Geschichte relativieren, zu ziehen, ist gefährlich.“

Ein Demonstrant hält ein Transparent, das ein Foto von Theodor Herzl, von David Ben-Gurion und von Netanjahu zeigt. Darunter steht: „Der Visionär, der Gründer, der Zerstörer“. Ein anderes Schild spricht die Politiker der Regierung an, die als gemäßigt gelten: „Avi Dichter, Joav Galant, Juli Edelstein, Israel Katz und Nir Barkat: An euer Schweigen zum jetzigen Zeitpunkt werdet ihr euch für immer mit Schande erinnern!“ (mh)

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14 Antworten

  1. Keiner der Demonstranten regt sich über die Diskriminierung der arabischen
    Mitbürger auf, das scheint ja für sie ganz normal und in Ordnung zu sein.
    Für mich ist das kein „zivilrechtlicher“ Protest von Demokraten, sondern nur
    von Leuten, die Angst haben, das sie nun ebenfalls in den Genuß derselben
    Unfreiheit kommen könnte, unter denen die Araber seit jeher leiden.

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  2. @ Redaktion.: Herzlichen Dank für diesen emotionalen Artikel.
    Als wir neulich in IL waren, nahmen wir auch an einer Demo teil.
    Eine Frau sagte neben mir, wir verlieren wegen Netanjahus Justizreform und Todesstrafe unser Land. Ich sehe das auch alles in Besorgnis.
    Der Präsident müsste sich zu den Demonstranten stellen.
    HaShem, halte Dein Volk.
    OT:
    Heute beten wir auch für Diskriminierung von Frauen weltweit. Gegen Zwangsverheiratungen in arab. Ländern, gegen das Morden im Iran.
    Kein Mann hat das Recht über eine Frau zu bestimmen! Und Regierungen schon garnicht.
    Veraltete mittelalterliche Gesetze und Strukturen.
    Ich wünsche allen Mädchen und Frauen G‘ ttes
    Segen und liebenswerten Männern natürlich auch.

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  3. „Heute beten wir auch für Diskriminierung von Frauen weltweit.“

    Sie beten für Diskriminierung?

    „Gegen Zwangsverheiratungen in arab. Ländern, gegen das Morden im Iran.“

    Warum nicht auch die ultraorthodoxen Jüdinnen mit einbeziehen? Die Geschlechtertrennung verträgt sich mit einer modernen Demokratie auch nicht so wirklich. Und vielleicht würden auch sie gerne mal ihr Haar offen tragen.

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    1. – Lach-😃🤣 Ich bete für alle Frauen.
      Mein Haar weht heute im winterlichen Wind, wobei ich gleich eine chice Mütze anziehe.
      An unserer Kotel und in Synagogen bedecke ich
      freiwillig mein Haupt, wie zu Zeiten des Jüdischen Jeshuas.
      Ein Shalom zu Ihnen.🇮🇱✡

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      1. Seien Sie froh das Sie in Deutschland leben, wo Gleichberechtigung herrscht, Sie im Bus vorne sitzen können und sich niemand über Ihre im Wind wehenden Haare aufregt.

        19
        1. Sven, werfen Sie bitte einen Blick auf Ihren Text. Zum fremd schämen.
          Wobei – in der BRD darf man Kopfbedeckung tragen oder besser gesagt, eine Kippa nicht. Ungesund in unserer Demokratie und Religionsfreiheit.
          Shalom

          13
        2. In Israel kann man als Frau im Bus vorne sitzen. Habe ich hundertmal selbst getestet.

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    2. Diese Ultraorthodoxen sind genauso militant und brandgefährlich wie islamische
      Fundamentalisten. Nur merken das in der Welt wenige. Ich fand den Vorgang in
      Huwara erschreckend. Vor allem auch, das die“ Sicherheitskräfte“ nicht eingriffen.
      Das erinnert mich an etwas, was früher mal war. Wie sich doch alles wiederholt.

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      1. Waren Sie früher dabei? Wurden Ihre Verwandten ermordet?
        Sie kommen mir vor und das ist nicht beleidigend gegen Sie, wie viele die sich im Internet einseitig mitteilen wollen/ müssen.
        Von wahren Hintergründen keine Ahnung.
        Mitläufer.
        Wie oft sind Sie in Israel? In PA- Gebieten?

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        1. @Am Israel chai
          Waren Sie damals dabei?Wohl auch nicht.Sie denken durch die Ermordung ihrer Verwandten hätten Sie das Recht anderen Einseitigkeit vorzuwerfen? Anderen zu Unterstellen sie hätten keine Ahnung, nur weil deren Sichtweise differenzierter ist als die Ihrige?. Ich war oft in Israel und Pa Gebieten und teile gerade desswegen Ihre Meinung ganz sicher nicht.Warum?Weil sie mir zu einseitig ist. Mich interessieren BEIDE Seiten, ich versuche BEIDE Seiten zu verstehen,und ich verurteile BEIDE Seiten für ihre Taten.

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        2. Huwara hat in Israel niemand verteidigt und auch hier im Forum nicht. Allerdings werden hier im Forum die pal. Terroristen immer bejubelt und für rechtschaffene Menschen erklärt. Ist schon toll, wie man so verlogen sein kann.

          1
  4. Sven, ein kleines Missgeschick in der Wortwahl von „Am Israel chai“, und schon konstruieren Sie ein Gedankenmuster, das gar nicht zu ihm passt – und merken es nicht einmal …

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  5. Liebe Leute,
    merkt ihr wirklich so wenig, worauf es wirklich ankommt in dieser dramatischen Zerrissenheit des Volkes Israel?
    Gefragt ist ernsthaftes Ringen um inneren Frieden und möglichst große Ruhe vor den äußeren Feinden.
    Was wir aber über die Demonstration erfahren und in den Kommentaren lesen, deutet in die entgegengesetzte Richtung.
    Wenn wir segnen und nicht fluchen wollen, dann gilt es für Israel, für eine gute Regierung, für gute Kompromisse, für die bitter enttäuschten Massen auf der Straße zu beten, dass der Ewige Israels ihnen allen einen Weg des Friedens zeigt und sie darauf führt. Ich wünsche allen Menschen im Land Israel von ganzem Herzen Schalom und bete dafür.

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