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Mit Bibelversen zum Protest

Demonstranten verleihen ihrem Protest häufig durch Texte Ausdruck. Die selbstgebastelten Schilder der vergangenen Wochen in Jerusalem enthalten auch Bibelverse und Redewendungen aus der jüdischen Geschichte.
Die Kritik an der Regierung wird unter anderem durch Bibelverse zum Ausdruck gebracht

JERUSALEM (inn) – In israelischen Medien wird immer wieder betont, dass die Demonstrationen der vergangenen Wochen eine Bewegung aus dem Volk seien – und nicht von einer Organisation angeführt. Einer Umfrage des Israelischen Demokratie-Institutes (IDI) zufolge identifizieren sich 45 Prozent der jüdischen Israelis mit der persönlichen Kritik an Benjamin Netanjahu. Dementsprechend thematisieren viele Schilder und Pappskulpturen die Korruptionsvorwürfe gegen den Regierungschef.

Inmitten des Schilderwaldes tauchen zudem Worte und Sätze auf, die aus der Hebräischen Bibel und der jüdischen Tradition stammen. Meist sind sie verkürzt und aus dem Kontext gerissen. Auch ist vielen von ihnen gemeinsam, dass sie sich mit ihrer Kritik direkt an Netanjahu wenden.

Sowohl auf Englisch als auch auf Hebräisch sind immer wieder Schilder zu sehen, auf denen der Appell des jüdischen Propheten Mose steht. Mit diesem wendete er sich an den Pharao, der das Volk Israel in Ägypten versklavte: „Lass mein Volk ziehen!“ (2. Mose 5,1–2).

Ein T-Shirt ist offenbar dutzendfach angefertigt worden: Mit weißen Buchstaben auf schwarzem Untergrund tragen die Protestler die Worte des Propheten Jesaja (1,21–23) auf der Brust: „Wie geht das zu, dass die treue Stadt zur Hure geworden ist? … Deine Fürsten sind Abtrünnige und Diebsgesellen, sie nehmen alle gern Geschenke an und trachten nach Gaben.“ Die „treue Stadt“ steht auch im Fokus eines anderen öfter zitierten Verses – Jesaja 1,27: „Zion muss durch Gericht erlöst werden“. Manche haben in Anlehnung an die israelische Nationalhymne den Liedvers „Noch ist unsere Hoffnung nicht verloren“ angefügt.

Aufruf zur Nächstenliebe

Der erste Teil des Kernsatzes des jüdischen Glaubensbekenntnisses aus 5. Mose 6,4–9 ist auf einzelnen Schildern aufgemalt: „Schma Israel, höre Israel!“. Dazu kommt oft der Satz „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“. Er ist zum ersten Mal in 3. Mose 19,18 erwähnt und wird später in der jüdischen Tradition zum festen Prinzip.

Oren, ein Protestler aus Ramat Gan, hat Psalm 34,14 auf ein Schild gemalt: „Behüte deine Zunge vor Bösem und deine Lippen, dass sie nicht Trug reden“. Er sagt: „Ich bin es leid, belogen zu werden. Ich möchte, dass mich meine Regierung endlich ernstnimmt.“ Eine ähnliche Botschaft ist auf einem großen Transparent aufgemalt: „Der Räuber raubt“ (Jesaja 21,2).

Auch der Prophet Jeremia wird bemüht (Jeremia 8,15): „Wir hofften, es sollte Friede werden, aber es kommt nichts Gutes, wir hofften, wir sollten heil werden, aber siehe, es ist Schrecken da.“ Von einem, der an den Pariser Platz grenzenden Balkone weht ein Bettlaken mit der Aufschrift: „Tröstet, tröstet mein Volk!“ (Jesaja 40,1). Ein Vers, der an mehreren Stellen auftaucht, ist 5. Mose 16,20. Wofür die Hebräische Sprache drei Worte verwendet, übersetzt Luther: „Was recht ist, dem sollst du nachjagen“.

Inspiration durch Zehn Gebote

Ein Mittzwanziger hat zwei Pappschilder aufgestellt, die den Tafeln der Zehn Gebote nachempfunden sind. Darauf hat er zehn Aufforderungen an die Regierung geschrieben: „Du sollst dich nicht am Eigentum anderer bereichern. Du sollst ehrlich sein. Du sollst nicht …“.

Die Bibelverse sind der kleinere Teil, der unter den Schildern zu finden ist – doch allein die Tatsache, dass Verse, die mehrere Tausend Jahre alt sind, prominent durch die Massen der Protestler getragen werden, ist bemerkenswert.

Der Großteil der Schilder wendet sich ohne Umschweife an Israels Premierminister Benjamin Netanjahu: „Genug“, „Tritt endlich zurück“, „Du hast versagt“, „Geh endlich in Kurzarbeit“ – diese Schilder gehören zu den netteren Forderungen. Neben Beleidigungen Netanjahus und Sprüchen unter der Gürtellinie gibt es zahlreiche Wortspiele mit dem Spitznamen Bibi.

Angelehnt an bekannte jüdische Traditionstexte steht auf einem Schild: „Höre unsere Schreie und vergrößere unsere Liebe, dass Gerechtigkeit und Wohlstand in unserem Lande wohnen. Amen.“ Viele Transparente enthalten einen Text, der vor allem zum Lichterfest Chanukka gesungen wird: „Wir sind gekommen, um die Dunkelheit zu vertreiben.“ Manchmal flammt diese Zeile auch als Lied unter den Demonstranten auf, andere schreiben: „Wir sind gekommen, um die Korruption zu vertreiben“. Mit der Zerstörung des Ersten Salomonischen Tempels um 586 vor der gängigen Zeitrechnung ist der Ausdruck „grundloser Hass“ verbunden. In Anlehnung daran findet sich auf den Schildern häufig die „grundlose Liebe“ wieder. Frauen gehen umher und verteilen lächelnd Rosen unter den Demonstranten und an die Polizisten.

Typische Einteilung von links und rechts greift nicht

„Die meisten Demonstranten dürften die Anspielungen der biblischen Texte allerdings gar nicht verstehen“, ist Idan überzeugt. Der politische Berater arbeitet in der kanadischen Botschaft in Tel Aviv. „Eigentlich bin ich nur gekommen, um mir selbst ein Bild zu machen, von dem, was wir in den vergangenen Wochen aus Jerusalem in den Nachrichten hören. Es ist interessant, die Leute hier zu sehen: Es sind viele gut situierte Menschen, viele junge Leute, die Tendenz ist leicht linkspolitisch, im Grunde mischt sich hier aber alles durch, die typische Einteilung links versus rechts greift hier nicht“, analysiert der Mittdreißiger die Protestler, zwischen denen er umhergeht.

Der IDI-Umfrage zufolge identifizieren sich 58 Prozent der Israelis mit den Protesten gegen die Wirtschaftsmaßnahmen der Regierung während der Corona-Pandemie.

Der Demonstrationsbesuch hält für Idan eine weitere Überraschung bereit. Um 23.30 Uhr sagt er: „Interessant, wie friedlich es hier zugeht. Die Polizei steht neben den Demonstranten und schreitet nicht ein. Nach den Medienberichten der vergangenen Wochen hatte ich mir das hier alles gewalttätiger vorgestellt.“ Ab 23 Uhr sind die Proteste illegal. Die Polizei gibt über Lautsprecher zu verstehen, dass die Protestler nach Hause gehen sollen. Und greift meist erst weit nach Mitternacht durch, sodass es zu Auseinandersetzungen zwischen ihnen und einzelnen Demonstranten kommt.

Neue Form des Nachtlebens

Für manche Jerusalemer Bewohner scheint es inzwischen zur Wochenroutine zu gehören: Dienstag-, Donnerstag- und Samstagabend in die Stadt zum Pariser Platz vor der Balfourstraße zu gehen, wo die Residenz des Premierministers ist. Der, so erzählen sich die Bewohner, hört den lauten Lärmpegel nicht mehr: „Wenn die Demonstrationen anstehen, lassen er und seine Familie sich an einen ruhigen Ort fahren.“ Im Gegensatz zu Netanjahus Nachbarn. Die sehen sich dem permanenten Lärm der vergangenen Wochen hilflos ausgeliefert.

„Die Proteste sind inzwischen eine Form des Nachtlebens, ganz anders, als wir es bisher gewohnt waren“, kommentiert ein Soziologe in den sozialen Medien. „Inzwischen geht es doch gar nicht mehr um echten Protest! Wenn wir ehrlich sind, nutzen wir die Demonstrationen, um uns mit unseren Freunden zu treffen.“ Welche Worte wohl Jesaja für dieses Verhalten gewählt hätte?

Von: mh

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