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Solange die Grenzen noch offen sind …

Israel plagt seit Monaten die Sorge, dass für Juden in Russland wieder der Eiserne Vorhang fallen könnte. Dieses Szenario nimmt immer mehr Gestalt an. Gegenwärtig führt die sich zuspitzende Lage dazu, dass so viele Russen wie noch nie nach Dokumenten suchen, die ihre jüdische Herkunft belegen.
Von Antje C. Naujoks

Seit Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine wickelte die für die Umsetzung der Alija nach Israel zuständige „Jewish Agency for Israel“ die Einwanderung von mehr als 13.000 ukrainischen und annähernd 25.000 russischen Juden ab. Hinzu kommen 27.000 Ukrainer sowie mehr als 35.000 Russen, die als Touristen nach Israel einreisten und zunächst abwarten, wie sich die Lage in ihren Herkunftsländern entwickelt.

Doch längst haben viele dieser Geflohenen, die ihre jüdische Herkunft mit Dokumenten belegen können, den Alija-Prozess eingeleitet. 2021 machten rund 28.000 Juden aus aller Welt Israel zu ihrem neuen Zuhause. Allein während der ersten drei Quartale 2022 wurden mit über 60.000 Neueinwanderern mehr als doppelt so viele registriert.

Der erst kürzlich gewählte Vorsitzende der Jewish Agency Doron Almog ist der Ansicht, dass in nächster Zeit noch sehr viel mehr Neueinwanderer aus Russland in Israel eintreffen werden. Er geht von monatlich rund 6.000 Personen aus. Doch die neuesten von Moskau in Bewegung gesetzten Entwicklungen beschleunigten ein Phänomen, das dieses bereits angeschwollene Kontingent massiv weiter in die Höhe treiben könnte.

Hektische Suche nach jüdischen Vorfahren

Wer trotz Jahrzehnten des kommunistischen Regimes in Russland seine jüdische Identität gewahrt hat, besitzt entsprechende Dokumente und kann bei der Jewish Agency einen Einwanderungsantrag nach Israel stellen. Zu den rund 160.000 Angehörigen der jüdischen Gemeinschaft Russlands sind nicht nur etwa 40.000 Personen hinzuzurechnen, die ihre jüdische Identität gegenüber den Behörden lieber verschleiern. Darüber hinaus steht weiteren 400.000 Personen das Recht auf Einwanderung nach Israel zu, das der jüdische Staat aufgrund eines jüdischen Großelternteils zuspricht.

Gerade Familien, die bislang oftmals wenig Interesse an ihren jüdischen Vorfahren hatten, begeben sich seit einigen Wochen in immer größeren Zahlen und zumeist unter Hochdruck auf eine verzweifelte Suche. Sie wollen Dokumente zu ihren jüdischen Ahnen aufspüren, um den jungen Männern der Familie zu ermöglichen, der Ende September angeordneten Zwangsmobilisierung zum Frontdienst durch Einwanderung nach Israel zu entgehen.

Vladimir Paley ist auf jüdische Genealogie spezialisiert. Gegenüber israelischen Medienvertretern gab er an, zehn Mal mehr Nachforschungsanfragen als noch bis vor wenigen Wochen zu erhalten. „Seit Putins Mobilisierungsbefehl rufen mich immer mehr Mütter an, die ihre Söhne im Ausland in Sicherheit bringen wollen“, erläutert er. Händeringend flehen sie um Hilfe bei dem Nachweis, dass Juden unter ihren Vorfahren waren.

Ähnlich wie Paley geht es gegenwärtig auch unzähligen Archivaren in allen Teilen Russlands. Über einen ähnlichen Ansturm berichten ebenfalls Beamte der Einwohnermeldeämter. Eine Moskauer Beamtin meinte gegenüber interessierten Journalisten: „Es gehen immer mehr Anfragen ein. Mehr als 90 Prozent der Menschen, die bei uns vorstellig werden, sind auf der Suche nach jüdischen Verwandten.“ Die massiv angeschwollene Suche nach Juden unter der Generation der Großeltern oder sogar unter den Urgroßeltern führte darüber hinaus bereits zur Gründung von Privatfirmen, die sich auf das Auffinden der gewünschten Dokumente spezialisiert haben. Alle geben einhellig an: Es ist ein Wettrennen gegen die Zeit.

Dieser Ansicht ist auch der 32-jährige IT-Spezialist Ivan Mitrofanov, der wegen seines Berufes von der ersten Mobilisierungswelle verschont blieb. Er weiß, dass unter seinen Großeltern Juden waren, besitzt aber keinerlei Dokumente, die das belegen: „Ich muss mich beeilen, um wegzukommen, solange die Grenzen noch offen sind.“ In dem Interview für die „Times of Israel“ meinte er außerdem, ihn interessiere nicht, dass das offizielle Russland ihn als unpatriotisch hinstellt. „In Europa bin ich mit meinem russischen Pass nicht wirklich gut dran“, sagte er. „Also will ich nach Israel gehen, wo ich willkommen bin.“

Sind Israel bald die Hände gebunden?

In den ersten Wochen nach Russlands Überfall auf die Ukraine vom 24. Februar lavierte Israel vorsichtig zwischen den Fronten. Beim Blick Richtung Moskau spielt für Israel eine Rolle, dass es auf das Wohlwollen des Kremls angewiesen ist, um im bürgerkriegsgeschüttelten Syrien gegen militärische Einrichtungen des iranischen Ajatollah-Regimes vorgehen zu können.

Doch der jüdische Staat hatte noch einen weiteren Grund, Moskau gegenüber verhaltene Töne anzuschlagen und auch nach wie vor möglichst leise zu treten: Israel weiß, dass Juden schon seit Monaten immer mehr Repressalien der russischen Behörden ausgesetzt sind, die zweifelsfrei mit ihrer jüdischen Herkunft in Zusammenhang stehen. Russische Staatsbürger jüdischen Glaubens erhielten beispielsweise Anrufe ihrer Banken, die androhten, ihre Konten einzufrieren, sollten sie auch nur versuchen, nach Israel abzuwandern. Israel ist darauf bedacht, solche Tendenzen nicht auch noch anzustacheln, vor allem aber Russland nicht so sehr zu reizen, dass sich für Juden die Grenzen schließen könnten.

Dass in Russland jedoch längst Entwicklungen eingesetzt haben, die Israel die Arbeit zugunsten der jüdischen Gemeinschaft erschweren, zeigte das im Sommer von Russlands Behörden gegen die Jewish Agency eingeleitete Gerichtsverfahren. Nach über drei Jahrzehnten aktiver Präsenz in Russland wurde dieser staatlichen Institution Israels plötzlich vorgeworfen, gegen geltendes russisches Recht zu verstoßen, da Daten über russische Staatsbürger gesammelt und nach Israel weitergeleitet werden.

Zudem prangert Russland an, dass Israel zum „Brain-Drain-Phänomen“ beiträgt, mit dem die Fachwelt die Abwanderung von Akademikern umschreibt. Noch befindet sich der Prozess in der Schwebe, doch Putins Mobilisierungsbefehl brachte auch für Juden bereits eine dramatische Wende.

Flüge ausgebucht

EL-AL-Flüge von Russland nach Israel, die weiterhin verkehren, weil Israel keine Sanktionen gegen Russland verhängt hat, waren nach dem Mobilisierungsbefehl im Handumdrehen ausgebucht. Inzwischen kann ein Flug Moskau-Tel Aviv mit Leichtigkeit 5.000 Euro kosten. Israels Bitte, zusätzliche Flüge einzurichten, schlug Russland aus. Einstweilen kann die Jewish Agency weiter in Russland agieren und tut alles, um möglichst viele auswanderungswillige Juden in Israel in Sicherheit zu bringen, indem der Vorsitzende Almog sogar die „Express-Alija“ noch weiter beschleunigen will.

Doch die Bearbeitung der so sehr zugenommenen Anträge hat dennoch Wartezeiten zur Folge. Israels Ministerin für Einwanderung und Absorption Pnina Tamano-Schata (Blau-Weiß) sagte im Rahmen von eilig einberufenen interministerialen Notfallsitzungen kurz nach Zustellung der ersten Zwangsmobilisierungsbescheide: „Wir tun alles in unserer Macht Stehende, um diesen Menschen trotz der Herausforderungen, mit denen sie konfrontiert sind, dabei zu helfen, nach Israel in Sicherheit zu gelangen.“

Die Jewish Agency hat wahrlich viel Erfahrung im Hinblick auf die Rettung notleidender Juden auch aus aussichtslosen und brenzligen Lagen gesammelt – sogar vor Gründung des Staates Israel. Sie stellte in der Vergangenheit immer wieder unter Beweis, wie erfinderisch sie werden kann, wenn Nöte in Katastrophen umzuschlagen drohen.

Das israelische Finanzministerium hat ein zusätzliches Budget von fast 25 Millionen Euro bereitgestellt, um für Unterbringung, Gesundheitsversorgung, Bildung und Berufseingliederung nicht nur der männlichen Neuankömmlinge, sondern der ihnen nachfolgenden Familien zu sorgen. Derweil nutzt die Jewish Agency unter anderem recht verschlungene Kanäle zum Herausschleusen, über die man – wie üblich bei solchen israelischen Rettungsaktionen – aus verständlichen Gründen erst in Zukunft Näheres erfahren wird.

Antje C. Naujoks studierte Politologie an der FU Berlin und an der Hebräischen Universität Jerusalem. Die freischaffende Übersetzerin lebt seit fast 35 Jahren in Israel, davon ein Jahrzehnt in Be‘er Scheva.

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2 Antworten

  1. Nicht nur im kleinen Israel diesbezüglich Sorge.
    Alles sehr schwierig, zumal sicher welche irgendeinen Ururopa/oma ausgraben in Papieren.
    OT
    In der BRD stöhnen Kommunen, wohin mit all den Flüchtlingen? Drei Städte Aufnahmestopp.
    Und über Serbien kommen gerade Inder und Tunesier. Wären es Fachkräfte, kämen sie legal.
    Asyl ist ein Menschenrecht!
    Tja, alles nicht einfacher geworden seit Assads Krieg in Syrien, Taliban in Afghanistan bzw.
    Russia morden in der Ukraine.

    3
  2. Tatsächlich sind meiner Kenntnis nach von der russischen Teilmobilisierung bislang kaum junge Männer jüdischer Herkunft betroffen-im übrigen im Unterschied zur Ukraine. Dort gibt es eine Zwangsmobilmachung aller Männer bis zu Alter von 65 Jahren. Wer sich dem entzieht hat nichts zu lachen. Dennoch, Russland versucht die Arbeit der Jewish Agency einzuschränken etc. . Die Alija aus Russland muss ungehindert möglich sein. Sicher gibt es dabei auch ‚Trittbrettfahrer‘: wer will es ihnen verdenken ! Meiner Meinung nach sollte die israelische Regierung ihren vorsichtigen Kurs weiterfahren + sich von keiner Partei (Selenski versucht ja derzeit Druck auf Israel auzuüben!) in den Konflikt verwickeln zu lassen.

    5

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