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Jung und jüdisch mit Handicap

Ein Jahr hat der deutsche Abiturient Micha Powilleit in Jerusalem mit Behinderten gearbeitet. Gelernt hat er nicht nur den Umgang mit pflegebedürftigen Menschen, sondern auch etwas über ihren religiösen Hintergrund.
Von Israelnetz
Micha Powilleit

Besucher von Jerusalem kennen das Tor zur Neustadt: Die große Brücke, deren Träger wie die „Harfe Davids“ in den Himmel ragen. Die grünen Busse der Firma Egged, die unter lautem Hupen den Busbahnhof verlassen. Dahinter mehrstöckige Häuser, getäfelt mit dem hellen Jerusalem-Stein. Es ist ein lauter Ort. Wer sich einige Minuten Zeit nimmt, um innezuhalten, dem werden verschiedenste Menschen auffallen.

Doch selbst den aufmerksamsten Beobachtern bleibt eine Gruppe verborgen. Sie lebt nicht weit von der großen Brücke, direkt hinter dem Busbahnhof – in einem Haus, getäfelt mit Jerusalem-Stein. Sie kennenzulernen ist unglaublich bereichernd. Trotzdem bleibt sie draußen meist unsichtbar.

Für ein Jahr habe ich als Freiwillliger in Israel gearbeitet. Und genau dort, hinter dem Busbahnhof war meine Einsatzstelle – im ADI, einer Einrichtung für Menschen mit schweren und mehrfachen Behinderungen. 

Wer das Rehabilitationszentrum betritt, bekommt eine weniger bekannte, spannende Perspektive auf Israel und seine Bewohner. Hier treffen tragische Schicksale auf Freudenmomente. Aber auch Chancen und Therapien auf medizinische Grenzen.

Pflege im religiösen Kontext

Der Kontakt mit Schwerbehinderten war für mich nicht vollkommen fremd. Denn auch in meiner Heimatgemeinde in Stuttgart gab es zwei junge Männer, die schwerbehindert waren. Ich habe sie gesehen, vereinzelt begrüßt, insgesamt aber Abstand gehalten. Zu anders schienen sie mir damals, vermutlich einschüchternd. Inzwischen sind sie beide verstorben, eine Begegnung auf dieser Erde ist nicht mehr möglich.

In Jerusalem war ich nun ganz nah dran. Als hätte mir das ADI eine zweite Chance ermöglicht. Die Einrichtung ist religiös. Viele Mitarbeiterinnen sind durch ihre Kleider und Kopftuch als gläubige Juden zu erkennen.

Die jüdischen Feste wurden begeistert gefeiert: An Pessach blieb das Haus nach biblischem Gebot frei von Sauerteig. Zu Purim, dem jüdischen Freudenfest, stapfte ich als großer Hund verkleidet durch die Einrichtung. Und in der täglichen Morgenrunde gab es die Möglichkeit zum Gebet. Das wird, wie im Judentum üblich, mit Schaufäden zur Erinnerung an Gottes Tora und einer rituellen Waschung der Hände als Symbol für Reinheit durchgeführt. Manche der männlichen Bewohner tragen sogar Kippa und Schläfenlocken.

Doch der jüdische Glaube zeigt sich tiefer als in diesen offensichtlichen Merkmalen. Ist es nicht sein Ethos, der diesen Dienst überhaupt begründet? Ohne den Glauben an die grundsätzliche Würde des geschaffenen Menschen wäre eine solche Arbeit kaum denkbar. Das zumindest glaubte ich, wenn ich sah, wie die Sonderpädagogin begeistert durch den Raum lief, um den Bewohnern zu Purim die Geschichte aus dem biblischen Buch Esther zu erzählen.

Bewegungen, die prägen

Pflege ist Dienst am Menschen, für die Menschen. Hier geht es um Simcha (Namen geändert), dessen breites Lächeln die Pfleger immer neu begeistert. Erst schaut er mir in die Augen, dann öffnet sich langsam sein Mund und schließlich lacht das ganze Gesicht mit einer herrlichen Aufgeregtheit, die alle Anwesenden ansteckt. Und es geht um David, der über seinen per Kopfbewegung gesteuerten Computer Mails an seine Freunde schreibt und mit Nicken und Kopfschütteln klar kommuniziert. Und es geht um Chaim, der in wenigen Sekunden fünf Datteln verschlingen kann und seine Freude darüber durch leidenschaftliches Blinzeln äußert.

Wer diese Menschen kennenlernen möchte, muss Zeit mitbringen. Denn die braucht es, bis man an Speichelfluss und unbekannten Geräuschen vorbei zur eigentlichen Persönlichkeit findet.

Wo das gelingt, ist es umso bereichernder. Meine Beziehung zu David wird mich sicher noch lange begleiten: Sein Temperament, sein klarer Wille und sein herzliches Lachen sind fester Teil meiner Erinnerung an das vergangene Jahr. Sie haben mir gezeigt, wie tief jene Menschen mit komplexen Behinderungen denken und fühlen.

Natürlich ist der Pflegealltag nicht einfach. Die Bewohner können nicht reden und zum Teil reagieren sie nicht einmal. Das macht es schwer, ihr Denken nachzuvollziehen. Man steht direkt vor ihnen und scheint dennoch weit entfernt.

Vor einigen Wochen zum Beispiel stand ich vor Jair. Er ist 19 Jahre – genauso alt wie ich. Vor seinem Unfall vor einigen Monaten war er gesunder Schüler einer Jeschiva, einer Tora-Schule. Vielleicht hätten wir uns getroffen und „ganz normal“ miteinander gesprochen. Doch nun lag er vor mir, angeschlossen an ein Beatmungsgerät, und reagierte nicht. 

Widrigkeiten und Sternstunden

Zumindest einige seiner Fähigkeiten zu reaktivieren, wird ein langer und harter Weg werden. Das ist im Zentrum von Jerusalem nicht anders als an anderen Orten. Jeder Tag ist ein Kampf gegen die Widrigkeiten der Behinderung. Oft wird das Essen püriert oder per Sonde in den Magen geleitet, um Verschlucken zu vermeiden. Nicht wenige erhalten regelmäßige oder ununterbrochene Sauerstoffversorgung.

Therapeuten und Ärzte entspannen per Massage oder Medikation die Verkrampfungen der Bewohner. Und immer wieder werden diese jungen Menschen bei aufwendigen und akuten Krankenhausbesuchen begleitet.

Doch es gab auch jene besonderen Momente, in denen ich hautnah spürte, dass unser Dienst einen Unterschied macht. Zum Beispiel, wenn Simcha mit seinem Laufgerät durch die Einrichtung rannte und vor Aufregung jubelte. Oder wenn ich gerade dabei war, David zu waschen und er, den ich nie reden gehört hatte, die Silbe „hef“ formte – womit er auf Nachfrage ganz klar „ohev“, Hebräisch für „Ich liebe dich“ ausdrücken wollte.

Oder als wir im vergangenen Mai, Pfleger und Bewohner alle gemeinsam, mit allerlei Hilfsmitteln an der Startlinie des Jerusalem Marathons standen und gemeinsam losliefen. Mit einer klaren Botschaft: Hier sind wir. Sichtbar für alle!

Micha Powilleit ist 19 alt. Aufgewachsen ist er in Stuttgart. Nach seinem Abitur hat er für ein Jahr einen Freiwilligendienst mit „Dienste in Israel“ geleistet. Ab Oktober studiert er in Tübingen.

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3 Antworten

  1. Ein sehr interessanter Bericht!
    Aber noch sehr viel interessanter was uns von Jesus in Matth. 4,23+24 berichtet wird. „Und Jesus ging umher in ganz Galiläa lehrte in ihren Synagogen und predigte das Evangelium von dem Reich Gottes und heilte jede Seuche und jede Krankheit im Volk.“
    Lieber Gruß Martin

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  2. Sehr bewegend. Ja, Behinderte sind die Schwächsten in unserer Gesellschaft. Aber gerade durch sie erkennen wir ungeahnte Stärken in uns.
    Danke, Micha, für deinen aufopferden Dienst, deine Nächstenliebe in Israel. Viel Glück für dein Studium. Shalom

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  3. Micha’s Bericht erinnert mich an meine Volozeit im Bet Cholim Zarfatit und im Heim St. Vincent für Kinder mit besonderen Bedürfnissen in Ein Kerem. Drei Jahre durfte ich als Pflegerin und Ergotherapeutin in Jerusalem sein, eine unvergessliche und schöne Zeit!

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