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Überlebensschuld nach Massaker hochaktuell

Der Begriff „Überlebensschuld“ wurde in der Psychologie infolge der Symptommuster geprägt, die die Wiedergutmachungsanträge von Scho‘ah-Überlebenden reflektierten. Jetzt ringt die jüdische Gesellschaft Israels mit einer erschreckenden Neuauflage.
Von Antje C. Naujoks

Es ist ein Krankheitsbild, das Menschen große Beschwerden bereitet. Wer einen Unfall unbeschadet überstand, während andere ums Leben kamen, fragt sich nur allzu leicht: Warum bin ausgerechnet ich davongekommen? Oft wird das zu einer quälenden Frage, wenn die Opfer nahestehende Menschen waren. Überlebensschuld ist die Folge eines gravierenden traumatischen Erlebnisses, wozu nicht nur Unfälle, sondern auch Naturkatastrophen und Krieg gezählt werden.

Geprägt wurde der Begriff „Überlebensschuld“ Anfang der 1960er Jahre von dem Psychiater und Psychoanalytiker William G. Niederland. Er wurde 1904 in Ostpreußen geboren, wuchs in Würzburg auf und emigrierte während der NS-Zeit über verschiedene Stationen schließlich in die USA. Ab 1953 arbeitete er als medizinischer Gutachter für die „United Restitution Organisation“ (URO), eine international-privatrechtliche Organisation, die jüdischen NS-Überlebenden gegenüber den deutschen Behörden bei Entschädigungsansprüchen zur Seite stand.

Hintergrund der Begriffsprägung

Nach Ende des Zweiten Weltkrieges hatte zunächst die medizinische Versorgung der physischen Leiden von Menschen, die jahrlange Entbehrungen und Internierungen überstanden hatten, Vorrang. In seiner Kapazität als medizinischer Gutachter stieß Niederland jedoch darauf, dass jüdische Überlebende der NS-Verfolgung überdies unter seelischen Beschwerden litten, die wiederkehrende Muster aufwiesen.

Bei vielen traten solche Schäden häufig erst nach einigen Jahren auf. Dazu gehörten quälende Albträume, Schlaflosigkeit einhergehend mit chronischer Müdigkeit, Flashbacks, Geräuschempfindlichkeit mit Schreckreaktionen, Konzentrationsschwäche, Angstzustände und ein Gefühl der ständig drohenden Todesgefahr.

Der spezifisch jüdische Kontext

Der 1993 verstorbene Niederland stellte sich aufgrund seiner Erkenntnisse der Haltung der deutschen Behörden und deren Gutachtern entgegen. Sie waren der Ansicht, dass seelische Symptome nach einer Weile wieder abklingen und deshalb nur bedingt, wenn überhaupt, zu entschädigen seien.

Doch es war Niederland, dem überdies noch etwas anderes auffiel: Scho‘ah-Überlebende quälten besonders häufig Schuldgefühle. Sie fühlten sich gegenüber ihren Angehörigen schuldig, weil sie überlebt hatten; oftmals als einziges Mitglied der erweiterten Großfamilie.

Niederland publizierte zu diesem Themenkreis erstmals 1961. Überdies war er derjenige, der erstmals darauf hinwies, dass die Überlebensschuld keine individuell bedingte Beschwerde, sondern ein Krankheitsbild mit spezifischen Folgen ist. Es ist Teil dessen, was später als KZ-Syndrom in die Fachliteratur einging.

Das Überlebensschuld-Syndrom führt dazu, dass Betroffene ein zermürbendes Schuldgefühl empfinden, das Begleiterscheinungen auslöst: Depressionen, Apathie, Unsicherheit ebenso wie Angstzustände. Diese können eine Verstärkung der Wahnsymptomatik und weitere psychosomatische Folgeerkrankungen bewirken.

Der israelische Kontext

Die große Mehrheit der Scho‘ah-Überlebenden wartete nach 1945 sehnsüchtig darauf, den blutgetränkten Boden Europas verlassen zu können. Zwischen 1945 und 1951 trafen rund 360.000 Überlebende in der vorstaatlich-jüdischen Ansiedlung Palästinas beziehungsweise ab 1948 im Staat Israel ein.

Anfang der 1950er Jahre zählte die jüdische Bevölkerung des Landes etwas über 1,2 Millionen, so dass damals rund jeder dritte Israeli Überlebender des NS-Massenmordes war. Zwar war der Umgang der israelischen Gesellschaft mit den Überlebenden in den ersten Jahrzehnten alles andere als rühmlich – ein komplexes Thema für sich. Aber das Thema Scho’ah prägte nicht nur die israelische Gedenkkultur, sondern auch das Bewusstsein des Volkes.

Für Israels Psychologen und Psychiater war es selbstverständlich, sich nicht nur auf diese Patienten einzustellen. Noch 2008 machten Scho‘ah-Überlebende rund 4,5 Prozent der jüdischen Bevölkerung des Landes aus.

Einige Experten fügten der Fachliteratur neue Kapitel hinzu, indem sie aufzeigten, dass für Scho‘ah-Überlebende der israelische Lebenskontext erschwerende Umstände bringt, so die Kriege, die Israel jedes Jahrzehnt auszufechten hatte. Dina Wardi gehört zu den Wegbereitern der Psychotherapie von Kindern Überlebender in Israel, die im Schatten der Traumata der Eltern aufwachsen und wegen der Sicherheitslage des jüdischen Staates ebenfalls mit zusätzlichen mentalen Herausforderungen konfrontiert sind.

Und natürlich spielt bei der gegenwärtigen Situation, der neuen Realität, die Israel seit dem 7. Oktober lebt, ein anderer Aspekt ebenfalls eine Rolle: Das Land versteht sich als „sicherer Hafen für Juden in Not aus aller Welt“. Aber die Ereignisse dieses Tages brachten letztlich auf dem Hoheitsgebiet dieses sich so verstehenden Landes das größte Pogrom an Juden nach dem Zweiten Weltkrieg.

Die israelische Grenzregion zum Gazastreifen, wo die Hamas-Terroristen ihr grausames Blutbad anrichteten, ist laut einer israelischen Überlebenden-Organisation das Zuhause von rund 600 Scho‘ah-Überlebenden. Von den schrecklichen Erlebnissen sind überdies Kinder, Enkel und Urenkel von Überlebenden der Scho´ah betroffen.

Doch auch wer nicht in der Region lebt, spürt das Trauma, das der Hamas-Überfall brachte. Tatsächlich kann man festhalten: Rund ein Drittel aller Israelis rang in den ersten Wochen mit Trauma-Beschwerden.

Ungeahntes Ausmaß

Die grausamen Verbrechen, die die Hamas-Terroristen begingen, weckten nicht nur bei hochbetagten Überlebenden, sondern bei der gesamten israelischen Gesellschaft Erinnerungen an Scho‘ah-Kontexte. Sie lösten bei nicht wenigen Menschen im Land Symptome aus, die auf eine Überlebensschuld deuten. Immer wieder sagten Israelis infolge der Ereignisse vom 7. Oktober: „Wir fühlen uns schuldig, am Leben zu sein.“

Manchmal sind es nur Nebenbemerkungen, wie „wunderbar, nach Wochen wieder Musik zu hören, aber zugleich fühle ich mich deshalb schuldig“. Kommt das aus dem Mund einer Überlebenden der Massaker, die um unendlich viele Freunde trauert, horchen Fachleute auf. Doch es sind auch bereits Interviews aufgetaucht, in denen sich Überlebende des Hamas-Pogroms direkt und unumwunden dafür entschuldigen, überlebt zu haben.

Da ist noch sehr viel mehr. Mütter und Väter sind glücklich, mit ihren Kindern überlebt zu haben, aber zutiefst betrübt, dass anderen das nicht vergönnt ist. Andere empfinden Schuld, dass sie ihre Kinder nicht schützen konnten und jetzt ohne sie weiterleben müssen.

Eine junge Frau trauert um ihren Partner, der sich, um sie zu schützen, auf eine Handgranate warf; sie ist nicht die einzige Israelin mit einer solchen Überlebensgeschichte, die die Frage quält. „Warum ich?“

Eine dreifache Mutter, die den Hamas-Entführern mit zwei ihrer Kinder durch einen glücklichen Zufall entwischen konnte, sah mit an, wie ihr ältester Sohn verschleppt wurde. Bis der zwölfjährige Eitan durch einen Geiselaustausch am 27. November freikam, gab diese Mutter immer wieder Interviews, in denen sie um die Freilassung ihres Sohnes flehte. Die ganze Welt bekam mit, dass sie bei der selbst aufgeworfenen Frage, warum sie nicht anders gehandelt hat und bei ihm blieb, vor laufenden Kameras zusammenbrach.

Noch weitere Kreise ziehend

Das sind lediglich einige Beispiele, die Spitze des Eisberges, denn die Kreise ziehen sich noch viel weiter. Menschen in verantwortlichen Positionen verspüren, dass sie an den Ereignissen Schuld tragen.

Dazu gehört beispielsweise Rotem Katz, der im Kibbutz Nahal Os für Katastrophenschutz zuständig ist. Bei der Rückkehr von Geiseln seiner Kibbutz-Gemeinschaft gab er an, sich zu freuen, zugleich aber genauso schuldig zu fühlen, dass er andere nicht retten konnte. Israel hört zudem, dass sich kampferprobte Generäle der Reserve schuldig fühlen, weil sie nun damit leben müssen, dass sie an den Ereignissen nichts ändern konnten.

Das israelische System für mentale Gesundheit ist überlastet. Die Mitarbeiter schaffen es kaum, die Überlebenden und Familienangehörige der Ermordeten adäquat psychologisch zu betreuen. Hinzu kommen viele Israelis, die nicht unmittelbar betroffen sind, die aber dennoch Trauma-Symptome quälen, die mit Leichtigkeit auch zur Ausbildung einer Überlebensschuld führen können.

Das Ausmaß des Traumas auf nationaler Ebene, das die Schatten der Scho‘ah-Erinnerungen zusätzlich belasten, ist enorm. Doch wer glaubt, dass Israelis sich unterkriegen lassen, der ist falsch gewickelt. Trotz Trauma krempelte praktisch das ganze Land schon kurz nach dem 7. Oktober die Ärmel hoch, um zu helfen. Auch über zwei Monate später stellt Israels Zivilgesellschaft weiterhin unter Beweis, in großen Strecken besser zu funktionieren als die staatlichen Stellen.

Die in Israel gegenwärtig vielzitierte Parole ist keineswegs inhaltsleer: Am Jisrael Chai! Das Volk Israel lebt!

Antje C. Naujoks studierte Politologie an der FU Berlin und an der Hebräischen Universität Jerusalem. Die unter anderem freischaffende Übersetzerin lebt seit fast 40 Jahren in Israel, davon mehr als ein Jahrzehnt in Be‘er Scheva.

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16 Antworten

  1. Überlebensschuld – auch hier gibt es nur EINEN der helfen kann – Jesus Christus, der Sohn Gottes, der für jede Schuld, mit seinem Leben bezahlt hat.

    L.G. Martin

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    1. Martin, schämen Sie sich. Nazis waren Christen, Jeshua Anhänger. Manchmal weiß Martin nicht was er schreibt…und antworten Sie nicht.
      Jeshua ist nicht von Römern ans Kreuz genagelt worden, wegen ab 1938 von Deutschland begangenen 6 Millionen Mord an meinem Volk.
      Merken Sie eigentlich nicht, wie Sie Jeshua verunglimpfen? Ja, der Messias wird kommen, vielleicht nicht nach Würzburg. Ironie oft.

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      1. Bart Repko hat mal bei einem seiner Mauerspaziergängen in Jerusalem gesagt: Der Messias kommt. Aber nicht zu Obama nach Washington, zu Merkel nach Berlin. Er kommt zu Netanjahu nach Jerusalem. (Er hat die damals amtierenden Regierungschef als Beispiel genommen) Aber eines ist klar, Jeshua duckt sich nicht vor Israel weg, er hört auch nicht auf irgendwelches Gejammer von Möchtegernchristchen, die in ihrem Judenbestrafungswahn nicht mehr klar denken können.

        Ja, die Überlebungschuld ist schon ein Thema. Anderen mussten ihr Leben lassen, ich überlebte es. Das ist eine schwierige Situation. Warum er oder sie und ich nicht. Die Frage werden wir nicht klären können, damit muss man leben. Das ist einfach für uns, die wir nicht vor Ort waren, aber die Nachbarn, Freunde, Familie leiden darunter. Genauso wie man manche Aussagen der Bibel nicht erklären kann, man muss sie einfach stehen lassen.

        Daniel bekam von Gott die Aufgabe etwas niederzuschreiben, das er nicht verstand. Und Gott sagte, schreib es einfach, versiegle es, es wird eine Generation nach dir geben, die wird es verstehen. Und heute verstehen wir viel von den Aussagen des Buches Daniel. Gott hat nicht zu den Menschen der damaligen Zeit geredet, er hat zu der Menschheit aller Generationen gesprochen. Unsere Fragen, Zweifel werden eines Tagen geklärt werden. Wir sollten soviel Vertrauen wie Daniel haben.

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      2. Liebe Maria, ich werde Ihnen nicht inhaltlich antworten.
        Dennoch einen lieben Gruß zu Ihnen, Martin

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        1. Wie wunderbar ist es doch, dass Jesus sein Leben für mich gelassen hat, damit ich leben darf! Dafür bin ich meinem Herrn und Heiland so dankbar! Er hat mich vom Galgen der Sünde abgeschnitten und hat sein göttliches Leben für mich geopfert! Halleluja
          Lieber Gruß Martin

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      3. Nazis waren keine Christen, sonst hätten sie sich an die Lehren Jesu gehalten. An ihren Werken werdet ihr sie erkennen, sagte Jesus … Vermutlich wurden einige später Christen, aber zuvor nannten sie sich allenfalls nur so.

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        1. Ändert aber nichts an der Tatsache, das im Namen Jesu die Ausrottung des jüdischen Volkes versucht wurde. Auch schon in den Pogromen die 2 Jahrtausende vorher.

          Auf Kanzeln standen Pfarrer und huldigten Hitler und nicht Gott.
          Man kann nicht so tun, als wenn es nur die Nichtchristen waren, die diese Verbrechen getan und unterstützt haben.

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          1. Ja, das kann man auch so formulieren, aber keiner der diese Verbrechen beging, hielt sich dabei an die Lehren Jesu. Er handelte also nicht im Namen Jesu sondern behauptete nur im Namen Jesu zu handeln, was ein grosser Unterschied ist …

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    2. Gehen Sie besser schnell in Buße!!
      Yeshua ist sehr zornig!
      Und am meisten, der Gott Moses!!
      Also Ruhe endlich von euch!!!
      Am Israel Chai!
      🆘🆘🆘🆘😞🇮🇱🦁👶🏽🧒🏽🧓🏽😞

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    1. @Nicht-Untertan
      Er betet, mehr kann man von ihm nicht verlangen. Sie sollten auch beten, Jesus hört zu.

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  2. Mir hat mal ein junger Arbeitskollege gesagt : „Bad times make good people.“ „Schlechte Zeiten kreiieren gute Menschen.“. Überall wo Krieg passiert werden Menschen traumatisiert und jeder Krieg darf als ungerecht empfunden werden. Was kann ein Kind für seine Eltern, die den Krieg anfangen z. B. , aber Gott wäre kein Gott der Liebe, wenn er keine Lösung anbiete. Es gibt Bewahrung, der größere Teil der Psalmen sind das Versprechen an den Gerechten, dass GOTT schützt, er sei gelobt. Der geringere Teil sind Fluchpsalmen, die sich ergeben aus Grausamkeit, Gier, Gotteslästerung usw. – die Folgen dieser Fluchpsalmen möchte ich nicht erleben. GOTT ist LEBENDIG aber manchen Menschen lästern ihn und provozieren sein Gericht. Es gibt Traumatisierte auch im Kongo, in Rwanda, es gab sie in Vietnam und wahrscheinlich gibt es sie auch bei den so genannten Palästinensern? Manche von ihnen sind Helden des Alltags. Sie geraten nur nicht in die Schlagzeilen oder suchen das Rampenlicht.

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  3. Also, hier lesen wir von schwer traumatisierten Menschen und die haben eigentlich echte Anteilnahme verdient. Als JESUS die Geschichte von den Menschen erzählt, ihr habt mich besucht u.s.w. entscheidet sich das Schicksal der Angesprochenen an IHREM Verhalten gegen über den Andern und es wird nicht gefragt was der Andere glaubt oder nicht glaubt, sondern ob ICH geholfen habe. An anderer Stelle gab Jesus auf die Frage, ob viele gerettet werden, in etwa; kümmere dich erst mal um dein Seelenheil und überlass die Andern Mir oder Gott.

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  4. Kommt zur Vernunft und erklärt euch die Welt ohne Götter und Gottessöhne. Alles andere ist Betrug und Selbstbetrug = das Opium des Volkes ist die Religion. ( Esoterik ist das Heroin.)

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