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Thesenpapier zu Antisemitismus unter die Lupe genommen

Die Debatte um Unterschiede zwischen Antisemitismus und Kritik an Israel erhitzt immer wieder die Gemüter. Dazu positioniert sich die Hanns-Seidel-Stiftung mit einem Thesenpapier. Die Schuld an der Emotionalisierung sieht sie bei allen Teilnehmern der Diskussion. Eine Analyse von Marc Neugröschel
Die Hanns-Seidel-Stiftung befasst sich in ihrem Thesenpapier auch mit israelbezogenem Judenhass

Ein aktuelles Thesenpapier der CSU-nahen Hanns-Seidel-Stiftung sieht den Staat Israel als primäres Ziel antisemitischer Vorurteile. Es bekräftigt damit entsprechende Passagen aus der Antisemitismusdefinition der „Internationalen Allianz zum Holocaust-Gedenken“ (IHRA). In dieser heißt es: „Erscheinungsformen von Antisemitismus können sich auch gegen den Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, richten.“

Die IHRA-Definition ist von Deutschland, der Europäischen Union sowie zahlreichen weiteren Ländern und Organisationen auf der ganzen Welt anerkannt. Sie wird wegen ihrer Bezugnahme auf den israelbezogenen Antisemitismus immer wieder kritisiert. Mit der sogenannten „Jerusalemer Erklärung“ hat eine Gruppe von 200 Unterzeichnern kürzlich eine Gegendefinition vorgelegt, die in der Öffentlichkeit ein breites Echo fand, in der Fachwelt allerdings heftig umstritten ist.

Weiter heißt es in der Stellungnahme der Hanns-Seidel-Stiftung, dass der BDS-Bewegung, die zu einem Boykott des Staates Israel aufruft, „ein antisemitischer Charakterzug“ anhafte, weil sie die Existenzberechtigung des jüdischen Staates nicht eindeutig anerkenne und nicht hinreichend zwischen Regierung und israelischer Gesellschaft unterscheide. Auch dies wird von der „Jerusalemer Erklärung“ bestritten.

Stiftung wertet Religion als immunisierend gegen Judenhass

Der Diskussionsbeitrag der Hanns-Seidel-Stiftung widerspricht der Auffassung, dass Islamophobie in der heutigen Gesellschaft den Platz des Antisemitismus eingenommen habe. Vielmehr existierten Antisemitismus und Islamophobie Seite an Seite. Eine weitere These des Papiers lautet, dass ein gefestigter religiöser Glaube Menschen gegen Antisemitismus immunisieren könne. „Gebetshäufigkeit, kirchliche Aktivitäten und eine hohe Einstufung der eigenen Religiosität“ stünden in Deutschland „in einem positiven Zusammenhang mit der Einstellung zu Juden“.

Die These, wonach ein gefestigter religiöser Glaube gegen Antisemitismus immunisieren können, beruht auf Ergebnissen der Vorurteilsforschung. Sie kommt zu dem Schluss, dass Menschen mit gefestigter Identität und Weltanschauung in der Regel toleranter seien und weniger dazu tendierten, andere Menschen zu diskriminieren. Die Autoren unterscheiden dabei traditionelle Formen der Religion von Ersatzreligionen und Verschwörungsmythen wie QAnon, welche von antisemitischen Vorstellungen durchsetzt seien. Allerdings reduzieren sie den Antisemitismus damit auf ein psychologisches Phänomen und lassen dessen kulturelle Komponente außer Acht.

Beim Antisemitismus handelt es sich um ein System von Vorstellungen und Wahrnehmungsmustern, die seit Jahrtausenden von Generation zu Generation weitergegeben werden. Als eine Form des kollektiven Wissens prägen sie das Weltbild von Menschen, unabhängig von deren psychologischen Dispositionen.

Die These des Papiers, wonach der christliche Antisemitismus heute an Bedeutung verliere, wird durch aktuelle Forschungsergebnisse zumindest in Frage gestellt. Denn auch wenn es wohl unumstritten ist, dass Christen heute nicht antisemitischer als andere Bevölkerungsgruppen sind, so zeigen aktuelle Studien antisemitischer Sprache im Internet und in den sozialen Medien, dass klassische Motive der christlichen Judenfeindschaft überdurchschnittlich oft verwendet und häufig auch mit neueren Ausdrucksformen des Antisemitismus verknüpft werden.

Diskussionen über Israelhass oft emotional

Mit ihrem Positionspapier reagiert die Hanns-Seidel-Stiftung auf einen Anstieg antisemitischer Straftaten in Deutschland und die Verbreitung antisemitischer Vorurteile im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie. Mit ihren Thesen wolle die Stellungnahme zu einer differenzierten Auseinandersetzung mit dem Thema Antisemitismus beitragen, welche oft emotional werde, wenn es um dessen israelbezogene Formen gehe.

Tatsächlich werden immer wieder Stimmen laut, die sich massiv gegen die Anerkennung von israelbezogenen Formen des Antisemitismus und die IHRA-Definition stemmen. Denn sie sehen darin ein Mittel der Zensur, mit der Kritik an der Politik des Staates Israel unterdrückt werden soll. Dabei heißt es in der IHRA-Definition ausdrücklich: „Kritik an Israel, die mit der an anderen Ländern vergleichbar ist, kann nicht als antisemitisch betrachtet werden“.

Seltsame Verschwörungsmythen

Die „Jerusalemer Erklärung“ ist dabei nur das jüngste Beispiel einer Reihe von Initiativen, welche die Diskussion regelmäßig anheizen. Immer wieder werden krude Verschwörungsmythen in die Welt gesetzt, um die Debatte über israelbezogenen Antisemitismus als einen Angriff auf die Meinungsfreiheit darzustellen. Ein offener Brief an Bundeskanzlerin Angela Merkel vom Juli 2020 beschuldigte die Bundesregierung, „auf die Unterdrückung legitimer Kritik an der israelischen Regierungspolitik“ hinzuwirken. Die teils prominenten Unterzeichner des Schreibens begründeten ihren Vorwurf damit, dass die Bundesregierung und deren Antisemitismusbeauftragter das Buch „Der neu-deutsche Antisemit“ des deutsch-israelischen Autors Arye Shalicar finanziert hätte. In Wirklichkeit handelt es sich bei Shalicars Buch um einen persönlichen Erfahrungsbericht, der weder von der Deutschen Bundesregierung finanziert noch inhaltlich von der israelischen Regierung in irgendeiner Art und Weise beeinflusst wurde.

Auf Nachfrage von Israelnetz bestätigte die Verlegerin des Buches, Nora Pester: „Das Buch von Arye Sharuz Shalicar wurde einzig und allein von mir als Verlegerin und alleiniger Inhaberin des Verlags ‚Hentrich & Hentrich‘ finanziert, ohne Beteiligung Dritter, weder von öffentlicher noch von privater Seite.“ Dennoch behauptete die bekannte Anglistik- und Literaturprofessorin Aleida Assmann, die den offenen Brief an die Bundeskanzlerin mitunterzeichnete, im Deutschlandfunk: „Das Buch [„der neu-deutsche Antisemit“] kommt hier an. Und es ist alles sozusagen zeitgleich auch mit der Einsetzung des Antisemitismusbeauftragten, der eine ganz enge Verbindung nach Israel hat. Ich sehe da eine sehr enge politische Verbindung zwischen dieser neuen Konstruktion auf der einen Seite und Interessen in der Regierung – in Jerusalem selbst.“ Belege für die so angedeuteten vermeintlichen Zusammenhänge führte Assmann nicht an.

Im Dezember kritisierte eine Initiative wissenschaftlicher und kultureller Einrichtungen eine im Mai 2019 vom Deutschen Bundestag mit großer überparteilicher Mehrheit verabschiedete Resolution, welche die BDS-Bewegung als antisemitisch einstuft. Sie bezeichnete diese als Angriff auf die Freiheit von Kunst und Wissenschaft. Die Initiatoren dieser Erklärung und die Unterzeichner des offenen Briefes an die Bundeskanzlerin vom Sommer 2020 überschneiden sich in weiten Teilen mit den 200 Unterzeichnern der „Jerusalemer Erklärung“.

Thesenpapier sieht „Rhetorik des Verdachts“

Die Schuld an der Emotionalisierung der Debatte über israelbezogenen Antisemitismus sieht das Thesenpapier der Hanns-Seidel-Stiftung aber auch bei den Vertretern der Gegenposition, welche den Kritikern der IHRA-Definition unterstellen, ihrerseits antisemitische Positionen vor Kritik schützen zu wollen. In diesem Zusammenhang spricht es von einer „Rhetorik des Verdachts“, die in wechselseitigen Unterstellungen beider Seiten zu Ausdruck komme, sich gegen Kritik immunisieren zu wollen.

Obgleich es die Virulenz des israelbezogenen Antisemitismus anerkennt, plädiert das Thesenpapier dafür, „wenigstens in der Theorie einzuräumen, dass … sich der Antisemitismusvorwurf instrumentalisieren lässt“. Es geht ferner davon aus, dass Kritik am Staat Israel und israelbezogener Antisemitismus in bestimmten Fällen schwer voneinander zu unterscheiden seien. Diese Auffassung ist durchaus verbreitet, beruht aber auf empirisch nicht nachprüfbaren Spekulationen über versteckte Motivationen, die sich gegebenenfalls hinter verbalen Angriffen auf den Staat Israel verbergen könnten. Forschungsansätze, die sich hingegen nicht mit der psychologischen Interpretation von Äußerungen beschäftigen, sondern lediglich deren sprachlich ausgedrückten Inhalte unter die Lupe nehmen, kommen zu einem anderen Schluss: Die Trennlinie zwischen antisemitischen Mythen und faktenbasierter Kritik an israelischer Regierungspolitik sei in den tatsächlich untersuchten Fällen klar und eindeutig.

In dem Diskussionsbeitrag der Hanns-Seidel-Stiftung heißt es außerdem, dass sich viele Menschen ihrer eigenen antisemitischen Ressentiments überhaupt nicht bewusst seien. Solchen Fällen begegne man besser mit „geduldiger Aufklärung, Empathie und sachlicher Diskussion“ anstatt mit „politischer Kompromisslosigkeit und strafrechtlicher Ahndung“. Dabei unterscheiden die Autoren zwischen „Menschen, in deren Bewusstsein sich unbemerkt antisemitische Vorurteile eingenistet haben“ und solchen die „die antisemitische Vorurteile vorsätzlich lancieren“. Allerdings lassen sie außer Acht, dass heutzutage auch rechtsextreme Agitatoren, die vulgäre und klassische Formen der Judenfeindschaft verbreiten, für sich in Anspruch nehmen, keine Antisemiten zu sein.

Dr. Marc Neugröschel ist freier Journalist und Soziologe. Er lebt in Jerusalem und hat an der Hebräischen Universität zum Thema Antisemitismus in Sozialen Medien promoviert.

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