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Gut gemeint

Die am breitesten gefächerte Regierung in der Geschichte Israels hielt gut ein Jahr. Die erwünschte Stabilität brachte sie nicht. Nun wird der Ruf nach grundlegenden Reformen lauter.
Von Daniel Frick
Übergabe des Premier-Amtes: Gilat und Naftali Bennett übergeben an Jair und Nihi Lapid

Von Barack Obama stammt der Satz, Israel sei eine „lebhafte“ Demokratie. Als der damalige US-Präsident dies im März 2013 bei seinem Besuch im jüdischen Staat sagte, meinte er es halbernst: Jedes Wort im spannungsvollen Verhältnis zu Benjamin Netanjahu, dem damaligen Premier, werde hier auf die Waagschale geworfen, ebenso jede Geste. Dabei wollten die beiden doch nur Material für die israelische Satiresendung „Wundervolles Land“ liefern, sagte er augenzwinkernd.

Knapp zehn Jahre später und nach einer Phase mit vier Wahlgängen in zwei Jahren lässt sich sagen, dass die israelische Demokratie ihre „Lebhaftigkeit“ auf eine neue Ebene gehoben hat – und vielen ist das Lachen längst vergangen. Mit einer weiteren vorzeitigen Wahl Anfang November, der fünften in dreieinhalb Jahren, bestätigt sich die Tendenz zur Unbeständigkeit: 1988 gingen die Israelis das bislang letzte Mal zum regulären Termin zur Wahl, doch die Häufigkeit der vergangenen Jahre ist neu.

Neuer Geist und Turbulenzen

Einen eigenen Beitrag zu dieser ambivalenten Lebhaftigkeit hat zuletzt die Regierung Bennett-Lapid geleistet. In einem Kraftakt versammelte sie acht Parteien, die eigentlich nicht zusammen können, in einer Koalition: Konservative, Islamisten, Liberale, Linke. Ausgerechnet mit so einer Aufmachung und einer knappen Mehrheit von zwei Sitzen strebten die Beteiligten nach Stabilität; es galt, abermalige Neuwahlen zu vermeiden – vor allem aber, Netanjahu in die Opposition zu drängen.

Den Likud-Chef hatten die Acht vor allem aufgrund der Korruptionsvorwürfe gegen ihn als Unhold der israelischen Politik ausgemacht. Die Regierung trat daher auch an, um mit einem „neuen Geist“ das Land zu führen: Wohlwollen, Anstand, Ehrlichkeit, Hoffnung, Einheit und Überparteilichkeit sollten nun vorherrschen. Die Akteure zeigten sich dann auch betont harmonisch. Der Chef der islamistischen Ra’am-Partei Mansur Abbas lobte noch im März Naftali Bennett für die Bildung dieser Regierung: Der Jamina-Chef habe den „Mut eines Anführers“ bewiesen.

Rückzieher und Abgänge

Doch früh zeigte sich auch, dass der Zusammenhalt genau so bröckelig war, wie es die meisten ahnten. Der Jamina-­Abgeordnete Amichai Schikli hatte schon gegen die Regierungsbildung gestimmt, im April flog er wegen seines Stimmverhaltens aus der Partei.

Überhaupt war der April turbulent: Während der Tempelberg-­Krise setzte die Ra’am-Partei zehn Tage lang ihre Regierungsbeteiligung aus, um gegen die Maßnahmen der Regierung zu protestieren. Die Koalitionsführerin im Parlament, die Jamina-­Abgeordnete Idit Silman, kündigte ihre Mitwirkung auf, so dass die Koalition ihre Mehrheit in der Knesset verlor. Die Regierung schade der jüdischen Identität Israels, meinte Silman damals. Im Mai verließ dann auch Rinawie Soabi (Meretz) für drei Tage die Koalition, ebenfalls wegen des Umgangs der Regierung mit den Unruhen auf dem Tempelberg.

Bennett versuchte indes, die Dinge schön zu reden. Bei TV-­Interviews verwies er auf das „Experiment“ der „breitgefächertsten Regierung in Geschichte Israels“, wenn Fragen kamen, wie lange er angesichts der knappen Regierungsmehrheit noch Premier bleiben könne. Als die Zeichen der Auflösung deutlicher wurden, hob er es als positives Merkmal hervor, dass keine der Kräfte in der Regierung zu ihrem Recht gekommen sei – insofern stimme die Balance. Doch am Ende hieß es von Beteiligten, jede Partei habe zu viel Federn lassen müssen.

Sog der Weltanschauungen

Die erste Schramme holte sich die Regierung schon im Alter von drei Wochen. Die Knesset-Abgeordneten sollten ein Gesetz verlängern, das dem Innenminister die Anerkennung einer Staatsbürgerschaft für Palästinenser, deren Partner in Israel leben, erst nach einer Sicherheitsüberprüfung erlaubt. Das Gesetz stammt aus der Zeit der „Zweiten Intifada“, in deren Verlauf palästinensische Terroristen rund 1.000 Israelis töteten.

Bennett hatte die Abstimmung im Vorfeld zur „Vertrauensfrage“ erklärt. Doch zwei Ra’am-Abgeordnete enthielten sich, und Schikli stimmte mit der Opposition dagegen. In der Folge wies Justizministerin Ajelet Schaked (Jamina) die zuständige Behörde an, so zu tun, als sei das Gesetz gültig. Im Januar untersagte der Oberste Gerichtshof diese Praxis, im März 2022 verabschiedete die Knesset dann schließlich eine Kompromissversion des Gesetzes, dieses Mal mithilfe der Opposition.

Das Ende der Regierung besiegelte dann wiederum eine im Juni anstehende Gesetzesverlängerung, und wieder ging es um den israelisch-­palästinensischen Konflikt: Ein Gesetz für die Gültigkeit israelischen Rechts in den Siedlungen lief aus. Die ideologischen Lager waren auch hier klar verteilt, und auch hier scheiterte die Verlängerung in erster Lesung. Eine Woche später verließ der ebenso mächtige wie unzufriedene Jamina-Abgeordnete Nir ­Orbach die Koalition. Und wieder eine Woche später beschloss die Regierung ihr Ende – das war die einzige Möglichkeit, die Verlängerung des besagten Gesetzes zu gewährleisten.

Mit anderen Worten: Am Ende war es doch die breite Fächerung, an der die Regierung scheiterte. Den Akteuren war diese Gefahr von Anfang an bewusst. Für den Erfolg war daher eigentlich Pragmatismus das Zauberwort. Ideologische Ansprüche, ob post-zionistisch oder siedlungsfreundlich, sollten hinten anstehen. Der Denkfehler war wohl die Annahme, den ideologisch angereicherten Themen entgehen zu können.

Regierungsarbeit mit Resultaten

Bei alledem lohnt es sich, in Erinnerung zu rufen, was in den Wochen vor der Regierungsbildung am 13. Juni 2021 geschehen war: Die Mobgewalt zwischen Arabern und Juden hatte während der Gaza-Operation „Wächter der Mauern“ ein nie dagewesenes Ausmaß erreicht. Dass nur einen Monat später eine Regierung zustande kam, die derart unterschiedliche Kräfte vereinte, wollten viele als Zeichen der Versöhnung deuten – oder zumindest als Selbstversicherung, dass das Zusammenleben doch gelingt. Immerhin hatte Israel mit Bennett seinen ersten jüdisch-­religiösen Premierminister und erstmals beteiligte sich mit Ra’am eine islamisch geprägte Partei profiliert an der Regierung.

In vielen Fällen zeigte die Koalition dann auch ihren „neuen Geist“ und gute Regierungsarbeit. Sie nutzte etwa den Umstand, dass die Ultra-Orthodoxen in der Opposition waren, um die Vergabe von Koscher-Lizenzen zu liberalisieren. Um die Lebenshaltungskosten zu senken, lockerte sie die Regeln für den Importmarkt. Als Erfolg darf auch die Gaza-Politik gelten: Die Palästinenser erhielten mehr Arbeitserlaubnisse für Israel, und die Terror-Organisation Hamas hielt sich mit Angriffen auf den jüdischen Staat zurück.

Israelnetz Magazin

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Abgesehen davon navigierten Regierungschef Bennett und sein Nachfolger Lapid das Land ohne größere Fehltritte durch brenzlige Situationen: Bennett hielt seinem Kurs die Treue, in der Corona-­Pandemie möglichst wenig ins Wirtschaftsleben einzugreifen, neben der Tempelberg-Krise war auch eine Terrorwelle zu bewältigen. Nach dem Ende der Regierung meisterte die Armee unter der Verantwortung von Übergangspremier Jair Lapid (Jesch Atid) eine Gaza-Operation mit Bravour. Dass Deutschland, Großbritannien, Frankreich und die USA die Neuauflage des Iran-Deals auf Eis gelegt haben, dürfte der größte Erfolg dieser Regierung sein.

Ruf nach Reformen

Und doch schwebte über der Koalition immer der Ruch des Unbeständigen. Am Ende konnte auch diese Regierung dem Land nicht zur Stabilität verhelfen. Es scheint, als ob eine Reform des politischen Systems nötig ist; Akteure und Beobachter sprechen dies zumindest an. Als Bennett und Lapid Ende Juni Neuwahlen ausriefen, hatte Lapid noch einen Satz zu ergänzen: Die Entwicklungen seien ein weiterer Beleg dafür, „dass das israelische System ernsthafte Veränderungen und größere Reparaturen braucht“.

Der Chef des Jüdischen Weltkongresses, Ronald S. Lauder, sprach Mitte September etwas spezifischer von der Notwendigkeit eines neuen Wahlsystems. Das gegenwärtige sei ein „Rezept für ein Desaster“, da kleinere Parteien in der Lage seien, die größeren in Geiselhaft zu nehmen. Lauder rief Staatspräsident Jitzchak Herzog auf, einen Ausschuss von Experten zu bilden, die zu einem neuen Wahlsystem beraten. Politische Stabilität sei gerade angesichts der iranischen Bedrohung lebenswichtig. Um sein Anliegen zu unterstreichen, bemühte Lauder ein Zitat von Theodor Herzl, dem Begründer des modernen Zionismus: „Wenn ihr es wollt, ist es kein Traum.“

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3 Antworten

  1. In einem Artikel zu den angeblichen Sorgen um die israelische Demokratie schrieb Gideon Levy in der israelischen Zeitung Haaretz:

    „Plötzlich fürchten alle um die Demokratie in einem Land, in dem etwa die Hälfte der Bevölkerung unter einer militärischen Tyrannei lebt, die zu den grausamsten der Welt gehört. Plötzlich macht sich jeder Sorgen um die Zukunft des Justizsystems in einem Land, in dem dieses System fast jedes Kriegsverbrechen und jedes Verbrechen gegen die Menschlichkeit legitimiert und sich offen über das Völkerrecht hinwegsetzt. Plötzlich regt sich jeder über die mögliche Entkriminalisierung von Betrug und Untreue auf, in einem Land, in dem das Verbrechen des Mordes fast vollständig abgeschafft wurde, sofern der Mörder ein Soldat oder ein Siedler und das Opfer ein Palästinenser ist. Plötzlich sind alle über den religiösen Extremismus entsetzt, und das in dem Land mit dem ausgeprägtesten religiösen Zwang in der westlichen Welt.“

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    1. Ja, gegen Israel ist Nordkorea ein wahrer Hort der Liebe. Und der Iran? Zynismus Ende

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    2. Luley: Sei doch erfreut, dass Haaretz eine linksliberale Zeitung ist, die auch Autoren erlaubt, die weit nach links ausgreifen. Ein Beweis für die Meinungs- und Pressefreiheit in Israel. Ich habe sie gerne gelesen, wenn ich in Israel war.
      Nett auch, wie du Netanyahus (real wohl begangene) Verbrechen reinbringst. Wenn Netanyahu wiedergewählt wird (wonach es leider aussieht), sollte er sich sicher bei deinen politischen Freunden unter den Arabern außerhalb Israels bedanken. Sie sind nämlich seine zuverlässigsten Wahlhelfer! Q.e.d.!

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