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Gefangen im Gefühlschaos

Zwischen Schockstarre, Verzweiflung und Trotz sucht Israel nach einem Weg, um die Katastrophe zu verarbeiten. Valentin Schmid hat die ersten Kriegstage in Jerusalem miterlebt.
Von Valentin Schmid

Vor der Pais-Arena im Süden Jerusalems bildet sich eine etwa 300 Meter lange Schlange. Jugendliche verteilen Wasser, Cola und kleines Gebäck an die Wartenden. Neben dem Eingang zur größten Veranstaltungshalle Israels steht eine Frau mit Gitarre. „Lächeln unterstreicht deine Schönheit, versüßt mir meinen Tag“, singt sie. Der Refrain: „Weine nicht, mein Sonnenstrahl.“

Ist das die Vorband eines Konzerts? Weit gefehlt. Wer hier wartet, möchte Blut spenden. Für die tausenden Verletzten, die die Hamas-Terroristen der israelischen Bevölkerung abverlangen.

Harmonische Musik

In der Schlange stehen religiöse wie säkulare Juden, jung und alt, Eingeborene wie Ausländer. Die ganze Gesellschaft scheint vertreten. Und auch ein deutscher Tourist ist dabei. „Die harmonische Musik im Hintergrund ist gut, um meine Eltern zu beschwichtigen“, schmunzelt er und zückt sein Handy, um in Deutschland anzurufen. Der Rückflug nach seinem Israelurlaub sei gestrichen worden und die Familie besorgt. Aber anstatt jetzt die Zeit bis zum nächsten Flug abzusitzen, wolle er helfen.

Foto: Valentin Schmid
Helfer verteilen süßes Gebäck als Stärkung vor der Blutspende

Wer um 11 Uhr an der Pais-Arena ankam, darf um 17 Uhr auf der Krankenliege Platz nehmen. Der Rest geht dann ganz schnell. Am Ende klebt ein roter Sticker auf der Brust. Darauf steht in fetten Buchstaben: „Auch ich habe Blut gespendet und ein Menschenleben gerettet.“

In der Praxis mag das übertrieben sein. „Wer wirklich in Not ist, braucht meist mehr als eine Blutkonserve“, erklärt ein erfahrener Notfallsanitäter. Aber die Gewissheit, geholfen zu haben, ist auch für die Spender eine riesige psychische Hilfe. Und psychische Hilfe hat Jerusalem bitter nötig. „Wir haben schon mehrere solcher Zeiten erlebt“, meint ein Arzt. „Aber ich muss sagen, dass dies wohl die schlimmste ist.“

Ungenießbarer Kaffee

Sonntag, 8. Oktober. Es ist der Morgen nach dem Überraschungsangriff der Hamas. In meinem Stamm-Supermarkt im Jerusalemer Stadtviertel French Hill starren Israelis ungläubig auf einen Zeitungsstapel. 200. Nicht nur die Todeszahl des ersten Kriegstages lässt mir übel werden. Es ist vor allem die Tatsache, dass die Zahl in diesem Moment schon lang wieder veraltet ist. Schließlich stammt die Zeitung vom Vorabend.

Ein paar Meter weiter haben Restaurants geöffnet. Unter einem großen Sonnenschirm trinken einige Frauen Kaffee. Doch was erst einmal nach einem vergnüglichen Treffen aussieht, ist eher eine ungenießbare Mischung aus kollektiver Schockstarre und Trotzgefühl. Die Jerusalemer möchten ihre Lebensfreude nicht völlig aufgeben. Genau das will ja die Hamas.

Bleierne Schwere

Montag, 9. Oktober. „Im Moment ist alles ruhig“, sagt David. Ich habe ihn auf der Suche nach einem Bunker getroffen. Doch noch bevor er seinen Satz beendet, heulen die Sirenen auf. „Alles ruhig?“, frage ich. „Das gleiche dachte die israelische Armee vorgestern auch noch.“ Ich klopfe ihm auf die Schulter und wir beide lachen. Das Lachen, das bleibt, wenn man nicht anders mit einer Situation umzugehen weiß. Galgenhumor.

Er habe seinen Militärdienst im geheimdienstlichen Bereich absolviert, erzählt David, während wir Schutz suchen. Er könne mir erklären, wie dieser Überraschungsangriff gelang und warum die Armee nicht vorbereitet war. Doch gerade als zur Erklärung ansetzt, kommt ein Anruf. David muss weg. Die Frage, wie das passieren konnte, liegt mit bleierner Schwere über dem Land.

Alarmierende Nachrichten

Dienstag, 10. Oktober: Ich verbringe den gesamten Tag bei der Blutspende. Es tut gut, unter Menschen zu sein. Zugleich erreichen mich alarmierende Nachrichten. Die Hamas verwende die Handys der israelischen Geiseln. „Keine sensiblen Informationen mehr in großen WhatsApp-Gruppen teilen.“

Foto: Valentin Schmid
Ein Einkaufswagen wirbt für Sachspenden an Soldaten.

Mittwoch, 11. Oktober, wieder im Supermarkt. Wo zuvor der Zeitungsstapel lag, steht nun ein leerer Einkaufswagen. Davor eine große weiße Tafel. „Spenden für Soldaten. Danke für alles“, hat jemand mit schwarzem Edding darauf geschrieben. Die Stadt bereitet sich auf einen langen Krieg vor. Und auch das Gefühlschaos wird weitergehen.

Valentin Schmid studiert derzeit an der Hebräischen Universität Jerusalem.

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9 Antworten

  1. Liebe Israelis, Ihr seid wunderbare Menschen, so hilfsbereit, setzt Euch für Freund und Feind ein, ja das ist sehr bewundernswert!
    Ich wünsche Euch, dass Ihr die Liebe Gottes ganz neu und persönlich kennenlernt!
    Er hat seinen Sohn geopfert – ganz freiwillig – aus Liebe.
    Lieber Gruß, Martin

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    1. Ihr Kommentar ist an dieser Stelle besonders deplatziert.
      Wie viele Mütter und Väter haben denn durch die Massaker der Erzfeinde Israels ihre Söhne und Töchter verloren? Oftmals auch den Einzigen geliebten Sohn oder die geliebte Tochter. Sie sind dermaßen fundamentalistisch in Ihren Glaubens Sortiesen gefangen, dass Ihnen jedweder Anstand verlorengegangen ist.
      Israel trauert um seine Söhne und Töchter und Sie kommen mit solchen Formulierungen daher. Das „hilft natürlich die Trauer zu verarbeiten“. Was Sie damit erreichen ist, das Unverständnis der Juden über das Christentum zu vertiefen. G“tt sei Dank sind nicht alle so elefantistisch veranlagt, sondern zeigen ein tiefes ehrliches Mitgefühl.

      27
    2. Da hätten Sie lieber nicht geschrieben! Ich gebe Jesaja Recht. Habe es schon einmal geschrieben, Ihr religiöser Fanatismus schreit zum Himmel. Und wie Jesaja sagt, sie erreichen damit das Gegenteil. Wenn sie das wollen, dann nur weiter so! Das ist so beschämend!!! Haben Sie es denn immer noch nicht
      begriffen !

      Dass die Menschen in Israel im Gefühlschaos gefangen sind, dürfte niemanden wundern, bei all dem, was sie erleben und durchmachen. Möge Gott die Menschen beschützen und behüten. Und möge Er die, die wichtigen Entscheidungen treffen müssen, besonders segnen. Und möge Er die die Soldaten segnen, die Zivilbevölkerung und alle Menschen, die im Land Israel sind. Möge Gott DIE Hilfe senden, die benötigt wird, für das seelische, geistige und körperliche Wohl. Gott, segne Dein Volk. Amen.

      5
      1. Liebe Frau Heckenhahn, wenn wir nicht die Frage beantworten, wie all diese Grausamkeiten, aus der Sicht Gottes und seinem Wort zu beantworten sind, werden wir noch viel Leid erdulden müssen.
        Gottes Wort beschreibt uns so genau, warum etwas passiert oder auch nicht. Die Tora ist ein „Beispielbuch“ dafür, wann Jahwe gelingen schenkt und wann nicht. „Und als die Kinder Israel taten, was dem Herrn missfiel, gab sie der Herr in die Hand der Midianiter sieben Jahre“ (Richter 6,1) – Das ist ein Beispiel von vielleicht vielen Hunderten.
        Nennen Sie mir ein Beispiel in der Bibel wo es heißt: Die Kinder Israel lebten in den Ordnungen Gottes und fürchteten Jahwe – und der Herr gab sie in die Hände ihrer Feinde!
        Auch wir Christen haben uns so weit vom Wort Gottes entfernt, sind so verwachsen mit dem Humanismus, dass wir die biblische/göttliche Realität nicht mehr aushalten.
        Auch Jesaja schreibt es sehr deutlich – in Jesaja 1,18 – diese Wahrheit ist gültig bis auf den heutigen Tag. Liebe Frau Heckenhahn, aus dem Gefühlschaos kann uns nur die Liebe Gottes und das Blut Jesu befreien – Er ist unsere Gerechtigkeit – nicht wir wollen Rache.
        Lieber Gruß zu Ihnen, Martin

        7
        1. @Untertan,

          es geht doch gar nicht darum, Gottes Wort nicht zu sehen und zu glauben, es geht um Ihre fehlende Empathie und Ihre unpassenden Worte in der Situation. Israel ist im Krieg, Menschen leiden und sterben und Sie meinen, die Juden missionieren zu müssen und uns hier mit. Schlimmer kann sich ein Christ in dieser Situation wirklich nicht verhalten! Und damit schaden sie allen beteiligten. Mögen Sie ihr Christsein so leben, aber lassen Sie doch bitte andere damit in Ruhe.
          Wenn alle Christen so wären, gar nicht auszudenken …

          4
    3. Ihr Kommentar ist mal wieder eine Schande für jeden Christen, der seine Bibel auch nur mit 1 % kapiert hat.

      3
    4. Dies ist vielleicht nicht der Moment, um andere Religionen zum eigenen Glauben zu bekehren. Wie ignorant kann man eigentlich sein? Außerdem beneide ich die Juden darum, dass sie eine lebensfrohen und diesseitigen Glauben haben und nicht unentwegt auf ihre Sünden aufmerksam gemacht werden. Ein Tausch mit dem Christentum erscheint mir nicht sehr vorteilhaft.

      0
  2. Wer tun möchte, was Gott will, muss nicht mit Bibelzitaten um sich werfen. Das kann dem, der sie abkriegt echt wehtun. Ein liebvolles Wort genügt vollkommen, wenn ich den geliebten Menschen nicht in meine Arme schließen kann. Und nur das will ich. Ihr seid nicht allein. Jetzt kann ich für Euch beten. Das mache ich gern und oft und mit ganzem Herzen. Bald, so Gott will, werde ich wieder mit Euch im Lande sein und Euch helfen. Schalom, Schalom

    8
    1. Schalom
      Gott, wo bist du?
      Meine zwei Söhne sind mir schon genommen worden. Wohin soll ich als Mutter gehen? Ich bin verzweifelt!
      Meine Gedanken sind bei allen Müttern.
      Die Bilder sind nicht zu ertragen.
      Das ,mein Herz ist gebrochen.
      Wir, als Mütter müssen stark Sein.

      3

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