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Eine überhitzte Debatte

In Israel sind harte politische Auseinandersetzungen nichts Ungewöhnliches. Der Streit um die Justizreform nimmt aber bedenkliche Züge an. Eine kommentierende Analyse
Von Daniel Frick
In Jerusalem kamen am Montagnachmittag viele Menschen zum Protest gegen die Justizreform zusammen

Der Streit um die geplante Justizreform hat Israel seit Jahresanfang im Griff. Die Wucht, mit der die gegensätzlichen Meinungen aufeinandertreffen, ist auch für israelische Verhältnisse außergewöhnlich. Und das in einem Land, in dem Staatspräsidenten in Wahlkampfzeiten die Kontrahenten regelmäßig dazu aufrufen, ihren Ton zu mäßigen.

Die wöchentlichen Massenproteste sind das gute Recht der Israelis. Die Teilnehmer sehen in der Justizreform offenkundig eine Fehlentwicklung. Die Entwicklungen der vergangenen Monate haben aber auch gezeigt, dass die Debatte überhitzt ist. Und damit stellt sich die Frage, ob die Argumente der jeweiligen Gegenseite überhaupt Gehör finden.

Fragwürdige Medienkampagne

Einen Beleg für eine überhitzte Debattenkultur lieferten am 25. Juli einige israelische Zeitungen. Am Tag nach der Verabschiedung des Angemessenheits-­Gesetzes war etwa auf den Titelseiten von „Yediot Aharonot“ und „Ha’aretz“ anstatt der üblichen Aufmacher eine große schwarze Fläche zu sehen. „Ein dunkler Tag für die israelische Demokratie“, hieß es dazu. Anders als der erste Blick es vermuten ließ, war das keine Aktion der jeweiligen Redaktionen. Es handelte sich vielmehr um eine Anzeigenkampagne von Hightech-Unternehmen.

Das war zwar, wenn auch in kleinen Lettern, so gekennzeichnet. Doch dass die Zeitungen ihre Titelseiten dafür hergegeben haben, ist schäbig. Derartige Aktionen verhärten die Fronten, wenn das überhaupt noch möglich ist. Zeitungen sollten, abgesehen von den Meinungsstücken, die unterschiedlichen Positionen in Politik und Gesellschaft darstellen. Mit so einer Titelseite wirkt es, als ob sie ihren gesamten Inhalt einer bestimmten Haltung unterordnen.

Kein heiliges Prinzip

Dabei ist das Angemessenheits-Gesetz, wie auch die Justizreform insgesamt, nicht derart schwarz-weiß zu bewerten. Das Prinzip der Angemessenheit hat selbst Aharon Barak bereits infrage gestellt. Der frühere Präsident des Obersten Gerichtes gilt den Reformbefürwortern als die zentrale Figur, die den gerichtlichen Aktivismus, gegen den sich die Justizreform im Kern wendet, gefördert hat. Doch schon im Dezember 2019 meinte er, das Angemessenheits-­Prinzip habe seine Zeit gehabt. Er sei bereit, es aufzugeben, sagte er auf einer Konferenz des Wochenblatts „Makor Rischon“.

Das Prinzip der Angemessenheit

Das am 24. Juli verabschiedete „Angemessenheits-Gesetz“ – ein Zusatz zum Grundgesetz über das Justizwesen – untersagt es den Richtern, Regierungsentscheidungen auf ihre Angemessenheit zu überprüfen. Dazu gehören etwa Anordnungen oder Ernennungen. Die Einschränkung gilt nur bei der obersten Regierungsebene, also den Ministern, nicht bei anderen Beamten oder im Bereich der Stadtverwaltungen. Das Prinzip der Angemessenheit bei der Rechtsprechung hat Israel infolge der Mandatszeit aus der britischen Rechtstradition übernommen. Es fußt in der Auffassung, dass man von einer Person grundsätzlich vernünftiges Handeln erwarten kann, ohne dass es immer gesetzlich vorgeschrieben wäre: nicht fahrlässig, verantwortungsbewusst, rücksichtsvoll.

Im Lauf der Zeit hat das Prinzip in Israel eine spezifische Prägung erhalten. Der Experte für jüdische Geistesgeschichte Warren Zev Harvey von der Hebräischen Universität Jerusalem meint, dass israelische Richter des Obersten Gerichtshofs es wohl „mehr als andere“ genutzt hätten.

Das Prinzip hat Vor- und Nachteile: Einerseits bietet es die Möglichkeit, „unangemessene“ Entscheidungen, die es nun einmal gibt, zu überdenken. Andererseits ist bei der Frage, was angemessen ist, auch Willkür im Spiel. Harvey nennt ein Beispiel: Eine Regierungsentscheidung von 1977 sah vor, dass behinderte Personen nur dann einen Kredit für ein Auto erhalten dürfen, wenn ein Angehöriger, der es letztlich fahren würde, im selben Haus wohnt.

Richter Aharon Barak bestätigte 1986 zunächst die Angemessenheit dieser Politik. Sein Kollege Menachem Elon kritisierte sie 1989 jedoch als „völlig unangemessen“: Sie schließe zu viele Menschen aus, da viele Betroffene nicht mit ihren Angehörigen in einem Haus, wohl aber in deren Nachbarschaft lebten. „Angemessen“ sei es daher, eine gewisse Wohnnähe zu verlangen, aber nicht mehr. Den Grundgedanken, dass eine Maßgabe so gestaltet sein muss, dass sie eine breite Mehrheit befolgen kann, begründete Elon mit dem Talmud.

Auch die Rufe nach einem breiten Konsens, wie sie etwa US-Präsident Joe Biden formulierte, haben eine Ambivalenz. Einerseits wäre es wünschenswert, dass Grundgesetze durch eine breite Mehrheit getragen werden. Andererseits sind die 64 von 120 Stimmen für das Angemessenheits-Gesetz weit mehr als die 23 und 32 Stimmen für die Grundgesetze zur Berufsfreiheit und zur Menschenwürde von 1992. Immerhin deutete Barak diese Gesetze als „Verfassungsrevolution“. In einer Rede zwei Monate nach der Verabschiedung sprach er den Gesetzen Verfassungsrang zu, ohne dass die Knesset dies so formulierte. Wo waren damals die Rufe nach einem breiten Konsens?

Eifernde Regierung

Andererseits ist es auch der Regierung anzulasten, dass die Debatte derart überhitzt ist. Ihr Eifer wirkte mitunter wie ein Rachefeldzug gegen die Justiz, nicht wie eine kluge Reform. Dass Justizminister Jariv Levin (Likud) selbst eingestanden hat, ein Teil der Vorschläge sei nicht demokratisch gewesen, spricht hierbei Bände.

Auch der Vorsitzende der ultra-orthodoxen Koalitionspartei Schass, Arje Deri, neigte zuletzt zur Selbstkritik. Die Art, wie die Regierung vorgegangen sei, habe bei vielen Israelis „ein großes Trauma“ verursacht: „Als ob es einen Plan gebe, eine neue Art von Regime zu errichten.“

Geringe Chancen auf Kompromiss

Andererseits: Wie hoch wären die Chancen gewesen, von Anfang an einen breiten Konsens sicherzustellen? Oppositionsführer Jair Lapid ist in den vergangenen Jahren in der Hoffnung auf Macht auf der Anti-Netanjahu-Welle geritten. Dass er den Premier, wie viele im Volk, wegen Korruption vorverurteilt hat, ist nicht nur populistisch. Es macht auch keinen guten Eindruck in einem Rechtsstaat. Dass sich Benjamin Netanjahu und Lapid besonnen über eine Reform des Justizwesens verständigen, ist kaum denkbar.

Israelnetz Magazin

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Zumal Lapid bei den Demonstrationen bekräftigt, dass es ihm letztlich um den Sturz der Regierung geht. „Das ist eine dysfunktionale Regierung, und sie muss abtreten. Das ist unser Plan: Zu kämpfen, bis diese Regierung fällt“, sagte er am 19. August bei einer Demonstration nahe Haifa. Er will wieder eine „echte Einheitsregierung“ aufleben lassen; eine solche war aber im Sommer 2022 nach nur einem Jahr gescheitert.

Signale des Entgegenkommens

In dieser Gemengelage fällt es schwer, sich mit Blick auf die Justizreform auf die eine oder andere Seite zu stellen. Zumindest beim Prinzip der Angemessenheit gibt es mehr Befürworter, als es aufgrund der starken Proteste den Anschein hat.

Immerhin: Aus der Regierung kommen Signale, es bei weiteren Reformplänen wie der Richterernennung langsamer angehen zu lassen. Deri hat zudem den interessanten Gedanken formuliert, bei einzelnen Vorhaben eine Kompromissversion zu nehmen, auch wenn kein Kompromiss mit der Opposition erreicht wurde. Falls das gelingt, bleibt zu hoffen, dass auch die Gegner dieses Bemühen anerkennen.

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Eine Antwort

  1. Manchmal hat man das Gefühl, dass sich da zwei Männer bekriegen, Netanjahu/ Lapid, spalten das Volk und das Land zeigt Risse, wird instabil. Ich finde Vorverurteilungen, insbesondere durch Presse, nicht gut, wobei ich nicht verstehe, warum der Premier sich nicht der Justiz stellt seit Jahren, wegen den Vorwürfen. Wird ständig vertagt.
    Langsam nervt dieses demonstrieren von beiden Seiten.
    Die Herren sollten sich alle an einen Tisch setzen und pro Volk arbeiten und nicht in ihrem persönlichen Machtgetue.
    Auf der anderen Seite, solange demonstriert wird, ist ein Land demokratisch.

    16

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