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Die nagende Frage

Der Schock des Terrormassakers sitzt tief. Aktuell steht der Kampf gegen die Hamas im Vordergrund. Doch die Frage, wie es so weit kommen konnte, lässt sich nicht aufschieben.
Von Daniel Frick
The new IDF chief of staff Herzi Halevy visits at the Western Wall in Jerusalem, together with outgoing chief pf staff Aviv Kochavi. January 16, 2022.

Für Tamir Hayman ist es die Millionenfrage: Wieso haben die israelischen Geheimdienste die Gefahr aus dem Gazastreifen nicht erkannt und das Terrormassaker vom 7. Oktober nicht verhindert? Der frühere Leiter des Armeegeheimdienstes (Aman) hat dafür keine Erklärung, wie er gegenüber der „Times of Israel“ einräumt. Klar sei nur, dass sowohl der Inlandsgeheimdienst Schabak als auch der Aman die Lage falsch beurteilt haben. Warum dies so war, sei ein Rätsel.

Die Frage beschäftigt ganz Israel und diejenigen, die dem jüdischen Staat verbunden sind. Dennoch hat Armeechef Herzi Halevi angeordnet, dass die Aufarbeitung erst nach dem Krieg beginnt, um fokussiert zu bleiben. Staatsprüfer Matanjahu Englman kündigte am 20. Dezember ebenfalls eine Untersuchung an. Diese soll jedoch erst beginnen, sobald es die Umstände des Krieges zulassen, die Armee dafür also nicht mehr so sehr in Beschlag genommen ist.

Nichtsdestotrotz sind schon Medienberichte aufgetaucht, die diese nagende Frage behandeln. Mitunter betonen die mit der Materie vertrauten Journalisten, dass die Militärzensur vieles noch nicht für die Veröffentlichung freigibt. Doch schon die ersten Details lassen erkennen: Warnungen waren zwar vorhanden, führten aber aufgrund einer grundlegenden Fehleinschätzung bezüglich der Hamas nicht zur nötigen Wachsamkeit.

Plan für eine Masseninvasion

Bereits im Jahr 2022 verfügte die Armee über Informationen zu einem Plan der Hamas für eine „Masseninvasion“. Der Plan führt unter anderem aus, dass 20 Gruppen der Nuchba-Einheit, der Elite-­Kämpfer der Hamas, begleitet werden sollen von Ingenieur-Einheiten, die den Grenzzaun durchbrechen. Im Armeebericht über den Plan lautet die Einschätzung: „Diese Invasion stellt die größte Gefahr dar, mit der die Armee bei der Verteidigung Israels konfrontiert ist.“

Im Sommer 2023 warnte zudem eine Unteroffizierin von der Gaza-Division der Aufklärungseinheit 8200 ihre Vorgesetzten, dass die Hamas etwas Großes plane. Der Öffentlichkeit ist sie nur als „V.“ bekannt. Terroristen der Hamas hielten ihr zufolge Übungen ab, die zum erwähnten Plan passten. In abgehörten Gesprächen hätten sie darüber gesprochen, wie sie ganze Ortschaften auslöschen würden.

Wie genau die Warnungen gehandhabt wurden, wird noch zu klären sein. Einige in der Abteilung von „V.“ hätten diese als „imaginär“ abgetan. Am 3. Oktober besuchte Aman-Chef Aaron Chaliva die Gaza-Abteilung. Ein Offizier machte dabei in einer Gesprächsrunde auf die Warnungen von „V.“ aufmerksam. Anschließend soll es zu einem Vier-Augen-Gepräch zwischen Chaliva und diesem Offizier gekommen sein. Was dabei vereinbart wurde, ist bislang unbekannt. Chalivas Assistenten sollen aber in Hörweite gewesen sein; womöglich äußern sie sich noch zum Inhalt.

Die Warnungen von „V.“ hatten indes ein Manko: Sie enthielten keinen konkreten Zeitpunkt, wann das alles geschehen sollte. Es hätte theoretisch noch Monate so weitergehen können. Insofern hatten ihre Vorgesetzten keinen konkreten Anlass, zu handeln. Bereits zu Pessach soll ein Angriff geplant gewesen sein, der dann aber nicht erfolgte. Warum sollte es dieses Mal anders sein?

Fatale Fehlannahme

An dieser Stelle weisen die Medien auf ein grundlegenderes Problem hin: In der Führungsebene der Armee und der Geheimdienste herrschte die Überzeugung vor, dass die Hamas aktuell nicht an einer Konfrontation interessiert sei. Die Annahme war, dass die Terror-Organisation nach dem Konflikt vom Mai 2021 abgeschreckt sei; ihr gehe es nun vor allem darum, die Lebensbedingungen der Bewohner im Gazastreifen zu verbessern. Dazu dienten Gelder aus Katar und die Genehmigungen für Arbeitsstellen in Israel, deren Zahl Israel zuletzt stark erhöht hatte.

Bemerkenswert ist, dass sämtliche Geheimdienste diese Überzeugung von einer gezähmten Hamas teilten. Das gilt für den Aman und für den Inlandsgeheimdienst Schabak. Chaliva sah nach der Militär­operation vom Mai 2021 „fünf Jahre Ruhe“ wegen der wirtschaftlichen Maßnahmen voraus. Auch ein Mossad-Team, das derartige Einschätzungen überprüft, hatte keine Einwände.

Fehlannahme: Der Chef des Armeegeheimdienstes Chaliva (l.), hier mit Premier Netanjahu im Mai 2023, sagte mit Blick auf die Hamas eine lange Ruhephase voraus Foto: Israelisches Presseamt/Amos Ben Gershom
Fehlannahme: Der Chef des Armeegeheimdienstes Chaliva (r.), hier mit Premier Netanjahu im Mai 2023, sagte mit Blick auf die Hamas eine lange Ruhephase voraus

Die Prüfungsabteilung innerhalb des Aman bestätigte ebenfalls die vorherrschende Sicht. Diese Abteilung wurde 1974 nach dem Jom-Kippur-Krieg im Jahr zuvor eingerichtet. Ihr Zweck ist es, den Advocatus Diaboli zu spielen und die gängigen Überzeugungen infrage zu stellen, um böse Überraschungen zu vermeiden.

Späte Revision

Wie hartnäckig sich die Überzeugungen von der Hamas hielten, zeigen die Entwicklungen in den Tagen vor dem Massaker und in der Nacht davor. Am 1. Oktober hielt ein Lagebericht einen „scharfen Anstieg von Übungen der Nuchba-­Einheiten“ fest. Das Fazit lautete aber, dass es angesichts der wirtschaftlichen Maßnahmen wieder ruhiger werden würde.

In der Nacht vor dem Massaker führten Beobachtungen von verdächtigen Vorgängen zu Telefonberatungen auf höchster Ebene. Die Einschätzung war dann aber, dass die Hamas höchstens einen Entführungsversuch vorhatte. Der Chef des Inlandsgeheimdienstes Schabak, Ronen Bar, entsandte eine kleine ­Einsatzgruppe an die Grenze – selbst diese ­Maßnahme hielten manche zu diesem Zeitpunkt noch für übertrieben.

Aufgrund der Indikatoren ordnete Armeechef Halevi schließlich an, dass das Geheimdienstmaterial überprüft werden soll – nun auch mit der Annahme, dass die Hamas doch nicht abgeschreckt sei. Für den Fernsehsender „Kanal 12“ war dies das erste Mal, dass die Armee ihre Überzeugungen zu einer gezähmten Hamas infrage stellte. Dennoch führte es noch nicht dazu, ein größeres Aufgebot zu mobilisieren. Zunächst ließ die Armee drei Drohnen und einen Kampfhubschrauber anrücken.

Übungen als Blendwerk

Zum Wirrwarr beigetragen haben dürfte der Umstand, dass die Hamas sich keine Mühe gab, ihre Pläne zu verheimlichen. Im Gegenteil: Die Terroristen veröffentlichten Videos von den Übungen in nachgebauten Ortschaften stolz in den sozialen Medien. Ein Übungsplatz befand sich in unmittelbarer Nähe der Grenze. Gepaart mit der Annahme einer abgeschreckten Hamas führte das wohl zum Eindruck, dass es sich um bloßes Säbelrasseln handelte.

Darüber hinaus strahlte der Sender „Hamas TV“ zum Ramadan 2022 eine Dramaserie aus, die von einer Invasion handelt. Der Hamas-Chef im Gazastreifen, Jahja Sinwar, lobte die Serie später bei einer Preisverleihung. Dabei meinte er, dies sei das, was die Hamas vorbereite.

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Dennoch konnte er die Israelis über seine genauen Pläne hinwegtäuschen. Dass und wann er den Befehl zum Angriff geben würde, hielt er vor ihnen verborgen. Sie wussten nur, dass sie nicht wissen, was er vorhat. So lautete das Fazit einer Lagebesprechung des Aman drei Monate vor dem Massaker.

Auch im Nachhinein gibt sich die Armee ratlos. Ein ungenannter Offizier im Führungsstab sagte Ende November zusammenfassend: „Wir wissen nicht, wann Sinwar die Entscheidung fällte, [den Plan] in eine Handlungsanweisung umzuwandeln, und wir wissen auch nicht, warum. Wir können nur spekulieren.“

„Kolossales Versagen“

Die israelischen Medien sind in der Bewertung dieses Befunds wenig zimperlich. Neben den Sicherheitsdiensten trifft dies auch die politische Führung, also Benjamin Netanjahu. Er war es, der die Politik auch gegenüber der Hamas bestimmte. „Netanjahu ist der Gründungsvater des Versagens in Gaza“, schrieb das Verteil­blatt „Israel Hajom“, das dem Regierungschef traditionell eigentlich zugewandt ist.

Mit Blick auf die Sicherheitsdienste fallen die Urteile ebenso heftig aus. Neben der Fehleinschätzung zur Hamas spielt auch ein allzu großes Zutrauen in die Sicherheitstechnik eine Rolle. So habe der Ende 2021 verstärkte Grenzzaun ein falsches Gefühl der Sicherheit geboten: Binnen Minuten war dieser am Tag des Massakers durchbrochen.

Die Zeitung „Yediot Aharonot“ spricht von einem „kolossalen Versagen auf allen Ebenen“. „Israel Hajom“ schreibt, spätestens die Erlangung des Invasionsplans im Sommer 2022 hätte zu einem Umdenken führen müssen. Sie zieht den Schluss: „Größtenteils handelt es sich um die Geschichte einer absehbaren Katastrophe, geboren aus der Sünde des Hochmuts.“

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13 Antworten

  1. Terrormassaker vom 7. Oktober 2023 – „Die nagende Frage“: sowohl der Inlandsgeheimdienst Schabak als auch der Aman haben die Lage falsch beurteilt. Mag stimmen. Im Nachhinein ist man ja immer schlauer. Die Presse vor allem.

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      1. Stimmt, deswegen hat es auch 30 Jahre gedauert bis Daniela Klette verhaftet und die gelagerten Waffen Tage nach der Verhaftung gefunden wurden.

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  2. Aha, also war das Vorrauswissen doch keine „Verschwörungstheorie“ wie wieder einmal reflexhaft behauptet wurde. Selbst wenn man die Warnungen 2022 anfangs nicht glauben wollte, hätten die logistischen Vorbereitungen doch auffallen müssen. Israel verfügt über mehrere Spionagesatelliten im Weltraum, kann alle Kommunikationssystem abhören und hat garantiert auch Spione in den Reihe der Hamas. Schwer vorstellbar das dort niemand etwas bemerkt haben soll.

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    1. Liebe Frau Doris,
      Israel ist ein kleines Land und hat die halbe Welt gegen sich. Israel darf keine Fehler machen. Wenn Sie Israel lieben würden, dann würden Sie dafür Verständnis haben. Graucho Marx hätte Sie gefragt: welches Land lieben Sie überhaupt?

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  3. Es ist eine bittere, tragische Geschichte, alles, was erkundet werden kann, ist wichtig.
    Man muss aber unterscheiden: Zum Einen die Fehler der Sicherheitsverantwortlichen bis hin zu „Bibi“ VOR dem 7.Oktober. Zum Anderen die brutale und mörderische Art und Weise der HAMAS, die in der Welt zu wenig dargestellt wurde. Zum Dritten MUSS es für alle Israel-freundlichen Kräfte darum gehen, die Lügen der HAMAS zu entlarven und alle mörderischen Aktivitäten der HAMAS ins Weltbild zu bringen. Insbesondere, dass Israel beschuldigt wird, keine Nahrung an Zivilisten zu geben, obwohl die HAMAS wichtige Hilfsgüter stiehlt, das muss bekannt werden ! HAMAS muss an der Pranger gestellt werden und zwar auf gut ermittelten Recherchen.

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  4. Shalom,so bitter auch meine Meinung bei gewissen Leuten in diesem Forum ankommen mag,Die Schuld dass es soweit kam,ist allein Israel-heisst:Geheimdienste,Regierung und Armee schuld.Ob nicht aufpassen,Leichtgläubigkeit,kein Wissen oder sonstiges.Es hätte nicht passieren sollen.Die IDF und die israelischen Geheimdienste sind die besten der Welt. (oder waren???)Dieses Schreiben und Gedanken kommen von einem landestreuen Juden der 3Monate in Gaza verbracht und gekämpft hat. Jerusalem

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  5. Nichts liegt mir ferner, als IL zu kritisieren oder zu verurteilen. Trotzdem ist es bemerkenswert, dass nach dem Jom-Kippur-Überfall 1973 wieder ein Angriff mit verheerenden Folgen an einem „Feiertag“ stattgefunden hat. Auch eine AT Begründung zieht nicht, da der neue Gnadenbund durch Jesus die 613 Ge- und Verbote erfüllt und nach Apostel Paulus außer Kraft gesetzt hat. Solange Israel den Messias nicht anerkennt, werden sich Gottes Gerichte über IL weiter verstärken. Wer das nicht glaubt, darf sich JHAWES Prophezeiungen des AT ansehen. Dort wird dies glasklar vorausgesagt. Es stimmt mich traurig. Erst im Millennium unter der Herrschaft des Messias, werden die Feiertage friedlich verlaufen. Ob dies Israel – Befürwortern, zu denen ich auch gehöre, passt oder nicht: So wird es geschehen und nicht anders. Ich freue mich schon auf die Kritiken meiner Stellungnahme und weise sie von vornherein zurück.

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  6. Ich denke, dass Glaube und Festhalten an das Gute, das Streben nach einem friedlichen Miteinander wie Scheuklappen an den Augen wirkten und die reale, tatsächliche und wirkliche Boshaftigkeit ausblendeten.
    Gaza – land for peace – und zum groben Undank Raketen-Terror aus Gaza, das war ein Warnschuss und hätte zum Abnehmen der Scheuklappen führen müssen.
    Die Realität, dass einseitiger Friedenswille unwirksam bleibt – bildet sich u.a. auch im Libanon ab.
    Das einzige Streben der jihad-Mörderbanden gilt dem blutigen Landraub bis zur Weltherrschaft
    Hindukusch bedeutet Grab der Hindus und 80 Millionen brutal ermordeter Hindus.
    Am 7. Oktober hat hamas eine weitere Kriegserklärung an alle Juden und nicht-moslemische Andersdenkende weltweit gerichtet.

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  7. Das war Taktik der Hamas die Übungen so offen durchzuführen. Wollten wohl, dass der Mossad das für Säbelrasseln halten soll. Ein perfides „Spiel“ gepaart mit Hochmut, dass der Zaun hält und es doch nicht Ernst wird. Was für ein entsetzliches Erwachen!!

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  8. „Wir schaffen das“ Hochmut kommt vor dem Fall. Niemand der Verantwortlichen hat eine Idee, wie es dazu kommen konnte. Niemand der Verantwortlichen gibt es zu und sagt das Unsagbare: wir haben uns in unserer eigenen Sicherheit gewiegt und geglaubt, wir seien unbesiegbar.

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  9. Irgendwie erinnert mich dies gerade an etwas.

    An den 6-Tage-Krieg. Da gibt es Zeitgenossen, die behaupten, Israel wäre nie angegriffen worden. Man hätte es darauf ankommen lassen sollen. Irgendwie berufen sie sich auf seltsame Aussagen, die sie als Wahrheit verkaufen.

    Jetzt hat Israel die Warnungen, die eingingen nicht erst genug genommen, vielleicht haben sie einfach vertraut, falsch eingeschätzt. Aber was war das Ergebnis? Der 7.10. Und was wäre das Ergebnis vom Juni 176 gewesen? Vielleicht der Angriff der umliegenden Staaten. Aber wäre ja nicht schlimm gewesen, dann gäbe es halt den Staat Israel nicht mehr. Und die Palästinenser hätten ihr Land zurück – das ihnen kein Tage gehört hat. Jede meiner Fragen nach dem eigenständigen Staat Palästina bekommt keine Antwort. Wie auch, nachdem es den Staat nie gab.

    Dass die Entscheidung 1967 richtig war, zeigt der 7.10.

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    1. Man verlangt auch heute noch von Juden, in vornehmer Demut und friedfertig wie die Lämmer zur Schlachtbank geführt zu werden und „ohne Schuld auf sich zu laden“ still zu sterben.
      Würde Israel sich den Erwartungen der so sehr um Frieden Bemühten und Heilsbotschaften Verkündenden fügen, um damit letztlich in der Vernichtung seiner Existenz enden, würde das bei diesen Alles-Besser-Wissenden sicherlich eine Welle des Bedauerns hervorrufen. Genauso wie jetzt bei Navalny würden sich alle darin übertreffen, sich „schockiert“, „zutiefst betroffen“ und „empört“ zu Wort zu melden – um dann wie gewohnt, mit einem Achselzucken („man kann ja jetzt nichts mehr daran ändern“), sein Tagesgeschäft und Alltagsleben fortzusetzen.
      Es ist so schön einfach, anderen zu predigen, während man selbst satt und warm in sicherer Distanz die Annehmlichkeiten des Lebens genießen kann.

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