Suche
Close this search box.

Der mit dem Teufel verhandelte

Vor 70 Jahren beginnt in Israel ein Gerichtsprozess, der die junge Gesellschaft aufwühlt: Es geht um die Scho'ah und die Rolle jüdischer Verantwortlicher darin. Alles hängt sich an einer Person auf – es kommt zum Mord.
Von Sandro Serafin

Im Jahr 1954 vollendete der moderne Staat Israel gerade einmal das sechste Lebensjahr. Viele seiner Bürger waren Überlebende der Scho’ah. Aber eine umfassende Auseinandersetzung mit dem Erlebten hatte noch nicht eingesetzt. Unangenehme Fragen standen im Raum: Wer hat warum überlebt? Warum gerade ich? Haben wir uns wie Schafe zur Schlachtbank führen lassen? Hätten wir mehr Widerstand leisten müssen? Welche Rolle spielte die jüdische Führung?

In dieser Situation nahm am 1. Januar 1954 – vor 70 Jahren – in Jerusalem ein Prozess seinen Lauf, der zu den aufsehenerregendsten Gerichtsverfahren der israelischen Geschichte zählt. Formal ging es um eine Verleumdungsklage. Faktisch wurden während des Prozesses die Scho’ah und jüdisches Überleben in der Scho’ah verhandelt.

„Der Generalstaatsanwalt Israels gegen Malkiel Ben Menachem Grünwald“ – so hieß das Verfahren offiziell, das sich alles in allem über vier Jahre hinziehen sollte. In die israelische Geschichte ging der Prozess jedoch als „Kastner-Prozess“ oder auch als „Kastner-Affäre“ ein. Aber von vorne.

Ein Flugblatt bringt die Sache ins Rollen

Malkiel Grünwald, also der Angeklagte, war eine illustre Persönlichkeit. 1882 in Ungarn geboren, kam er 1938 ins Mandatsgebiet Palästina. Im Holocaust verlor er zahlreiche Verwandte. In Israel engagierte er sich für die Misrachi, eine Bewegung aus dem religiös-zionistischen Spektrum (nicht zu verwechseln mit den „Misrachim“, den orientalischen Juden).

In seinen „Michtavim el Chaveraj beMisrachi“ (Briefe an meine Freunde von Misrachi) nahm Grünwald regelmäßig Stellung zu diversen Themen. Es war eine publizistische Tätigkeit, an die sich heute womöglich kaum einer mehr erinnern würde – hätte Grünwald nicht in einem seiner Texte einen heftigen Angriff auf einen gewissen Rudolf Kastner gefahren.

„Drei Jahre habe ich auf diesen Moment gewartet, die schändlichen Taten dieses Karrieristen offenzulegen, der von Hitlers Raub- und Mordtaten profitiert hat“, schrieb Grünwald 1952 über Kastner: „Ich halte ihn für einen indirekten Mörder an meinen geliebten Brüdern.“ 

Kastners Zug

Rudolf Israel Kastner (oder auch Rezső Kastner) war zur Zeit von Grünwalds Frontalangriff Mitglied der regierenden sozialistischen Mapai und Pressesprecher des israelischen Handelsministers. Er war 1906 im österreichisch-ungarischen Klausenburg (Cluj) in eine jüdische Familie hineingeboren worden. Während des Zweiten Weltkriegs siedelte er nach Budapest über.

Kastner wurde Vize-Chef der Zionistischen Organisation in Ungarn – und war 1943 an der Gründung des jüdischen „Hilfs- und Rettungskomitees in Budapest“ beteiligt. Im März 1944 besetzte die deutsche Wehrmacht Ungarn. Damit drohte hunderttausend ungarischen Juden die Vernichtung. Das Komitee versuchte, die ungarischen Juden durch Verhandlungen mit den Nazis davor zu bewahren. Im Raum stand etwa die Rettung von einer Million Juden im Austausch gegen unter anderem 10.000 LKWs. Daraus wurde nichts.

Kastner, der damals knapp 40 Jahre alt war und unter anderem mit Adolf Eichmann, dem Mitorganisator des Holocaust, in Kontakt stand, konnte jedoch einen anderen Deal aushandeln: Für 1.000 Dollar pro Person ließen die Nazis rund 1.700 Juden ziehen – zunächst ins Konzentrationslager Bergen-Belsen, anschließend in die Schweiz. Der Zug mit den Geretteten ging als „Kastner-Zug“ in die Geschichte ein. 

Arche Noah oder Nazi-Kollaboration?

Andere sprechen von einem „Prominenten-Zug“ – denn an Bord waren viele führende jüdische Persönlichkeiten Ungarns. Sie kamen aus ganz verschiedenen Gruppen: aus der sozialistisch-zionistischen Bewegung genauso wie aus dem orthodoxen Establishment, wie etwa der Rebbe der ultra-orthodoxen Satmarer-Gemeinschaft. Auch Familienangehörige Kastners wurden gerettet.

Kastner selbst nannte den Zug eine Arche Noah, die „einen Miniatur-Querschnitt der damals in Ungarn lebenden Juden“ abgebildet habe. Zur selben Zeit transportierten die Nazis binnen kürzester Zeit mehr als 400.000 ungarische Juden in die Konzentrations- und Vernichtungslager.

Nicht zuletzt vor dem Hintergrund dieser Zahlen – 1.700 Gerettete gegen hunderttausende Vernichtete – hielt nicht nur Grünwald das Agieren der jüdischen Führung in Ungarn für unerträglich. Das Bezirksgericht Jerusalem kondensierte seine Vorwürfe gegen Kastner auf vier Stichpunkte:

  • Kollaboration mit den Nazis
  • „Indirekter Mord“ beziehungsweise „Vorbereitung des Mords“ an den Juden Ungarns
  • Bereicherung an geraubtem jüdischem Eigentum gemeinsam mit einem NS-Kriegsverbrecher
  • Rettung eines Kriegsverbrechers vor Strafe nach dem Krieg

Letzteres bezog sich darauf, dass Kastner bei den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen unter anderem zugunsten des SS-Manns Kurt Becher ausgesagt hatte. Becher war während der deutschen Besetzung Ungarns eine wichtige Kontaktperson Kastners gewesen.

Der Ankläger wird zum Angeklagten

Grünwalds Vorwürfe gegen Kastner, immerhin ein Vertreter der israelischen Regierung, waren so monumental, dass die Regierung der Auffassung war, sie könnten nicht unwidersprochen stehenbleiben. Aus diesem Grund drängte sie auf eine Verleumdungsklage gegen Grünwald, deren Verhandlung dann im Januar 1954 begann. Nach kurzer Zeit übernahm der Generalstaatsanwalt die Führung der Anklage.

Obwohl Kastner in diesem Verfahren theoretisch der potentiell Geschädigte (nämlich Verleumdete), Grünwald hingegen der potentielle Täter (nämlich ein Verleumder) war, verdrehte sich die Konstellation schnell in ihr Gegenteil: Um die Frage nach der Verleumdung zu klären, musste das Gericht der faktischen Substanz der Vorwürfe an Kastner auf den Grund gehen.

„Dann hätte ich Widerstand geleistet“

Anders formuliert: Richter Benjamin Halevi, ein deutschstämmiger Jude, untersuchte, ob Kastner womöglich tatsächlich – wie von Grünwald behauptet – ein Kollaborateur der Nazis gewesen war. In der Folge wurden der Angeklagte Grünwald und sein Anwalt Schmuel Tamir immer mehr zu den Anklägern, und die Ankläger Kastner beziehungsweise die israelische Regierung immer mehr zum Angeklagten. 

Es standen nun die ganz großen Fragen im Raum: Welches Verhalten der jüdischen Führung während des Holocausts wäre angemessen gewesen? Hatte es eine Berechtigung gegeben, sich auf Verhandlungen mit dem NS-Regime einzulassen? Was ist jüdische Kollaboration und wie ist sie zu beurteilen? Täuschte die jüdisch-zionistische Führung die ungarischen Juden über ihr Schicksal? Betäubte sie die Juden auf diese Weise und hielt sie sie von einem veritablen Aufstand ab? 

Grünwalds Anwalt Tamir ließ unter anderem Zeitzeugen aus Kastners Heimatstadt Cluj in den Zeugenstand rufen. Er fragte sie direkt, ob sie von der jüdischen Führung über die bevorstehende Vernichtung informiert worden seien. Eine Antwort lautete: „Hätte ich das gewusst, hätte ich Widerstand geleistet. Die Ansage war, dass wir nichts zu fürchten hätten, dass wir ruhig sein sollten.“ Kastner hingegen verteidigte sich und betonte, „dass wir im Rahmen der begrenzten Möglichkeiten das uns Mögliche getan haben“.

Es ging um die Integrität des sozialistischen Zionismus

Der Prozess erhielt auch deswegen schnell große Aufmerksamkeit, weil er eine stark innen- und parteipolitische Komponente hatte, wie etwa der Historiker Tom Segev herausgearbeitet hat. Kastner war tief im sozialistischen Zionismus verwurzelt, der das Establishment des frühen Israel und auch des vorstaatlichen „Jischuw“ stellte. Er war Mitglied der führenden Partei Mapai, der auch Staatsgründer David Ben-Gurion und der ab Januar 1954 amtierende Premierminister Mosche Scharett entstammten.

Grünwald hingegen kam aus dem religiösen Zionismus. Sein Anwalt entstammte dem rechten Zionismus („Revisionismus“), den schon seit der vorstaatlichen Zeit eine tiefe Feindschaft mit der Mapai verband. Die Revisionisten warfen der sozialistischen Führung in Palästina vor, nicht angemessen auf die Vernichtung der europäischen Juden reagiert zu haben. Sowieso meinten sie, Leute wie Ben-Gurion hätten einen gefährlichen Hang zum Appeasement gehabt, nicht nur gegenüber den Nazis, sondern auch gegenüber der britischen Mandatsmacht.

Verhandelt wurde hier also weder einfach über eine Verleumdungsklage, noch ausschließlich über jüdisches Überleben während der Scho’ah. Vielmehr ging es insgesamt um die moralische Integrität des sozialistischen Zionismus, der den Staat Israel in dieser Zeit gleichsam für sich okkupiert hatte.

Uneinigkeit der Richter

Aus Sicht der Regierung endete der Prozess in einem Desaster: Im Juni 1955 wies das Jerusalemer Bezirksgericht die Verleumdungsklage fast vollständig zurück. Oder andersherum formuliert: Das Gericht hielt Grünwalds Anschuldigungen gegen Kastner (Nazi-Kollaboration et cetera) für gerechtfertigt. Es warf ihm unter anderem vor, die Opfer der Vernichtung nicht gewarnt zu haben: „Die grausame Wahrheit ist, dass der Kopf des Rettungskomitees die große Mehrheit der ungarischen Juden ihrem Schicksal überlassen hat, nur um eine Handvoll Privilegierte zu retten.“

Kastner habe „seine Seele an den Teufel verkauft“, verkündete das Urteil in einer zentralen, immer wieder zitierten Passage. Lediglich den Vorwurf, Kastner habe sich an jüdischem Eigentum bereichert, sah Richter Halevi nicht als hinreichend substantiiert an. Dafür erlegte er Grünwald dann eine symbolische Strafe von einer Lira auf. Das bedeutete nichts anderes, als dass Kastner moralisch völlig delegitimiert war.

Die Staatsanwaltschaft ließ das Urteil allerdings nicht auf sich sitzen. Sie zog vor das Oberste Gericht. Dieses rollte den Fall ein weiteres Mal auf, mit anderem Ergebnis: Alle fünf Richter gaben der Verleumdungsklage der Staatsanwaltschaft im Hinblick auf zwei Anschuldigungen Grünwalds an Kastner (Indirekter Mord und Bereicherung an Eigentum) Recht und wiesen sie gleichzeitig für eine der Anschuldigungen zurück (Rettung eines Kriegsverbrechers), wie der Jurist Ascher Maos in einem fachwissenschaftlichen Aufsatz schreibt. Vier von fünf erklärten zudem den Kollaborationsvorwurf für problematisch.

So meinte etwa Richter Schimon Agranat unter anderem, Kastner habe sich allein von dem Ansinnen leiten lassen, die größtmögliche Anzahl ungarischer Juden zu retten. Dies habe seiner moralischen Pflicht entsprochen. Die dafür von Kastner eingesetzte Methode, Kontakte zu den Nazis zu nutzen, könne auch einem Vernunftermessen standhalten: „Es kann keine kausale Verbindung zwischen seinem Verhalten und der Erleichterung der Vertreibung und Vernichtung der Juden festgestellt werden. Es sollte nicht als Kollaboration mit den Nazis angesehen werden.“

Kastner wurde ermordet

Kastner bekam von diesem für ihn entlastenden Urteil vom Januar 1958 nichts mehr mit: Anfang März 1957 ermordete eine Gruppe rechtsextremer Israelis ihn vor seiner Tel Aviver Wohnung. Am 15. März erlag er den daraus resultierenden Verletzungen. Sein Todesschütze war vor der Mordtat für den Inlandsgeheimdienst Schabak aktiv gewesen. Dies zog entsprechende Theorien zu einer staatlichen Involvierung in den Mord nach sich.

Bis heute ist Kastners Andenken in Israel umstritten. Während er den einen nach wie vor als unmoralischer Kollaborateur gilt, versuchen sich andere an seiner Rehabilitation. Zu letzteren gehört Merav Michaeli: 2018 zündete die Politikerin bei einer Holocaust-Gedenkzeremonie in der Knesset zu Kastners Ehren eine Kerze an. Michaeli ist aktuell nicht nur Vorsitzende der Arbeitspartei, also der Nachfolgepartei von Mapai. Sie ist auch Kastners Enkeltochter.

Bitte beachten Sie unsere Kommentar-Richtlinien

Schreiben Sie einen Kommentar

Offline, Inhalt evtl. nicht aktuell

Israelnetz-App installieren
und nichts mehr verpassen

So geht's:

1.  Auf „Teilen“ tippen
2. „Zum Home-Bildschirm“ wählen