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Ein „Hanswurst“, der den Massenmord organisierte

Der Eichmann-Prozess warf Fragen auf, die bis heute nachhallen – an Täter und Opfer, Deutsche und Israelis. Nicht zuletzt veränderte er die Gedenkkultur des jüdischen Staates nachhaltig. Vor 60 Jahren begannen die Verhandlungen gegen den Mitorganisator des Holocaust.
Der Eichmann-Prozess veränderte die israelische Erinnerungskultur

Menschen schauen von ihren Balkonen herab auf die Bezalel-Straße, unten stehen hunderte Interessierte an polizeilich errichteten Absperrungen. Es ist der 11. April 1961 in Jerusalem. Hier – genauer: im Beit Ha’am, dem Haus des Volkes, in einem Theatersaal – beginnt an diesem Tag der Prozess gegen Adolf Eichmann, den Mitorganisator des Holocausts. Das Interesse ist groß. Die Verhandlungen werden im israelischen Radio gesendet. Einige hundert Meter vom Prozessgeschehen entfernt bietet zudem das Kloster Ratisbonne mehreren hundert Zuschauern Platz, um sich eine Videoübertragung anzuschauen. Derweil tummeln sich im Gerichtssaal Hunderte Journalisten aus aller Welt.

Eichmann, 1906 in Solingen geboren, ein Mann ohne Schulabschluss, hatte in den 1930er- und 40er-Jahren Karriere im NS-Bürokratieapparat gemacht. Er hatte an den verschiedenen Stufen der deutschen Judenverfolgung mitgewirkt, zunächst in Wien, Prag und Berlin die forcierte sogenannte „Auswanderung“ vorangetrieben und schließlich die Massenvernichtung des jüdischen Volkes koordinieren geholfen. Nach dem Krieg konnte er untertauchen und nach Argentinien entkommen. Dort wurde er 1960 vom israelischen Auslandsgeheimdienst Mossad geschnappt und für das Gerichtsverfahren nach Jerusalem gebracht.

Hier sitzt er nun, in einem Kasten aus kugelsicherem Glas, um ihn herum drei israelische Polizisten, und wartet auf seinen Prozess. Nach umfangreichen Ermittlungen und stundenlangen Interviews hat ihn die Staatsanwaltschaft in 15 Punkten angeklagt. Ihm werden unter anderem Verbrechen gegen das jüdische Volk sowie Verbrechen gegen die Menschlichkeit zur Last gelegt. Basis ist ein israelisches Gesetz aus dem Jahr 1950 zur Verfolgung von Nazis und deren Helfern.

Eichmann, der sich während der Verhandlungen als kleines Rädchen in einem großen Getriebe darstellen wird, reibt sich nervös den Finger, presst die Lippen zusammen und wechselt ein paar Worte mit einem der Ordnungshüter. „Beit HaMischpat“ (Das Gericht), tönt um 9 Uhr eine laute Stimme durch den Saal, und die drei Richter, allesamt deutschstämmige Juden, treten ein. Eichmann steht strack.

Die „Banalität des Bösen“?

„Er sah aus wie eine gepflegte Vogelscheuche“, schreibt die „Jewish Telegraphic Agency“ am nächsten Tag. Einen „Hanswurst“ wird ihn die deutsch-jüdische Philosophin Hannah Arendt nennen. Arendt, die für den „New Yorker“ als Beobachterin nach Jerusalem gekommen ist, nutzt die Gelegenheit des Jahrhundertprozesses, um am Fall Eichmann ihre Totalitarismus-Theorie konkret zu machen. Mit der durchschlagenden These von der „Banalität des Bösen“ will sie deutlich machen, dass Eichmann ein normaler Mensch gewesen sei, der gerade als solcher zur Beteiligung am millionenfachen Massenmord in der Lage war. Diese Erkenntnis erschüttert, denn sie verhindert, dass sich die Masse der Mitläufer selbst entlastet, indem sie die Verantwortung auf einzelne vermeintliche „Ungeheuer“ abschiebt.

„Hanswurst“: Adolf Eichmann hinter kugelsicherem Glas im Jerusalemer Gerichtssaal Foto: GPO
„Hanswurst“: Adolf Eichmann hinter kugelsicherem Glas im Jerusalemer Gerichtssaal

Doch schon unter Zeitgenossen sind Arendts Beobachtungen umstritten. Bis heute werfen Kritiker ihr vor, auf Eichmanns Selbstverharmlosung hereingefallen zu sein. Die Philosophin Bettina Stangneth etwa kommt 2011 in ihrer Studie „Eichmann vor Jerusalem“ zu dem Fazit, dass der SS-Obersturmbannführer ein „fanatischer Nationalsozialist“ und keineswegs nur Bürokrat gewesen sei.

Arendt äußert sich seinerzeit auch zu den juristischen und politischen Umständen des Verfahrens und tritt mit teils scharfer Kritik an die Öffentlichkeit. Aus ihrer Sicht rutschen die Gerichtsverhandlungen bisweilen in einen „Schauprozess“ ab, in dessen Hintergrund vor allem Premierminister David Ben-Gurion als „Regisseur“ die Fäden ziehe. Sie hält es unter anderem für zweifelhaft, dass das Gericht in einer „endlosen Prozession“ Dutzende Überlebende aus Konzentrations- und Vernichtungslagern in den Zeugenstand ruft, anstatt sich etwa auf die Auswertung nüchterner Akten zu konzentrieren. Nicht nur bei ihrem Freund Gerschom Scholem trägt ihr das den Vorwurf eines „herzlosen, ja oft geradezu hämischen Tons“ ein. Arendts Buch „Eichmann in Jerusalem“ wird erst im Jahr 2000 auch ins Hebräische übersetzt.

Die Opfer im Fokus

Die Rolle der Augenzeugen ist gerade das Besondere an diesem Prozess: Anders als bei den Verhandlungen in Nürnberg ab November 1945 rücken in Jerusalem die Verfolgten selbst ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Mit ihren Schilderungen rufen sie im Gerichtssaal und weit darüber hinaus Entsetzen und Fassungslosigkeit hervor.

Generalstaatsanwalt Gideon Hausner sieht sich als Vertreter der Ermordeten: „Ich stehe hier nicht allein. Mich begleiten sechs Millionen Strafverfolger, die nicht hier stehen, mit ihrem Finger auf den Mann zeigen und sagen können: ‚J’accuse – Ich klage an!‘ Denn ihre Asche ist in Auschwitz und Treblinka verstreut, in Gräbern in ganz Europa verteilt“, erklärt er in einer der ersten Sitzungen. Als der Überlebende Jehiel De-Nur von dem „Planeten Auschwitz“ erzählt, auf dem Menschen keine Namen, keine Eltern, keine Kinder gehabt und „nicht nach den Gesetzen dieser Welt gelebt“ hätten, ringt er selbst nach Fassung. Kurz danach kollabiert der Zeuge vor laufender Kamera und wird auf einer Trage aus dem Saal gebracht.

Der Eichmann-Prozess ist über die Jahre Gegenstand zahlreicher Bücher und Aufsätze geworden. Historiker wie Tom Segev, der das Geschehen damals selbst als Jugendlicher beobachtete, haben herausgearbeitet, wie dessen opferzentrierte Struktur die israelische Erinnerungskultur verändert hat. Bis dato waren Holocaust-Überlebende mit ihren Geschichten in der Gesellschaft kaum beachtet worden. Nicht zuletzt unter Zionisten, die den Krieg von Palästina aus beobachtet hatten, war die Ansicht verbreitet gewesen, dass nur unmoralische, „schlechte“ Juden die Massenvernichtung überlebt haben konnten, nämlich durch Kollaboration in den Judenräten oder als Kapos.

Aber auch viele Überlebende sahen sich von Schuld- und Schamgefühlen gegenüber ihren getöteten Angehörigen geplagt. Gleichzeitig führte das zionistische Streben nach einem neuen, starken „Hebräer“ in Abgrenzung zu dem als hilflos gesehenen „Diaspora-Juden“ dazu, dass das Gedenken der Gründerjahre vor allem auf den Heldengeschichten wie dem Warschauer Ghettoaufstand aufgebaut wurde.

„Jetzt wissen wir es besser“

Der Prozess gegen Eichmann brach die Kategorien von „Helden“ und „Opfern“ auf, förderte das Verständnis für die Überlebenden und veränderte die gesellschaftliche Identität. Der in Palästina geborene und im sozialistischen Zionismus sozialisierte Schriftsteller Chaim Guri reflektierte laut der Historikerin Hanna Jablonka bereits im September 1961 in der Zeitung „LaMerchav“ über die Auswirkungen des Prozesses: „Wir sollten um Entschuldigung bitten, denn wir haben von außen über sie geurteilt, ohne uns zu fragen, ob wir das Recht dazu haben. […] Generalisierend haben wir behauptet, dass diese armen Seelen sich ‚wie Schafe zur Schlachtbank‘ haben führen lassen. Jetzt wissen wir es besser.“

Eichmann wird nach acht Monaten Verhandlungen und einem gescheiterten Einspruch zum Tode verurteilt, gehenkt und seine Asche über dem Meer verstreut. Die Fragen, die der Prozess gegen ihn aufgeworfen hat, hallen bis heute nach und richten sich an jeden einzelnen – es sind Fragen zu Verantwortung und Schuld in einem totalitären System.

Von: Sandro Serafin

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