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Spektakulärer Freispruch

Vor 30 Jahren hebt Israels Oberstes Gericht ein Todesurteil gegen John Demjanjuk auf. Jahre zuvor war der Ukrainer als „Iwan der Schreckliche“ von Treblinka identifiziert worden – doch den Höchstrichtern kamen Zweifel.
Von Sandro Serafin

Es war wohl einer der spektakulärsten Justiz-Fälle in der Geschichte Israels: Am 29. Juli 1993 – vor 30 Jahren – hob das Oberste Gericht in Jerusalem ein Todesurteil gegen den Ukrainer John Demjanjuk auf. Demjanjuk war 1987 vor das Jerusalemer Bezirksgericht gestellt und dort 1988 wegen Verbrechen im Holocaust verurteilt worden.

Fast fünf Jahre später dann die Rolle rückwärts durch die oberste Rechtsinstanz: Freispruch, jedenfalls im juristischen Sinn. Als Holocaust-Überlebende vor dem Gerichtssaal davon erfuhren, brachen sie in Tränen aus: „Meine ganze Familie wurde in Treblinka ermordet!“, schrie einer von ihnen, wie die „Jerusalem Post“ seinerzeit berichtet. „Was haben wir nur getan?“

Vorwurf: Nazi-Kollaborateur

Treblinka – das war jenes deutsche Vernichtungslager, um das sich in diesem Prozess Vieles gedreht hatte. Demjanjuk, so die Behauptung der Staatsanwaltschaft, sei dort als Wachmann im Einsatz gewesen, genauer: als „Iwan der Schreckliche“. So nannten Insassen einen besonders brutalen Wärter, der seinen Opfer unter anderem Körperteile abgeschnitten haben soll.

Nur: War Demjanjuk wirklich dieser „Iwan der Schreckliche“? Unbestritten ist: 1920 im westlichen Teil der Ukraine geboren, diente Demjanjuk während des Zweiten Weltkriegs in der Roten Armee und geriet in deutsche Kriegsgefangenschaft. Was aber geschah dann?

Nach dem Krieg ging er jedenfalls in die USA, wurde dort 1958 Staatsbürger, änderte seinen Vornamen von „Iwan“ in „John“ und lebte ein unauffälliges Leben – bis sein Name auf einer Liste mit angeblichen Nazi-Kollaborateuren auftauchte. Jahre später entzogen die USA ihm daher die Staatsbürgerschaft. 1986 wurde der damals 66-Jährige dann an den jüdischen Staat überstellt.

Erinnerungen an den Eichmann-Prozess

Hier klagte ihn die Staatsanwaltschaft als vermeintlichen „Iwan den Schrecklichen“ unter anderem wegen Verbrechen gegen das jüdische Volk an. Basis war das 1950 geschaffene Gesetz zur Bestrafung von „Nazis und Nazi-Kollaborateuren“, jenes Recht, mit dessen Hilfe 1961 auch SS-Mann Adolf Eichmann verurteilt worden war.

Sowieso erinnerte manches an den Eichmann-Prozess: Während dieser in einem Theatersaal stattgefunden hatte, wurde das Demjanjuk-Verfahren in einem Kinosaal verhandelt; in beiden Fällen waren TV-Kameras dabei; in beiden Fällen spielten erschütternde Aussagen von Zeitzeugen eine wichtige Rolle; und in beiden Fällen wurde nicht nur der konkrete Fall eines bestimmten Menschen verhandelt, sondern das Menschheitsverbrechen Scho’ah insgesamt.

Dramatische Szenen

Die Staatsanwaltschaft stützte sich unter anderem auf die Aussagen mehrerer Überlebender, die Demjanjuk als „Iwan den Schrecklichen“ von Treblinka identifizierten. So kam es etwa im Februar 1987 im Gerichtssaal zu einer direkten Konfrontation Demjanjuks mit dem Treblinka-Überlebenden Elijahu Rosenberg.

Bis auf einen halben Meter standen sich beide gegenüber. In dramatischen Szenen brach Rosenbergs Frau im Zuschauerraum zusammen (siehe Video auf YouTube). Der Scho’ah-Überlebende erklärte dann: „Dieser Mann ist Iwan der Schrecklich von den Gaskammern Treblinkas. Ich habe in seine mörderischen Augen gesehen.“ 1947 hatte Rosenberg allerdings in einer anderen Aussage noch behauptet, „Iwan der Schreckliche“ sei von Lagerinsassen ermordet worden.

Ebenfalls wichtig für die Argumentation der Staatsanwaltschaft war ein Ausweis mit Namen und Foto Demjanjuks, der seine Ausbildung in Trawiniki, einem SS-Lager bei Lublin, zu belegen schien. Das Schriftstück verwies außerdem auf eine Tätigkeit Demjanjuks im Vernichtungslager Sobibor – von Treblinka war dort allerdings nicht die Rede.

Schillernde Verteidigung

Die Verteidigung hingegen bestritt grundsätzlich, dass Demjanjuk als Nazi-Kollaborateur tätig gewesen wäre. Was den konkreten Vorwurf von Verbrechen in Treblinka anbelangt, so sei Demjanjuk in der Zeit, zu der dieses Lager existierte, selbst als Kriegsgefangener in Chelm interniert gewesen. Der „Trawniki-Ausweis“ wiederum sei eine Fälschung des sowjetischen Geheimdienstes KGB.

Demjanjuk wurde unter anderem durch den israelischen Anwalt Joram Scheftel verteidigt, eine schillernde Figur, die später immer wieder kontroverse Persönlichkeiten vor Gericht vertrat. Scheftel hielt Staatsanwaltschaft und Richtern vor, einen „Schauprozess“ zu inszenieren. Im Dezember 1988 kippte ihm ein Holocaust-Überlebender Säure ins Gesicht. Nur kurz zuvor war ein anderer Anwalt Demjanjuks in Jerusalem von einem Bürogebäude gestürzt – laut Polizei: Suizid.

Die Richter des Bezirksgerichts folgten der Staatsanwaltschaft und verurteilten Demjanjuk nach 15 Prozess-Monaten als „Iwan den Schrecklichen“ zum Tod durch Hängen. „Es gibt kein Wort, um diese Verbrechen zu beschreiben, und keine Strafe, die angemessen wäre“, erklärte einer der Richter. „Tausend Tode sind nicht genug.“ Nach Verkündung des Urteils brachen im Gerichtssaal Applaus und „Am Israel Chai“-Gesang („Das Volk Israel lebt“) aus – deutlich zu früh.

Neue Dokumente durch Umbruch in Osteuropa

Denn im Mai 1989 ging der Prozess vor dem Obersten Gericht in Jerusalem in die nächste Instanz. Hier nahm die Angelegenheit nun eine spektakuläre Wendung. Dem Gericht standen bei seiner Verhandlung angesichts der Umbrüche in Osteuropa neue Quellen aus der Sowjetunion zur Verfügung, die vorher nicht zugänglich gewesen waren, nun aber durch die Staatsanwaltschaft beschafft werden konnten.

Darunter waren sowjetische Protokolle von Vernehmungen mehrerer vormaliger Treblinka-Wachmänner, die „Iwan den Schrecklichen“ mit einem ganz anderen Mann in Verbindung brachten – nicht mit Demjanjuk. Damit war die These, Demjanjuk sei identisch mit dem Schlächter von Treblinka gewesen, unterhöhlt. Darauf aber hatte der Prozess vor dem Bezirksgericht im Wesentlichen beruht.

Entsprechend sahen sich die Richter dazu gezwungen, das Todesurteil gegen Demjanjuk wieder zu kassieren. Zweifel hätten begonnen „an unserem richterlichen Gewissen zu nagen“, begründeten sie die Entscheidung, hielten aber auch fest, der Fall sei „geschlossen – aber nicht vollständig“. Die Forderung einiger Holocaust-Überlebender, Demjanjuk wegen Verbrechen in Sobibor abzuurteilen, lehnte das Gericht ab.

Spätere Verurteilung in Deutschland

Nach seinem Freispruch in Israel kehrte Demjanjuk zunächst in die USA zurück, wo die Behörden weiter ermittelten. 2002 entzog ihm ein Gericht erneut die US-Staatsbürgerschaft, dieses Mal wegen einer Tätigkeit für die SS in Sobibor, über die er keine Angaben beim Erwerb der Staatsbürgerschaft gemacht habe. 2009 folgte nach jahrelangem Tauziehen die Abschiebung nach Deutschland.

Vor dem Landgericht München begann daraufhin ein Prozess, der sich aufgrund des Gesundheitszustands des Angeklagten ebenfalls in die Länge zog. Am Ende verurteilte ihn das Gericht wegen Beihilfe zu Mord an mindestens rund 28.000 Menschen in Sobibor zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren. Da Staatsanwaltschaft und Verteidigung Revision einlegten und Demjanjuk in der Zwischenzeit im Alter von 91 Jahren starb, wurde das Urteil nie rechtskräftig.

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4 Antworten

  1. Ich will nicht wissen, wie viele Mörder nach dem Holocaust noch leben, es könnten Millionen sein, die mit machten, weg sahen, mordeten, vergewaltigten, vergasten.
    @ Redaktion: Danke für einstellen des Videos. Bewegend. Danke für Ihre Berichterstattung.

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  2. Irgendwann ist ja auch mal gut. Jetzt müsste man schauen, dass sich das nicht wiederholt. Die Muhlas haben sich in die Machenschaften der Russen eingeheiratet. Daraus entsteht nichts sinnvolles. Nehmt euch in Acht. Der eine wird es auf den anderen schieben.

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  3. Wann soll es denn wieder gut sein ?
    Sollen Mörder frei herumlaufen dürfen?
    Mord verjährt nicht!

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  4. „Irgendwann ist ja auch mal gut.“
    Nichts ist gut.
    Mord verjährt nicht.
    Ich bin 1954 geboren und kenne diese widerlichen Sprüche aus meinem Umfeld zu Genüge.
    Nur wer familiär nicht betroffen ist und sich darüber hinaus nie informiert hat, bringt so eine Äusserung über die Lippen.

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