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Werk von Komponist Schittino erinnert ans Mädchenorchester von Auschwitz

Beim Schleswig-Holstein Musik Festival führt ein israelischer Dirigent ein besonderes Werk auf. Es erinnert an die Leiterin des Mädchenorchesters im Konzentrationslager Auschwitz.
Von Israelnetz

NORDERSTEDT (inn) – Es ist ein magisches Werk, das so kurz nach seiner Uraufführung in Palermo Premiere in Norderstedt hatte. Beim Schleswig-Holstein Musik Festival (SHMF) in der Moorbekhalle spielte das Festival-Orchestra unter der energiegeladenen Leitung des israelischen Dirigenten, Pianisten und Akkordeonisten Omer Meir Wellber die Sinfonische Ballade „Alma“ des italienischen Komponisten Joe Schittino, der auch im Publikum saß. Das Werk für Klarinette, Akkordeon und Orchester widmete der Komponist der Geigerin Alma Rosé, die das Mädchenorchester im Todeslager Auschwitz leitete.

Die jungen Musikerinnen, darunter auch Cellistin Anita Lasker-Wallfisch und Akkordeonistin Esther Bejarano seligen Andenkens, spielten täglich um ihr Leben. Sie mussten für die SS-Kommandantur spielen, sie mussten an der Rampe spielen, wenn Transporte mit Jüdinnen und Juden im KZ eintrafen, sie mussten spielen, wenn die NS-Schergen die Opfer ihres Rassenwahns in die Gaskammern trieben. Ihre Zugehörigkeit zum Orchester bewahrte die Musikerinnen aber vor auszehrender Arbeit, so dass viele von ihnen den Gaskammern entgingen und das Todeslager überlebten. Alma Rosé ist jedoch im April 1944 an einer ungeklärten Krankheit in Auschwitz gestorben.

Omer Meir Wellber, Residenz-Künstler des diesjährigen Festivals, übernahm den Akkordeon-Part, Alessio Vicario die Klarinette. Das Festival-Orchestra, das alljährlich neu aus jungen, hochtalentierten Musikerinnen und Musikern aus aller Welt nach einem intensiven Casting zusammengestellt wird, nahm sich der vielschichtigen Komposition Schittinos derart intensiv an, dass sie die zirka 800 Zuhörer in der Norderstedter Moorbekhalle mit der Geschichte von Alma Rosé vollends faszinierten, von Omer Meir Wellber, nun auch am Akkordeon, dirigiert.

Mit der Klarinette ging er gleich zu Beginn der sinfonischen Ballade ein inniges Duo ein. Glockenklänge frischten die teils fahlen Töne der Klarinette immer wieder auf und trieben das Stück voran, assistiert von mächtigen Paukenschlägen, die von einer erbarmungslosen Gegenwart zu erzählen schienen.

Musikstile, die in der NS-Diktatur verboten waren

In Erinnerung an die Sehnsüchte der Musikerinnen des Mädchenorchesters in Auschwitz ließ Joe Schittino immer wieder tänzerische Walzerklänge wie auf einem Dorffest in seine Musik einschwingen, aber auch Blues, Jazz und Swing – Musikstile, die in der NS-Diktatur streng verboten waren und ins KZ führen konnten.

Immer aber lässt der Komponist seinem Werk ein letztes Geheimnis, quasi als Denkanstoß auf eine ungewisse Zukunft. Zudem erhält die Ballade durch wiederkehrende Glockenklänge den Charakter einer stets fortschreitenden Zeit. Ein immer härterer Rhythmus und stärkeres Forte durch sich stetig steigernde Schläge von Großer Trommel und Pauke drängen die Dramatik zu einer fast unerträglichen Dichte, alles ist ständig in Bewegung, pendelt von gauklerischer Harmonie zu brutaler Atonalität, bis endlich zart und sanft spielende Streicher auf Erlösung hoffen lassen.

Indes – nur kurz. Es gab keine Erlösung für Alma Rosé und ihr Mädchenorchester in Auschwitz. Alma erscheint noch einmal, silbrig-samtig gespielt von der Ersten Geige des Festival-Orchesters, wie eine Traumgestalt, die über dem Horizont entschwebt – im pianissimo.

Joe Schittino, 1977 in Syrakus auf Sizilien geboren, ist mit der Hommage an Alma Rosé ein grundsätzliches Werk gelungen, ein Werk, das die Erinnerung an die Verbrechen der Welt wachhält, ein philosophisches Werk. „Meiner Ansicht nach offenbaren sich die Geschichte und die Vergangenheit in Stufen, die immer schmaler werden, bis sie mit der Gegenwart verschmelzen“, sagt der Komponist.

Spannungsgeladenes Stück eines Israelis

Diesem aufrüttelnden, streckenweise sogar schmerzenden Werk Joe Schittinos folgte die Sinfonie Nr. 1 von Paul Ben-Haim. Doch wer jetzt hoffte, der Musik wie beim Konzert für Violine, Cello und Orchester a-Moll von Johannes Brahms – klug als erstes Stück ins Programm gesetzt – dem Festival-Orchestra entspannt lauschen zu können, erlebte rasch ein sehr mitreißendes, spannungsgeladenes Gegenteil.

Der israelische Komponist Paul Ben-Haim wurde 1897 als Paul Frankenburger in München geboren und war Assistent der Dirigenten Bruno Walter und Hans Knappertsbusch. 1933 floh er vor dem NS-Rassenwahn nach Tel Aviv und nannte sich Ben-Haim. Komponierte er vor seiner Emigration noch in der Tradition von Gustav Mahler und Richard Strauss, so verarbeitete er in Israel auch geistliche und weltliche jüdische und arabische Musik. Seine Sinfonie Nr. 1 schrieb er in den ersten Jahren des Zweiten Weltkriegs, beeinflusst von dessen mörderischem Wüten.

Tiefes Blech blubbert und dräut, immer wieder tauchen Marsch-Rhythmen auf, eine Harfe setzt mystische, aber energische Akzente. Streicher drängen vorwärts, kolportieren apokalytische Klänge. Hoffnung breitet sich im zweiten Satz aus, dem Molto calmo e cantabile, und dem Festival-Orchestra gelingt ein erfrischender Klang, in den sich der feine Singsang jüdischer Gebete mischt. Nicht lange, denn mit dem Presto con fuoco schließt sich der letzte, intensivste und zwiespältigste Satz an, tanzend mit den Elementen der Hora und mit Zitaten aus dem ersten Satz, dem Allegro energico.

Dirigent Omer Meir Wellber kennt das Werk des israelischen Komponisten und setzt es genial um. Er dirigiert mit ganzem Körpereinsatz, und seine jungen Musikerinnen und Musiker folgen ihm bedingungslos.

Freundschaft als Motto

Omer Meir Wellber ist Porträt-Künstler des diesjährigen Festivals und gibt 14 Konzerte in Schleswig-Holstein und Hamburg. „Das Motto meines Festivalsommers lautet Freundschaft, und es gibt keine Musikerin oder Musiker in meinen 14 Konzerten, mit der oder dem ich nicht befreundet bin, das Festival in Schleswig-Holstein ist wie ein großer Kibbutz“, sagte der 1981 in Be’er Scheva in der Negev-Wüste geborene Pianist, Akkordeonist und Dirigent.

Zu Wellbers Musik-Freunden gehören die Geigerin Veronika Eberle, Cellist Steven Isserlis und Klarinettist Alessio Vicario. Sie übernahmen die Soli im Brahms-Doppelkonzert für Violine und Cello.

„Johannes Brahms und Paul Ben-Haim in einem Konzert, das ist vor allem für die jungen Leute im Festival-Orchester eine große Inspiration“, schwärmte Festival-Intendant Christian Kuhnt. Omer Meir Wellber dankte dem frenetischen Beifall der rund 800 Zuhörerinnen und Zuhörer auf seine Art und tanzte, auf dem Akkordeon spielend, bei der Zugabe durch den Saal. Was für ein hingebungsvoller Musiker!

Weitere Konzerte mit israelischen und jüdischen Musikerinnen und Musikern wie Omer Meir Wellber, Igor Levit bis zu Mandolinenspieler Avi Avital stehen auf der Website des Schleswig-Holstein Musik Festivals.

Von Heike Linde-Lembke

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