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Vor 50 Jahren arbeitete Israel das Jom-Kippur-Desaster auf – und heute?

1973 überraschte der Jom-Kippur-Krieg Israels Führung. Nach dem Krieg untersuchte eine Kommission das Versagen. Vor 50 Jahren stellte sie ihren Bericht vor. Ein Vorbild für die Aufarbeitung des Hamas-Massakers vom 7. Oktober?
Von Sandro Serafin

Seit der Katastrophe des 7. Oktober schwirrt ein Begriff wieder gehäuft durch israelische Debatten. Er klingt neutral, ist aber hochgradig politisch aufgeladen: der Begriff der „Konseptzia“ (zu Deutsch: Konzeption). Wer in Zusammenhang mit dem Hamas-Massaker und dem Gazakrieg von der „Konseptzia“ spricht, tut das ganz bewusst (das Schlagwort hat sogar einen eigenen hebräischen Wikipedia-Eintrag).

„Konseptzia“ beinhaltet einen bestimmten Vorwurf an die militärische und/oder politische Führung des Landes: nämlich, dass sie eben einer solchen (falschen) „Konseptzia“ angehangen und deswegen die Gefahr der Hamas übersehen habe. Die allgemeine „Konseptzia“ von Politik und Militärführung vor dem 7. Oktober sei demnach gewesen, dass die Hamas an einem Auskommen mit Israel und nicht an einer Eskalation interessiert sei.

Die Führungsebene Israels habe dann sämtliche Entwicklungen im Gazastreifen durch die Brille dieser falschen Grundannahmen interpretiert: Alle Hinweise, die es auf eine mögliche geplante Eskalation seitens der Hamas gab, habe sie im Sinne der eigenen „Konseptzia“ analysiert, sprich: nicht ernstgenommen, weil sie nicht in die vorgefassten Thesen passten.

Als Israels Führung schon einmal versagte

Die Idee, dass eine fatal-falsche „Konseptzia“ in den Abgrund führen kann, ist nicht neu. Maßgeblich geprägt wurde sie bereits vor 50 Jahren im Zusammenhang mit einer anderen Kriegskatastrophe Israels, dem Jom-Kippur-Krieg. Genauer gesagt durch die sogenannte Agranat-Kommission, die am 1. April 1974, also vor 50 Jahren, einen Zwischenbericht ihrer Arbeit vorstellte, der Israels Innenpolitik erschütterte.

Am frühen Nachmittag des Jom Kippur des Jahres 5734, nach gregorianischem Kalender der 6. Oktober 1973, hatten Ägypten und Syrien Israel in einer konzertierten Aktion überfallen. Die politische und militärische Führung hatte den Überfall nicht kommen sehen, Reservisten erst viel zu spät mobilisiert.

Syrien und Ägypten konnten den Überraschungsmoment nutzen und fügten den israelischen Verteidigungsstreitkräften schwere Verluste zu: Innerhalb der drei Kriegswochen fielen etwa 2.700 israelische Soldaten. Obwohl die Armee den Krieg recht schnell wenden konnte, war das Land traumatisiert: Das Gefühl der Unbesiegbarkeit, das sich nach den Erfolgen des Sechs-Tage-Kriegs 1967 eingestellt hatte, war gebrochen.

Untersuchungskommissionen als politisches Mittel

Unter dem Druck der Öffentlichkeit entschied die Regierung am 18. November 1973 – also gut drei Wochen nach Kriegsende –, eine staatliche Untersuchungskommission einzurichten. Solche Untersuchungskommissionen sind mit den Jahren zu einer beliebten Methode israelischer Politik geworden. Es gab sie etwa auch nach dem Libanonkrieg 1982 oder dem Libanonkrieg von 2006.

Die Jom-Kippur-Kommission war die erste, die sich mit einer militärischen Frage befasste. Ihr vom Kabinett bestimmter Auftrag bestand aus zwei Teilen: Sie sollte erstens die Informationslage vor Ausbruch des Krieges und deren Analyse durch die verantwortlichen Gremien unter die Lupe nehmen. Und zweitens sollte sie den Zustand der Armee vor Kriegsausbruch und ihr Agieren in den ersten Tagen des Krieges untersuchen.

Die Kommission setzte sich aus fünf angesehenen Persönlichkeiten zusammen: Ihr stand der Präsident des Obersten Gerichtshofs, Schimon Agranat, vor, von dem die „Agranat-Kommission“ dann auch ihren Namen hat. Mit Mosche Landau war ein weiterer Richter Mitglied, ergänzt durch den Staatsprüfer Jitzchak Nebenzahl und die vormaligen Armeechefs Jigael Jadin und Chaim Laskov.

Israelische Führung sah den Krieg erst spät kommen

In den folgenden Wochen hielt die Agranat-Kommission weit über hundert Treffen ab, lud dutzende Zeugen vor und ließ sich schriftliche Aussagen zukommen. Am 1. April 1974 dann legte sie einen ersten Teilbericht vor. Es sollten noch zwei weitere folgen, die aber im Gegensatz zum ersten Teil zunächst weitgehend unter Verschluss blieben.

Dementsprechend war es dieser erste Teilbericht, der das Bild der Öffentlichkeit sowohl von der Kommission, als auch vom Kriegsversagen als solchem maßgeblich prägte. In ihrem Bericht hielten die Kommissionsmitglieder fest, dass das Oberkommando der israelischen Armee und die politische Führung „bis in die frühen Morgenstunden“ des 6. Oktober einen Krieg nicht in Betracht gezogen hätten.

Der Bericht machte für das Versagen verschiedene Gründe aus und zog entsprechende Schlussfolgerungen. So identifizierte die Kommission etwa mangelnde Klarheit in der Verteilung von Verantwortlichkeiten, unter anderem zwischen Premierminister und Generalstabschef. Zudem empfahl sie die Einrichtung eines Sicherheitskomitees im Kabinett.

Die gescheiterte „Konseptzia“ von 1973

Mit Blick auf das nachrichtendienstliche Versagen führte der Bericht dann die Idee der „Konseptzia“ ein. Die nachrichtendienstlich Verantwortlichen hätten einer Konzeption angehangen, die aus zwei Grundannahmen bestand: Erstens, dass Ägypten keinen Krieg beginnen würde, solange es über keine ausreichende Luftwaffe verfügt. Und zweitens, dass Syrien eine Front im Norden nur parallel zu einem Angriff Ägyptens eröffnen würde.

Konkret warf der Bericht dem Chef des Militärgeheimdienstes Aman, Elijahu Se’ira, vor, seine Übernahme der „Konseptzia“ habe verhindert, dass neue Informationen mit der notwendigen Offenheit bewertet worden seien. Über den Leiter der Ägypten-Abteilung im Forschungszweig des Geheimdienstes, Jona Bendman, hielt der Bericht fest, mit ihm habe „der Glaube an die Konseptzia ihren Zenit“ erreicht.

So habe Bendman noch am 5. Oktober eine lange Liste an Anzeichen für Offensivvorbereitungen der Ägypter zusammengestellt, nur um am Ende festzuhalten: „Nach unserer besten Einschätzung gibt es keine Veränderung in der ägyptischen Grundannahme hinsichtlich des Kräftegleichgewichts mit uns. Daher ist die Wahrscheinlichkeit, dass Ägypten eine Wiederaufnahme der Feindseligkeiten anstrebt, gering.“

Viele Verantwortliche mussten gehen

Ob das Problem einer derart falschen „Konseptzia“ wirklich der zentrale Fehler vor dem Jom-Kippur-Desaster war, ist laut einer Dissertation des Historikers Nadav Gadi Molchadsky umstritten. So schrieb etwa der Historiker Jigal Kipnis vor einem Jahrzehnt in einem Buch über den Jom-Kippur-Krieg, das Scheitern des nachrichtendienstlichen „Konzepts“ sei zwar wichtig, habe aber den Entscheidungsprozess vor dem Krieg „nahezu nicht beeinflusst“.

Die Agranat-Kommission jedenfalls machte die falsche „Konseptzia“ zu einem zentralen Punkt ihrer Ausführungen. In der Folge empfahl sie diverse Konsequenzen, etwa den Posten eines Sonderberaters des Premierministers für Geheimdienstfragen zu schaffen. Insgesamt sollte die nachrichtendienstliche Analyse pluralisiert werden, um der Perpetuierung von Fehlannahmen vorzubeugen.

Foto: Michael Zarfati / IDF Spokesperson's Unit | CC BY-SA 3.0 Unported
Generalstabschef David Elasar (Mitte mit Fernglas) musste seinen Posten nach dem Zwischenbericht der Agranat-Kommission räumen

Der Bericht ging aber auch auf konkrete personalpolitische Folgen ein: Aman-Chef Se’ira, dessen Stellvertreter Arje Schalev, Ägypten-Chef Bendman, der Nachrichtenchef des Südkommandos, David Gedalja, und Generalstabschef David Elasar sollten ihre Posten verlieren.

Politik wurde verschont

Gegenüber den politischen Verantwortungsträgern erhoben die Kommissionsmitglieder hingegen keine Rücktrittsforderungen. Dies sei allein eine politische Angelegenheit, keine Sache der Kommission, lautete die Begründung. Davon abgesehen bescheinigte sie Verteidigungsminister Mosche Dajan und Premierministerin Golda Meir (beide Ma’arach) aber ein grundsätzlich angemessenes Verhalten.

Der Bericht rief kontroverse Reaktionen hervor. Viele Beobachter kritisierten, dass die Kommission zwischen der militärischen und politischen Führung unterschied und letztere dabei schonte: „Kann sich ein vernünftiger Mensch vorstellen, dass Untergebene zur Verantwortung gezogen werden, während sich ihre Vorgesetzte der Verantwortung entziehen?“, fragte etwa Oppositionsführer Menachem Begin (Likud) in einem Zeitungsartikel.

„Die Öffentlichkeit hatte Schwierigkeiten zu verstehen, wie das Kabinett angesichts eines solch kolossalen Desasters einfach so davonkommen kann, während das Militär allein die Schuld tragen soll“, erklärt die israelische Historikerin Pnina Lahav in ihrer Biographie Schimon Agranats.

Am Ende stolperte Meir über den Agranat-Bericht

Bereits vor Veröffentlichung des Berichts hatte Motti Aschkenasi, im Jom-Kippur-Krieg Kommandeur einer Befestigung am Suez-Kanal, einen Protest gegen die Regierung und den Verteidigungsminister gestartet. Ihm schlossen sich immer mehr Menschen an. Auch innerhalb des Kabinetts kam es zu kontroversen Diskussionen.

Foto: Dan Hadani collection / National Library of Israel / The Pritzker Family National Photography Collection | CC BY 4.0 International
Wurde von der Agranat-Kommission zunächst verschont: Golda Meir, hier einige Monate nach ihrem Rücktritt als Premierministerin

Schließlich wurde der Druck auf die Regierung Meir, die erst bei den Knesset-Wahlen Ende Dezember 1973 erneut eine Mehrheit hatte sichern können, zu groß. Am 11. April 1974, eine gute Woche nach dem Agranat-Bericht, trat die Regierungschefin zurück. Auf der Position folgte ihr Jitzchak Rabin, ein politisch aufstrebender Ex-General, nach, der in das Desaster von 1973 nicht verstrickt gewesen war.

Aus heutiger Perspektive wirkt das Jom-Kippur-Versagen und der Agranat-Report wie eine Blaupause für den 7. Oktober und dessen Nachwirkungen. Israel wird noch viel zu diskutieren haben über politische und militärische Verantwortlichkeiten, über Versagen von Verantwortungsträgern, über eine gescheiterte „Konseptzia“ und darüber, ob eine weitere Untersuchungskommission das alles aufarbeiten soll oder nicht.

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12 Antworten

  1. Liebe Leser, auch damals galt das Lied des Mose, keiner will und wollte es hören. Das Lied des Mose (5.Mose 32) muss uns herausfordern, wir müssen die darin enthaltenen Fragen beantworten, wenn wir weitere „Überraschungen“ verhindern wollen. Lieber Gruß Martin

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    1. Deine Ausführung greift zu kurz. Es geht in erster Linie darum herauszufinden, warum die Vorbereitungen für den Angriff übersehen und warum der Angriff erfolgreich sein konnte, so dass Terroristen wie im Urlaub auf dem Pickup in Israel herumfahren konnten…. ein Trauma….

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    2. „Der natürliche (seelische) Mensch vernimmt nichts vom Geist Gottes,..“
      Ich denke es hilft nur für die Menschen in Israel zu beten, dass sie zur Erkenntnis der Wahrheit kommen.
      Ansonsten wird es Dir in den meisten Fällen wie Lot beim Warnen seiner zukünftigen Schwiegersöhne gehen. Sie hielten die angekündigte Zerstörung Sodoms für einen Scherz.

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  2. Vor 50 Jahren arbeitete Israel das Jom-Kippur-Desaster auf – und heute? Genau das Gleiche: wer ist daran schuld wenn die anderen angreifen und töten? Immer Israel…

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  3. Was ist nur mit meinem ISRAEL los? Wenn meine Israelis maßlos enttäuscht sind, dass ihre Orthodoxen nicht von sich aus dem Staat mitteilen, dass sie auf einem Teil ihres Geldes zu Gunsten der IDF Soldaten verzichten, damit sie einen besseren Sold erhalten, weil sie nicht ehrenamtlich im Krieg Soldatenuniformen ausbessern, waschen, stärken, gesunde und schöne Nahrung für Ihre IDF bereiten und helfen die Landarbeit in der brach liegenden Landwirtschaft zu retten, Seelsorge zu leisten in dieser schweren Zeit, so kann ich diesen Zorn verstehen und ich vermisse dieses Engagement. Dennoch halte ich es für einen Fehler alle Israelis zum Dienst an der Waffe zu verpflichten, dann schon eher zu ehrenamtlicher Arbeit. Ich habe David Ben Gurion verehrt und grüße ISRAEL mit seiner Thora am Heiligen Osterfest (2. Sam 24,1.3; vgl. Ps 12,1; Ps 30,6) … ich wünsche einen baldigen Sieg und ich bete für ein geeintes und fröhliches wiederwachtes Israel!!! AM ISRAEL CHAI

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  4. Mir ist es bis heute ein Rätsel wie der Hamas dieser Terroranschlag am 7. Oktober gelingen konnte. Zumal es Warnungen gegeben hat im Vorfeld durch die USA. Und das bei dem welt weiten besten Geheimdienst. Hier sollte mal aufgeklärt werden, wer da so kläglich versagt hat.

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    1. @Monika W.
      Die Warnungen können Sie vergessen. Tatsache ist, dass Israels Geheimdienste die halbe Welt überwachen müssen.

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  5. Für mich ist die Aufarbeitung der Versäumnisse VOR dem 7.Oktober 2023 genauso wichtig wie die Fehler vor dem Jom-Kippur-Krieg. Das sollte aber NICHT davon ablenken, dass Israel und alle Israel-Freunde zur selben Zeit ebenso die vielen Israel-feindlichen Lügen, die die Weltöffentlichkeit durch HAMAS und UNO so verbreiten, bekämpft, beseitigt und für eine Israel-freundliche Welt kämpfen.
    Der Berliner Tagesspiegel hat am Karsamstag einen wichtigen Artikel veröffentlicht unter dem Titel „Hilfswerk für Terroristen“, in dem die Israelischen Belege für eine große Schuld der UNRWA dargestellt wird. Wir dürfen uns NICHT auf die Israelischen Versäumnisse vor dem 7.Oktober beschränken, wir müssen ausschütten den Geist der Wahrheit, und alles Böse der HAMAS und der UNO entlarven.
    Die Wahrheit wird siegen !

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  6. Ihr lieben Israelfreunde, so wie 9/11 inzeniert wurde so hatte die israelische Führung ebenso das Interesse, der Hamas den Krieg zu erklären! Und die Gelegenheit sie zu vernichten. Wir wissen doch , wer im Hintergrund die Fäden in der Hand hat. Unser HErr lässt das zu und möchte am Ende der Tage, noch viele Israelis aus dieser bösen Welt herauserretten. Die Juden sind Gottes Volk, aber genauso böse, korrupt, …wie alle anderen Nationen. Wir müssen uns über nichts wundern. Beten wir weiter für Israel. Chai Israel 😉

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  7. „Ihr lieben Israelfreunde, so wie 9/11 inzeniert wurde so hatte die israelische Führung ebenso das Interesse, der Hamas den Krieg zu erklären! Und die Gelegenheit sie zu vernichten.“ – Ihre Verschwörungstheorien sollten Sie besser für sich behalten, so helfen Sie Israel eher NICHT.
    Israel ist als Demokratie mit Pressefreiheit und freien Wahlen und lebendigen öffentlichen Debatten weniger korruptionsanfällig als die vielen Israel umgebenden Diktaturen. Dafür bildet die Agranat-Kommission ein historisches Beispiel.

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