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Vergebung im Mittelpunkt

Die Zeit bis zum Versöhnungstag Jom Kippur ist geprägt von Buße und der Bitte um Vergebung. Sie steht auch im Mittelpunkt des Feiertages selbst.
Von Elisabeth Hausen
Zum letzten Bußgebet kamen am Freitagmorgen etwa 20.000 Menschen an die Klagemauer.

Über Verfehlungen nachdenken und um Vergebung bitten: Diese Möglichkeit bietet die Zeit vom Neujahrsfest Rosch HaSchanah bis zum Versöhnungstag Jom Kippur für Juden. Dabei gibt es einen großen Unterschied zur christlichen Herangehensweise. In diesem Jahr fällt Jom Kippur auf den 5. Oktober.

Der Psychologe Adam B. Cohen hat sich mit dem Thema Vergebung befasst, sein Artikel ist beim Mediennetzwerk „Conversation“ erschienen. Er weist darauf hin, dass Vergeben in vielen Religionen eine zentrale Tugend sei. Damit verbinde sich auch das Mitleid.

Die ersten zehn Tage des jüdischen Jahres, von Rosch HaSchanah bis Jom Kippur, heißen auch die furchtgebietenden Tage. Gläubige Juden wenden sich an Freunde und Verwandte, denen gegenüber sie sich im vergangenen Jahr falsch verhalten haben. Sie wollen, so schreibt Cohen, mit reinem Gewissen in den Jom-Kippur-Gottesdienst gehen – und bis dahin alles ihnen Mögliche getan haben, um Gottes Urteil zu mildern. Denn am Großen Versöhnungstag entscheidet Gott, wer im Buch des Lebens eingetragen wird.

Vergebung nur bei lebenden Opfern

Nach jüdischer Lehre hat jedoch nur das Opfer das Recht, einem anderen Menschen zu vergeben. Der Missetäter sollte Reue zeigen und dreimal ernsthaft um Entschuldigung bitten. Wenn der Geschädigte die dann immer noch verweigert, gilt die Tat als vergeben, und das Opfer hat nun die Schuld auf sich geladen.

Gott kann demnach Verfehlungen zwischen Menschen nicht vergeben, wenn nicht die beteiligten Personen einander vergeben haben. Aus dieser Sicht können manche Sünden, wie die Scho’ah, nie vergeben werden. Denn die Opfer sind tot.

Hier zeigt Cohen die Unterschiede zum Christentum auf. Nach neutestamentlicher Darstellung kann Gott auch Sünden vergeben, wenn die Geschädigten tot sind – weil Jesu Tod die Sünden der Menschen gesühnt hat. Nur die Sünde gegen den Heiligen Geist ist demnach nicht vergebbar, sie wird allerdings nicht genau ausgeführt. Im Katholizismus fallen noch die sieben Todsünden in diese Kategorie.

Einem Nazi-Soldaten verzeihen?

Der Dozent der staatlichen Universität von Arizona bringt ein Beispiel aus einer Umfrage unter Juden und Christen: „Sollte ein Jude einem sterben Nazi-Soldaten vergeben, dass er Juden getötet hat, wenn er darum bittet?“ Einen solchen Fall schildert der Scho’ah-Überlebende und Nazi-Jäger Simon Wiesenthal in seinem Buch „Die Sonnenblume“.

Von den jüdischen Teilnehmern dachten viele, dass die Frage keinen Sinn ergebe. Denn ein Lebender könne nicht dem Mörder einer anderen Person vergeben. Die christlichen Teilnehmer, die alle Protestanten waren, vertraten eine andere Meinung: Die meisten stimmten der Aussage zu, Wiesenthal hätte dem Soldaten vergeben sollen.

Drei Ausdrücke für Vergebung

Drei Wörter gibt es im Hebräischen für Vergebung: slicha, mechila und kappara. Im täglichen Leben ist in Israel oft „slicha“ zu hören, wenn jemand etwa um Verzeihung bittet für ein versehentliches Anrempeln im Gedränge. Das Wort „mechila“ kann neben der Vergebung auch das Graben eines Tunnels bedeuten, wenn beispielsweise Häftlinge auf solche Weise aus einem Gefängnis entfliehen. Übertragen heißt das: Wer einem Menschen vergibt, dass dieser ihn verletzt hat, ist von der damit verbundenen Last befreit. Der Ausdruck „kappara“ wiederum ist mit „kippur“ verwandt. Die Betonung liegt hier auf der Reinigung. Durch die Vergebung ist es so, als wäre die Tat nie geschehen. Das macht Versöhnung möglich.

Manche schlachten angesichts des Jom Kippur einen Hahn. Dieser geht quasi stellvertretend für den Menschen in den Tod. Die Zeremonie trägt den Namen „Kapparot“.

Bereits in den Tagen und Wochen vor Jom Kippur bestimmen das Streben nach Umkehr und die Slichot-Gebete das jüdische Leben. Viele versammeln sich nachts an der Klagemauer und in den Synagogen, um Gott um Vergebung für ihre Übertretungen zu bitten.

Jona als Schriftlesung

Jom Kippur gilt als der Schabbat schlechthin. Von Sonnenuntergang bis Sonnenuntergang fasten Juden an diesem Tag. In der Synagoge wird das Buch Jona gelesen. Der biblische Prophet widersetzte sich Gottes Auftrag, den Menschen in Ninive eine Bußpredigt zu halten. Stattdessen bestieg er ein Schiff, das ihn möglichst weit in die westliche Gegenrichtung bringen sollte – nach Tarsis in Spanien. Doch Gott brachte ihn zur Umkehr, er predigte den Menschen in Ninive das Gericht, und sie ließen von ihren bösen Wegen ab. Die Stadt im heutigen Irak wurde nicht zerstört, weil Gott mit Gnade auf die Bußbereitschaft der Bewohner reagierte.

In der von Joel Rappel herausgegebenen hebräischen Enzyklopädie „Mo’adei Jissrael“ (Die Feste Israels) heißt es: „Der zentrale Gedanke, der im Ursprung dieses besonderen Tages steht, ist die Gnade des Schöpfers des Menschen, der ihn aufruft, Buße zu tun, und bereit ist, die Sünden desjenigen zu sühnen, der sich vor ihm reinigt.“

Zusätzliche Gebete

Die meiste Zeit des Tages verbringen Juden im Gebet. Jom Kippur ist der einzige Tag, an dem sie fünf vorgeschriebene Gebete sprechen. Ohnehin üblich sind das Abendgebet (Aravit oder Ma’ariv), das Morgengebet (Schacharit) und das Nachmittagsgebet (Mincha). Wie auch an anderen Festtagen gibt es spezielle Zusatzgebete, die unter dem Begriff „Mussaf“ zusammengefasst werden. Einzigartig ist das Ne’ila-Gebet, das nach dem Nachmittagsgebet gesprochen wird. Es verdeutlicht unter anderem, dass der Mensch sich für ein Leben nach Gottes Geboten entscheiden kann.

In 3. Mose 23,26–32 heißt es: „Und der HERR redete mit Mose und sprach: Am zehnten Tage in diesem siebenten Monat ist der Versöhnungstag. Da sollt ihr eine heilige Versammlung halten und fasten und dem HERRN Feueropfer darbringen und sollt keine Arbeit tun an diesem Tage, denn es ist der Versöhnungstag, euch zu entsühnen vor dem HERRN, eurem Gott. Denn wer nicht fastet an diesem Tage, der wird aus seinem Volk ausgerottet werden. Und wer an diesem Tage irgendeine Arbeit tut, den will ich vertilgen aus seinem Volk. Darum sollt ihr keine Arbeit tun. Das soll eine ewige Ordnung sein bei euren Nachkommen, überall, wo ihr wohnt. Ein feierlicher Sabbat soll er euch sein und ihr sollt fasten. Am neunten Tage des Monats, am Abend, sollt ihr diesen Ruhetag halten, vom Abend an bis wieder zum Abend.“

Bis zur Zerstörung des Zweiten Tempels im Jahr 70 nach der christlichen Zeitrechnung betrat der Hohepriester am Jom Kippur das Allerheiligste. Er opferte einen Ziegenbock und schickte einen zweiten in die Wüste, nachdem er ihn symbolisch mit den Sünden des Volkes Israel beladen hatte. Nach dem Verlust des Heiligtums in Jerusalem ersetzten jüdische Gelehrte das Opfer durch Gebete. Viermal wirft sich ein Jude am Versöhnungstag zu Boden. Sonst wird im Stehen gebetet.

Viele Juden tragen an dem Fasttag weiße Kleider. Das erinnert auch an den Tod, der jederzeit eintreffen kann. In der Textsammlung, die dem Talmud zugrunde liegt, der Mischna, heißt es: „Kehre einen Tag vor deinem Tod um“ (Sprüche der Väter 2,10). Da niemand seinen Todestag kennt, enthielt dieser Satz die Aufforderung, jeden Tag so zu leben, als würde man am nächsten Tag sterben. Die einheitliche Kleidung soll zudem die Einheit des Volkes betonen.

Schofarklänge zum Ende des Feiertages

Wie in der Bibel geboten, steht das öffentliche Leben in Israel an diesem Tag still. Deutlich mehr noch als an einem gewöhnlichen Schabbat verzichten Juden auf das Autofahren, außer in Notfällen. Die freien Straßen bevölkern Kinder mit Fahrrädern, Skateboards und Rollschuhen. Säkulare Onlinezeitungen teilen mit, sie würden ihre Berichterstattung nach dem Ende des Fastens wiederaufnehmen. Selbst viele Juden, die sich als weltlich einstufen, gehen am Jom Kippur in die Synagoge und fasten.

Das traditionelle Widderhorn, der Schofar, verkündet das Ende des Feiertags. Gott besiegelt in diesem Augenblick nach jüdischer Auffassung sein Urteil über das weitere Leben der Betenden. Wie auch am Schabbat kennzeichnet das Havdala-Gebet, das zwischen Heiligem und Weltlichem trennt, den Beginn des Alltags. Nun beginnen die Fastenden wieder mit Essen und Trinken. Manche fangen schon an, die Laubhütte für das bevorstehende Sukkot-Fest zu bauen.

Jom-Kippur-Krieg: Überraschungsangriff am Fasttag

Vor 49 Jahren, am 6. Oktober 1973, griffen arabische Truppen während des hohen Feiertages Israel an. Trotz der Überraschung konnten die Israelis den Krieg am Ende für sich entscheiden. Er ging als Jom-Kippur-Krieg in die Geschichte ein. Araber nennen ihn „Oktoberkrieg“.

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4 Antworten

  1. Die Hessische SPD hat uns Juden zu Jom Kippur gratuliert und dazu ein Foto der Al Aqsa Moschee gepostet.
    Dummheit oder Absicht?

    1
    1. Wahrscheinlich Dummheit. Schließlich ist der Tempelberg mit seinen beiden Moscheen ja ein Wahrzeichen. Und oft genug auf Bildern zu sehen. Wenn man Judentum und Islam nicht auseinander halten kann, kommt so was dabei raus.

      Das erinnert mich an die Aussage von Nahles, die auch Gemeinsamkeiten Deutschlands mit der Fatah sah.

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  2. Der Prophet Jesaja schreibt: „So kommt denn und lasst uns miteinander rechten, spricht der Herr. Wenn eure Sünde auch blutrot ist, soll sie doch schneeweiß werden, und wenn sie rot ist wie Scharlach, soll sie doch wie Wolle werden. Wollt ihr mir gehorchen, so sollt ihr des Landes Gut genießen. Weigert ihr euch aber und seid ungehorsam, so sollt ihr vom Schwert gefressen werden; denn der Mund des Herrn sagt es“ (Jes. 1,18-20).
    Ohne das Blut Jesu ist keine Vergebung möglich! Dieses Liebesangebot Gottes, durch seinen Sohn Jesus abzulehnen ist gleichermaßen dramatisch für alle Menschen (Juden und Heiden).
    Wie wunderbar ist es doch, die Erfahrung zu machen, dass das Blut Jesu reinigt und heiligt.
    Lieber Gruß, Martin

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