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Eine Minderheit ganz groß

Erstmals hat es ein israelisches Dorf auf die Tourismusliste der Vereinten Nationen geschafft. Die Bewohner gehören einer muslimischen, aber nicht arabischen Minderheit an. Wer sind die Tscherkessen?
Von Israelnetz
Tscherkessen in Israel: Tänzer

In engen Gassen schiebt sich der Bus durch den galiläischen Ort, der nur fünf Kilometer nördlich vom Berg Tabor liegt. Kfar Kama zählt etwa 3.300 Einwohner und ist eines von zwei Dörfern in Israel, deren Bewohner Tscherkessen sind. Diese Volksgruppe stammt aus dem Kaukasus.

Im örtlichen Kulturzentrum bietet Aibek Napso Schwarztee an, dazu mit Käse gefüllte Teigtaschen. Gastfreundschaft wird bei Tscherkessen groß geschrieben. In dem Dorf befindet sich eine Reihe von Restaurants. Napso kokettiert mit dem Umstand, dass er ein echter Sabre sei – ein Israeli, der im Land geboren ist. „Niemand sieht mir an, dass ich Tscherkesse bin. Ich lebe bereits in fünfter Generation hier. Oft fragen mich Leute, welche Sprache ich spreche oder woher ich komme. Dann sage ich oft, dass ich einen finnischen Akzent habe – das erspart lange Erklärungen.“

Die Eigenbezeichnung der Tscherkessen lautet „Adyge”. Das bedeute „ein edler Mensch beziehungsweise jemand, der immer nach dem Besten strebt“, erklärt Napso. „Im Kaukasus leben mehr als 60 verschiedene ethnische Gruppen. Jede hat ihre eigene Sprache und Dialekte. Allein wir Adyge sprechen in unseren Stämmen zwölf verschiedene Dialekte.”

Eine Sprache mit Lautmalerei

Die Sprache heißt Adygeisch und ist stark durch Lautmalerei geprägt. „Jeder Konsonant hat eine besondere Bedeutung. Unsere Sprache kennt kein Geschlecht.“ Napso grinst verschmitzt: „Aber man muss wachsam sein. Wenn ich mich an meine Frau wende und das Wort für ‚Ehepartner‘ falsch betone, kann sie schnell mal ‚Kopfschmerz‘ verstehen.“ Dass die Familie eine große Rolle spielt, wird deutlich, wenn es um die Anrede der Schwiegereltern geht. Napso erzählt: „Der Schwiegervater wird mit ‚König‘ angesprochen, die Schwiegermutter aber mit einem Wort bezeichnet, das einen Begriff nennt, der zwischen ‚Königin‘ und ‚Göttin‘ liegt.“

Tscherkessen Kfar Kama Foto: Israelnetz/mh
Auch junge Tscherkessen sind traditionsbewusst
Tscherkessen Kfar Kama Foto: Israelnetz/mh
Die typischen Tänze sind auch über Landesgrenzen hinaus bekannt

Adygeisch wurde als Schriftsprache erst Mitte des 19. Jahrhunderts eingeführt. 1917 entstand mithilfe arabischer Buchstaben ein Alphabet. Erst seit 1938 hat sich das kyrillische Alphabet durchgesetzt.

Schätzungsweise gibt es heute drei bis vier Millionen Tscherkessen weltweit. „In Deutschland sind es etwa 50.000. Einer von ihnen ist (der Grünen-Politiker und Bundeslandwirtschaftsminister) Cem Özdemir. In Israel ist der Kapitän der Fußballnationalmannschaft, Bibras Natcho, ein bekanntes Gesicht“, erzählt Napso. Der Großteil ist jedoch in der Türkei angesiedelt.

„Der Rest meines Volkes lebt zerstreut in mehr als 50 Ländern, doch viele von ihnen sprechen die Sprache nicht. Bei uns aber“, ergänzt er stolz, „sprechen alle Adygeisch. Und das, obwohl wir im Ort keine weiterführende Schule haben und viele die Sprache nicht lesen und schreiben können.“ Die Tscherkessen würden innerhalb der Gemeinschaft auch über Ländergrenzen hinweg heiraten. „Nur nicht nach Syrien, wegen der politischen Situation.“

Tänze mit Tradition

„Eine der letzten Traditionen, die wir Tscherkessen uns über die Landesgrenzen hinweg erhalten haben, ist das Tanzen“, erzählt die 19-jährige Nafna fröhlich. „Manchmal ist der Tanz die einzige Möglichkeit, mit anderen Tscherkessen in der Welt zu kommunizieren. Nicht jeder spricht Tscherkessisch, aber wir alle tanzen zusammen.“

Napso hat vier junge Leute aus dem Ort in den Hof des Kulturzentrums eingeladen, die in traditioneller Kleidung eine Tanzdarstellung bieten – die Frauen tragen Schleier und ein langes fliegendes Kleid, die Männer eine Fellmütze und traditionelle Militäruniform, in der neben einem Dolch auch Patronenhülsen stecken. Als Paare tanzen sie zur Musik, die aus Lautsprechern erschallt. In ihren Ballettschuhen scheinen die Tänzer über die Fliesen des Innenhofes zu schweben.

Es sind vor allem Tänze, die zeigen, wie umeinander geworben wird: Die Männer bewegen sich schnell und fordernd, werbend und lockend – die Frauen sind sich ihrer Wirkung bewusst und wenden sich mal ab, mal tanzen sie bestätigend dem Partner entgegen.

Foto: Israelnetz/mh
Auf ihre traditionellen Kostüme sind die Tscherkessen besonders stolz

Die Tänzer gehen gewöhnlichen Berufen nach: Jachja studiert Elektrotechnik, Nafna möchte Zahnärztin werden. Im Alltag trägt sie ein Kopftuch, das Tanzkostüm ist entsprechend angepasst. Im Alltag – außerhalb des Ortes, in Beruf, Schule und Universität – verständigen sich die jungen Leute auf Hebräisch. Nafna erzählt: „Doch wenn wir unter uns sind, sprechen wir Tscherkessisch.“ In fließendem Englisch fügt sie lächelnd hinzu: „Beim Texten tippen wir Tscherkessisch mit hebräischen Buchstaben.“

Auszeichnung für kulturelles Bewusstsein

Im vergangenen Dezember hat Kfar Kama es auf die Liste der Vereinten Nationen zum „besten Touristendorf“ geschafft und ist dort der erste israelische Ort überhaupt.

Nur 18 Länder weltweit können den UN-Titel aufweisen. Nira Fisher vom Tourismusministerium erklärt, wie es dazu kam, dass Israel unter ihnen ist: „Wir bekamen 15 Bewerbungen zur Teilnahme aus dem ganzen Land. Letztlich haben wir dann drei Orte bei den UN eingereicht: Kfar Kama, den Moschav Zippori (Sepphoris) und den Kibbutz Neot Smadar.“ Insgesamt hätten 57 Länder mehr als 130 Bewerbungen eingereicht, 32 bekamen die Auszeichnung „Bestes Touristendorf“. Diese bringt zwar kein Preisgeld mit sich, verspricht aber Zulauf von Touristen.

„Ganz wichtig für die Auszeichnung ist der kulturelle Aspekt“, weiß Fisher. Die Auszeichnung will vor allem ländliche Reiseziele würdigen, die Tourismus zur Entwicklung der Region nutzen und neue Beschäftigungs- und Einkommensmöglichkeiten bieten. Der Fremdenverkehr in den ausgezeichneten Orten soll den hier lebenden Menschen Gewinn bringen – und nicht den großen Firmen. Auch soziale und Umwelt-Aspekte werden bei der Auswahl berücksichtigt.

Das Dolch-Dorf

Dass Straßen dreisprachig ausgeschildert sind, ist in Israel die Regel. Doch während normalerweise auf Hebräisch und Arabisch die englische Bezeichnung folgt, ist sie in Kfar Kama kyrillisch. Dass die hebräische Sprache für die Bewohner Teil des Alltags ist, wird an den vielen Wortspielen deutlich, die sich überall in dem Ort finden. „Kama sol“ ist etwa der Name eines Supermarktes – auf Hebräisch „Wie günstig!“, doch auf Adygeisch bedeutet der Ortsname Kama einfach „Dolch“. Auch die Ausstellungsstücke im Museumsgebäude des späten 19. Jahrhunderts weisen auf mutige Kämpfer hin.

Foto: Israelnetz/mh
Bis heute ist ein Dolch elementarer Teil des männlichen Tanzkostüms

Aibek Napso beschreibt das Leben im Ort wie den Himmel auf Erden: „Wo in der Welt ist es möglich, ein fünfjähriges Kind abends um 9 Uhr allein zum Supermarkt zu schicken?“ Auch sonst gebe es für die Einwohner gute Bedingungen. „Für ältere Menschen verteilen wir 200 Mahlzeiten pro Woche. Paare müssen sich bei einer Hochzeit nicht verschulden, weil jeder Gast anteilig mindestens den Betrag schenkt, den die Ausrichtung des Festes kostet. Junge Leute unterstützen wir finanziell bei ihrem Studium.“

Tscherkessen in Israel: Fahne Flagge Foto: Israelnetz/mh

Auf grünem Untergrund zeigt die Flagge der Tscherkessen zwölf Sterne, die in gelber Farbe kreisförmig aufgedruckt sind. Darunter sind drei Pfeile. Die grüne Farbe steht für die Natur und ist Symbol des Islam. Die Sterne stehen für Gleichberechtigung und für die zwölf tscherkessischen Stämme. Das Gelb steht für Gold, das niemals seinen Wert verliert.

Einen ähnlich guten Zusammenhalt der Dorfgemeinschaft gebe es vielleicht auch in anderen Ländern. „Doch wir haben hier einfach gute Bedingungen, weil Universitäten, Krankenhäuser und andere Arbeitsplätze nicht weit entfernt sind.“ Dass jemand aus dem Ort wegziehe oder auswandere, komme selten vor. „Juden fällt vor allem auf, wie sauber es hier ist. Araber stellen überrascht fest, dass wir Muslime sind. Unsere Frauen heiraten sie trotzdem nicht, weil diese bei uns eben gleichberechtigt sind.

Solidarisch zum Heimatland

Die innenpolitischen Auseinandersetzungen in seinem Heimatland betrachtet Napso nüchtern: „Für uns macht es keinen Unterschied, welche Regierung im Amt ist. Der Konflikt geschieht zwischen Arabern und Juden. Aber natürlich leben wir in einer gewissen Spannung, vor allem wenn es wieder Auseinandersetzungen in und um die Al-Aqsa-Moschee gibt. Denn einerseits bin ich Muslim. Andererseits sind es oft die Araber, die provozieren.“ Mit einer wegwerfenden Handbewegung deutet er an, dass er sich mit solchen Provokationen nicht identifiziert. Er träumt von einem tscherkessischen Staat, doch solange er hier wohnt, ist er loyaler Israeli.

Der Tag der nationalen Trauer

Mitte des 19. Jahrhunderts ließ der russische Zar rund eineinhalb Millionen Tscherkessen ermorden. Die Überlebenden flohen in die Türkei, nach Ägypten und Syrien. In den 1870er Jahren gelangte auch eine Abordnung nach Kfar Kama – und blieb.

„Weil wir einen guten Ruf als Kämpfer haben, stellten uns die jüdischen Einwanderer zu Beginn des 20. Jahrhundert gern als Wächter an.“ 1948 entschied sich die tscherkessische Gemeinschaft für den Kampf an der Seite der Juden, seitdem absolvieren ihre jungen Leute standardmäßig den Wehrdienst. „Die Olympischen Spiele 2014 im russischen Sotschi wurden auf den Massengräbern unserer Vorfahren ausgetragen“, erzählt Napso.

Die schrecklichen Ereignisse im Jahr 1864 bezeichnen die Tscherkessen als „die Katastrophe. In Erinnerung daran begehen sie seit 1990 am 21. Mai ihren eigenen Tag nationaler Trauer. Bereits 2011 hat Georgien den Völkermord anerkannt, Großdrucke der Dokumente sind an den großen Wänden im Kulturzentrum aufgehängt.

Sowohl Aibek Napso als auch der Bürgermeister Sakaria Napso betonen die gute Zusammenarbeit mit dem israelischen Kultur- und Tourismusministerium. „Wir sind nicht allein auf dem Weg, sondern haben wichtige Partner.“ Beide sind überzeugt: „Wir sind in der israelischen Gesellschaft integriert und haben eine lange Geschichte.“ Genau deshalb wünschen sie sich vom jüdischen Staat auch eine Anerkennung des eigenen Leidens. (mh)

Israelnetz Magazin

Dieser Artikel ist in einer Ausgabe des Israelnetz Magazins erschienen. Sie können die Zeitschrift hier kostenlos und unverbindlich bestellen. Gern können Sie auch mehrere Exemplare zum Weitergeben oder Auslegen anfordern.

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Eine Antwort

  1. Meines Wissens ist die winzige Minderheit der israelischen Tscherkessen bis zu viersprachig (Tscherkessisch klar, Iwrit logo, arabisch wegen der Nachbarn auch und English sowieso). Und sie geht wie die Drusische selbstverständlich zu IDF.

    Obschon sie mehr oder minder Muslime sind, kann also Integration sehr leicht funktionieren

    In der *Jüdischen Allgemeinen* war Februar 2023 ein lesenswerter Bericht über sie. Bei Bedarf googlen.

    3

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