Spirituelle Übergangsphase zur Zeit der Gerstenernte

Die Omerzeit ist in der jüdischen Tradition eine Phase der Trauer. Ein Freudenfest unterbricht sie am 33. Tag.
Von Gundula Madeleine Tegtmeyer

Das Omer-Zählen vom zweiten Abend des Pessach-Festes bis Schawuot hängt eng mit dem landwirtschaftlichen Jahresrhythmus zusammen. Denn in diese Zeit fiel sowohl der Beginn der Gerstenernte als auch das Ende der Weizenernte, wenn die Garben gezählt wurden.

Im traditionellen Judentum gilt die Omerzeit als eine Trauerphase, da sich verschiedene Katastrophen des jüdischen Volkes jähren, wie etwa der gescheiterte Bar Kochba-Aufstand gegen die Römer (132–135) und die Pogrome während der Kreuzzüge des 11. Jahrhunderts. So sollen in dieser Periode der 49 Tage keine freudigen Ereignisse begangen werden, mit einer Ausnahme: Lag BaOmer.

Das Wort „Omer“ bezieht sich sowohl auf eine biblische Maßeinheit für Getreide als auch auf den 49-tägigen Zeitraum zwischen Pessach und Schavuot, bei dem dieses Maß im Tempel als Opfer dargebracht wurde. Der Begriff wird auch für den Prozess des Zählens dieser 49 Tage verwendet. 

Omer bedeutet wörtlich „Garbe” und bezieht sich auf diese frühen Opfergaben. Die Tora schreibt im 3. Buch Mose 23,15–16 die Zählung der sieben Wochen nach Pessach vor: Und ihr sollt für euch zählen von dem Tag nach dem Sabbat, von dem Tag, an dem ihr die Garbe fürs Schwingopfer gebracht habt: Es sollen sieben volle Wochen sein. Bis zum andern Tag nach dem siebten Sabbat sollt ihr fünfzig Tage zählen. Dann sollt ihr dem HERRN ein neues Speisopfer darbringen. (Elberfelder Bibel)

Prozess des Übergangs

An Pessach feiern wir Juden und Jüdinnen die Befreiung aus der Sklaverei in Ägypten. Schavuot markiert den Höhepunkt des Befreiungsprozesses, den Empfang der Tora, als die Juden zu einer autonomen Gemeinschaft mit eigenen Gesetzen und Normen wurden. Das Zählen bis Schavuot erinnert uns an diesen Prozess des Übergangs.

In ihrem biblischen Kontext scheint diese Zählung zunächst das erste Getreideopfer mit dem Opfer zu verbinden, das auf dem Höhepunkt der Ernte dargebracht wird. Als der Feiertag Pessach mit der Übergabe der Tora und nicht nur mit der Feier der landwirtschaftlichen Ernte verbunden wurde, begann die Omer-Zeit, die thematische Verbindung zwischen Pessach und Schavuot zu symbolisieren.

Das Zählen des Omer beginnt in der zweiten Pessach-Nacht, es wird jeden Abend nach Sonnenuntergang praktiziert und in der Regel an das Ende des Ma‘ariv, des Abendgebets, angehängt. Stehend beginnen die Gläubigen mit folgendem Segensspruch: Baruch ata Adonai, Eloheinu, melech ha-olam, ascher kideschanu be-mizwotaw, we-ziwanu al sefirat ha-omer. Das heißt auf Deutsch: Gesegnet seist Du, Ewiger, unser Gott, König der Welt, der uns durch Seine Gebote geheiligt und uns befohlen hat, das Omer zu zählen.

Tage und Wochen zählen

Nach dem Segen sagt man den entsprechenden Tag der Zählung. Nach den ersten sechs Tagen zählen Juden zudem auch die Anzahl der Wochen, die sie bislang gezählt haben. Zum Beispiel: Ha-jom scheloscha assar jom, sche-hem schavua echad we-schischa jamim la-omer. Auf Deutsch: Heute sind 13 Tage, das sind eine Woche und sechs Tage des Omers.

Die Einbeziehung sowohl des Tages als auch der Woche geht auf einen rabbinischen Diskurs zurück, ob die Tora das Zählen von Tagen oder Wochen vorschreibt. Denn einerseits weist der biblische Text an: Du sollst 50 Tage zählen, andererseits heißt es im Text auch: „Zähle … sieben volle Wochen. Die Gelehrten einigten sich auf den Kompromiss, sowohl Tage als auch die Wochen zu zählen.

Eine rabbinische Debatte befasst sich mit der Frage, ob es eine zusammenhängende Mizwa gibt, sieben Wochen und 50 Tage zu zählen, oder ob jede Nacht des Zählens eine eigene Mizwa darstellt. Da es das Verbot gibt, einen Segensspruch „umsonst“ zu rezitieren, also nicht mit dem Ziel, eine Mizwa zu erfüllen, war diese Debatte von Relevanz.

Die jüdischen Gelehrten kamen zu folgender Übereinkunft: G#be es eine separate Mizwa, dass jede Nacht zu zählen ist, hätte das Versäumen einer Nacht keinen Einfluss auf die Zählung der folgenden Nächte. Gibt es jedoch eine kollektive Mizwa, den gesamten Zeitraum zu zählen, dann beeinträchtigt das Versäumen einer Nacht die gesamte Zählung.

Vergessenes Omerzählen nachholen

Eine Person, die vergessen hat, das Omer in einer bestimmten Nacht zu zählen, darf sie am nächsten Morgen ohne Segensspruch zählen und kann dann in dieser Nacht, wie gewohnt – mit Segensspruch – weiterzählen. Hat jemand jedoch in der Nacht sowie am drauffolgenden Morgen vergessen, das Omer zu zählen, sollte er in jeder folgenden Nacht weiter zählen, allerdings ohne den Segen davor zu rezitieren.

Die Kabbalisten, die jüdischen Mystiker, betrachten die Omer-Zeit als Zeit der spirituellen Reinigung und Vorbereitung auf den Empfang der Tora an Schavuot. Das Omerzählen ist eine Zeit der persönlichen Charakterreifung, basierend auf den kabbalistischen Sefirot – den sieben der zehn Charaktereigenschaften, die für die Menschheit von Bedeutung sind – um ein besserer Mensch zu werden, der des g´ttlichen Bundes würdig ist.

Sieben Charaktereigenschaften

Die Sefirot stehen in der jüdischen Mystik, der Kabbala, für die göttlichen Emanationen, die die Manifestation der göttlichen Kraft symbolisieren und den kabbalistischen „Baum des Lebens“ bilden. Sie sind die Prinzipien, durch die Gott die Welt erschafft und mit ihr in Beziehung steht.

Die sieben Charaktereigenschaften sind: Chessed – Wohltat; Gewura – Entschlossenheit, Tiferet – Ruhm in den Augen G’ttes – die Synthese von Wohltat und Entschlossenheit; Nezach – Ewigkeit – der ewige Wert des göttlichen Gesetzes; Hod – Ruhm in den Augen der Menschen – die Macht der sozialen Beziehungen; Jessod – Fundament – die Kraft des Festhaltens; und Malchut – Majestät – den Namen G’ttes in diese Welt bringen.

Jede der sieben Wochen ist einer dieser Charaktereigenschaften gewidmet, ebenso wie jeder Tag innerhalb der Woche. Das zeigt die Beziehung und ständige Wechselwirkung zwischen ihnen. Jeder Tag kann der Entwicklung dieser Charaktereigenschaften gewidmet werden.

Diese Eigenschaften werden auch mit den „Sieben Hirten“, den sieben Vorvätern der jüdischen Tradition, in Verbindung gebracht: Chessed – Avraham, der erste der Vorväter und Inbegriff von Wohltat und Gastfreundschaft; Gewura – Jizchak (Isaak); Tiferet – Jaakow, der dritte der Vorväter; Nezach – Mosche, der das jüdische Volk in die Freiheit führte; Hod – Aharon, Bruder von Mosche und erster Hohepriester; Jessod – Josef, Sohn von Jakob und Vizekönig von Ägypten; Malchut – David, der Inbegriff eines jüdischen Königs und  Vorläufer des Messias.

Die Tage und Wochen des Zählens repräsentieren verschiedene Kombinationen der Sefirot, der g´ttlichen Emanationen, die Kontemplation über sie führt zur Reinheit von Geist und Seele.

Freudenfest unterbricht Trauertage

Unterbrochen wird die kontemplative und ernste Zeit des Omerzählens an Lag BaOmer, ein sogenannter kleiner Feiertag, der am 33. Tag des Omer begangen wird. Er ist der einzige Tag während der Omerzeit, an dem das jüdische Gesetz Hochzeiten, das Entfachen von Lagerfeuern und das Haareschneiden erlaubt. Dafür gibt es verschiedene Erklärungsversuche.

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Der Omer ist eine Zeit der Halbtrauer, in der Feierlichkeiten verboten sind. Als Zeichen der Trauer schneiden sich gläubige Juden nicht die Haare. Die am häufigsten zitierte Erklärung für diesen jüdischen Brauch findet sich im Talmud. Dort heißt es, dass Tausende von Rabbi Akivas Schülern an einer Seuche starben, weil sie einander nicht respektvoll behandelten, (Jevamot 62b). Eine Interpretation lautet, dass die Trauer der Erinnerung an diese Schüler gilt.

Einer mittelalterlichen Überlieferung nach endete die Seuche an Lag BaOmer. Die hebräischen Buchstaben Lamed und Gimel, aus denen das Akronym „Lag“ besteht, ergeben zusammen den Zahlenwert 33. Lag Ba’omer wurde zu einem Freudentag, der die Traurigkeit des Omer für einen Tag unterbrach.

Hoffnung auf politischen Sieg gesetzt

Die talmudische Erklärung ist im historischen Kontext betrachtet am plausibelsten. Rabbi Akiva (etwa 40–137 nach der Zeitrechnung) gehört zu den bedeutendsten Vätern des rabbinischen Judentums und zählt zu den Tannaim. Die Lehren dieser Gesetzeslehrer bilden den Inhalt der Mischna, die im zweiten Jahrhundert von Yehuda HaNasi zusammengestellt wurde. Akiva war ein glühender Anhänger Simeon Bar Kosevas, genannt Bar Kochba, der ab 132 einen erbitterten, aber erfolglosen Aufstand gegen die römische Herrschaft in Judäa anführte.

Akiva setzte nicht nur seine Hoffnungen auf einen politischen Sieg über Rom, sondern glaubte auch, Bar Kochba sei der lang erwartete Messias. Viele seiner Schüler unterstützten den Aufstand und wurden nach dessen Scheitern zusammen mit Tausenden von Judäern getötet.

Die talmudischen Rabbiner litten weiterhin unter der römischen Herrschaft und hielten sich aus Furcht mit öffentlichen Bezugnahmen auf vergangene Aufstände zurück. Sie könnten auf die Todesfälle angespielt haben, als sie von einer Seuche unter Akivas Schülern sprachen.

Rabbi Akiva zählt zu den Zehn Märtyrern, die unter dem römischen Kaiser Hadrian getötet wurden. Akiva wurde am Vorabend des Versöhnungstages Jom Kippur in der Stadt Cäsarea von den Römern im Hippodrom zu Tode gefoltert. Während seines Martyriums rezitierte er die letzten Worte eines Juden, das Schma Israel, das Bekenntnis des Glaubens an den einen G`tt: „Höre, Israel, Gott ist unser Gott; Gott ist einer.“

Überleben in einer Höhle

Ein möglicher anderer Grund für den Feiertag geht auf einen der wenigen Schüler Rabbi Akivas zurück, der den Bar-Kochba-Aufstand überlebte: Rabbi Schimon Bar Jochai. Er soll am Lag BaOmer gestorben sein.

Rabbi Schimon widersetzte sich den römischen Herrschern auch nach Bar Kochbas Niederlage, musste fliehen und verbrachte viele Jahre in Einsamkeit. Der Legende nach fristeten er und sein Sohn Eleasar ihr Dasein zwölf Jahre in einer Höhle, wo sie von einer wundersamen Quelle und einem Johannisbrotbaum versorgt wurden, während sie ihre Tage mit Lernen und Beten verbrachten (Babylonischer Talmud, Schabbat 33b).

Als sie nach vielen Jahren der Askese und Isolation schließlich wieder hervorkamen, verachtete Schimon alle praktischen Tätigkeiten und bestand darauf, dass sich die Menschen ausschließlich dem Studium widmen sollten. Dies erzürnte G´tt. Er sperrte die beiden für ein weiteres Jahr in ihre Höhle und beschuldigte Schimon, mit seiner strengen Askese die Welt zu zerstören.

Rabbi Schimons Haltung fand bei den Mystikern so großen Anklang, dass die Tradition ihm den Sohar zuschreibt, das Schlüsselwerk der Kabbala. Kritische Gelehrte führen das Buch hingegen auf den spanischen Kabbalisten Moses de Leon (13. Jahrhundert) zurück.

Freudenfeuer und erster Haarschnitt

In Israel strömen am Lag BaOmer die Menschen an Schimon Bar Jochais Grab im Dorf Meron nahe Safed, wo sie Freudenfeuer entzünden und kabbalistische Hymnen singen.

Chassidische Juden, eine im 18. Jahrhundert in Osteuropa entstandene orthodoxe mystische Strömung, pflegen den minhag (Brauch), ihre dreijährigen Söhne zum ersten Haarschnitt nach Meron zu bringen. Dieser Brauch – eine Zeremonie namens „Upsheren“ – ist wahrscheinlich eine Erweiterung des Gesetzes, das das Pflücken der Früchte eines neu gepflanzten Baumes in seinen ersten drei Jahren verbietet. Einige Bibel-Experten führen Lag BaOmer auf die Freude über das Manna zurück, das die Israeliten in der Wüste ernährte und erstmals am 18. Ijar vom Himmel fiel.

In diesem Jahr feiern Juden und Jüdinnen Lag BaOmer am 16. Mai, was im hebräischen Kalender dem 18. Ijar 5785 entspricht. Auch wenn die Ursprünge nicht eindeutig geklärt sind, hat sich Lag BaOmer als ein beliebter Feiertag etabliert.

Vielerorts kommen Familien und Freunde zu Picknicks zusammen, Lagerfeuer werden entfacht und Hochzeiten gefeiert. Dreijährige Jungen bekommen ihren ersten Haarschnitt und zahlreiche religiöse Juden pilgern nach Meron in Obergaliläa, um Schimon bar Jochai mit Fackeln und Feuern als Lichtbringer zu feiern.

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5 Antworten

  1. @Liebe Frau Tegtmeyer,
    Und wieder so ein wunderbarer Bericht! Vielen,vielen Dank. Man kann ja noch so viel lernen. Auch wenn ich das noch mind. 3× lesen muss,um es wirklich richtig zu verstehen. Dann ist Lag BaOmer also morgen. Da wünsche ich allen einen schönen Feiertag! 🇮🇱🕊🌻🌼
    Viele Grüße Manu

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  2. Vielen Dank für den interessanten Bericht. Davon wusste ich vieles noch nicht.
    In einem Satz scheint mir was zu fehlen: „Baruch ata Adonai, melech ha-olam, ascher kideschanu be-mizwotaw, we-ziwanu al sefirat ha-omer.“
    Ich meine, es sollte heissen: „Baruch ata Adonai, eloheinu, melech ha-olam…“ Oder irre ich mich da?

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    1. Danke, Efronit, das Wort „Eloheinu“ fehlte tatsächlich. Wir haben es ergänzt.

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  3. Gestern Abend als ich von der Klagemauer in mein Gästehaus zurückging wurden Vorbereitungen für die Lagerfeuer getroffen. Kinder und Jugendliche schleppen Holzpaletten an. Und in der Nacht hörte man auch Gesang.

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