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Meinung

Mit Tuvia Tenenbom in die ultra-orthodoxe Welt eintauchen

Tuvia Tenenbom wuchs selbst ultra-orthodox auf – und kehrt nun zurück in seine geistige Heimat. Herausgekommen ist eine Reportage, die Grundlagen vermittelt und gleichzeitig in die Tiefe geht. Für alle, die Israels Haredim besser verstehen wollen.
Von Sandro Serafin

Wer schon einmal in Israel war, kennt ihren Anblick gut, denn vielerorts sind sie aus dem Stadtbild nicht wegzudenken: ultra-orthodoxe Juden. Oder Haredim, wie sie sich nennen – Gottesfürchtige. Also die mit den Schläfenlocken, seltsamen Pelzhüten und schwarzen Anzügen, werden jetzt einige denken. Nun, so einfach ist es nicht: „Die“ Ultra-Orthodoxen gibt es nämlich nicht.

Es gibt europäische und orientalische und innerhalb dieser noch mal solche und solche, „Litvaks“ (Litauer) und „Chassidim“ (Fromme) zum Beispiel. Und bei den Chassidim dann nochmal solche der Ger-Gruppierung oder der Vischnitzer, der Belser oder der Satmarer. Und die Ger-Chassidim haben sich jüngst wiederum gespalten. Und so weiter und so weiter und so weiter.

Ein Jahr bei Israels Ultra-Orthodoxen

Sie merken also: Die Sache ist kompliziert. Und vielschichtiger, als manch einer (nicht nur bei uns, sondern auch in Israel) wahrhaben will. Sie wird nicht einfacher dadurch, dass es sich um eine geschlossene Bevölkerungsgruppe handelt, die für Otto-Normalverbraucher eher unnahbar ist. Umso größer ist das Verdienst von Tuvia Tenenboms neuem Buch.

Tenenbom wurde 1957 in Bnei Brak bei Tel Aviv in die Radzyner Dynastie des ultra-orthodoxen Judentums hineingeboren. Er wuchs im berühmtesten haredischen Stadtviertel Israels, in Mea Schearim (Jerusalem), auf. Schon in jungen Jahren stieg er aus und zieht seitdem als Freigeist durch die Welt. Für das Buch kehrt er – Selbstbeschreibung: „Menschenbeobachter“ – für ein Jahr in Israels ultra-orthodoxe Welt zurück. Und damit auch zu seinen eigenen Wurzeln, die für ihn bis heute wichtig sind: „Die Haredim sind meine Familie.“

Während seiner Zeit vor Ort wohnt Tenenbom meist in einem Hotel nahe Mea Schearim und strömt von dort – rote Brille auf der Nase, schwarze Kippa auf dem Kopf – in die sonst scheinbar so verschlossene Welt der Ultra-Orthodoxen aus. Dank seiner eigenen Offenheit, seiner Biographie als Abkömmling einer wichtigen haredischen Familie und seiner jiddischen Zunge gelingt es ihm schnell, das Vertrauen vieler dieser Menschen zu gewinnen.

Tenenbom geht in die Tiefe

Tennenbom kommt auf der Straße ins Gespräch, wird zum Schabbes an die Familientische geladen, er schaut hinter die Fassaden von Jeschivas (Talmud-Tora-Schulen), nimmt die volle Dröhnung jüdischer Festtage mit, trifft Musikstars der ultra-orthodoxen Szene – und sogar einige der wichtigsten Rebbes, also führende Rabbiner-Persönlichkeiten. Dem Leser öffnet er damit vielfältige Türen, die sonst verschlossen bleiben.

Foto: Sandro Serafin
Mahnung zu züchtiger Kleidung auf einem Schild in Jerusalem: Tenenbom bespricht diese Aspekte, verharrt aber nicht bei oberflächlichen Fragen

Seine packende Reportage ist dabei Vieles gleichzeitig: Eine kulinarische Reise durch die ultra-orthodoxe Welt ebenso wie ein bisschen Modekunde über Streimel (ja, dieser extravagante Hut) und Socken. Zudem Aufklärung über jüdische Feiertage und die Traditionen und Lehren all der verschiedenen Sektoren innerhalb des ultra-orthodoxen Judentums. Auch Konflikte und Widersprüchlichkeiten kommen zum Vorschein. Ultra-Orthodoxe, das seien „Gruppen von Menschen, die sich in praktisch allen Fragen uneins sind“, kommentiert Tenenbom an einer Stelle – schon das allein ist eine wichtige Erkenntnis.

Ein noch größerer Gewinn ist, dass Tenenbom mit seinen Gesprächspartnern immer wieder auch in ausgesprochen tiefe Sphären vordringt, ihnen intime Einsichten entlockt und die ganz grundsätzlichen Fragen stellt, etwa: „Was ist Gott?“ Oft können die Gottesfürchtigen sie nicht zu seiner Befriedigung beantworten. Oder es kommen Vorstellungen und Praktiken zum Vorschein, die die Haredim nicht anhand der Schrift begründen können.

Eine Kritik formuliert Tenenbom daher deutlich: „Dieselben Leute, die geschworen haben, ihr Leben der Thora zu widmen (…), haben keine Ahnung, was in der Thora steht.“ Auch andere negative Aspekte spricht er an: Machtmissbrauch und Korruption durch rücksichtslose Rebbes etwa, um die ein Personenkult gemacht wird. Oder einen starken Anti-Zionismus.

„Ich mag sie“

Was Tenenboms Buch aber von vielen anderen Beiträgen über das ultra-orthodoxe Leben unterscheidet: Er bleibt an dieser Stelle nicht stehen und lässt nicht zu, dass sich diese Aspekte als allgemeingültige Klischees verfestigen. Man hat den Eindruck, dass ihn kaum etwas so empört, wie säkulare Israelis, die über die angeblich arbeitsfaulen Haredim herziehen. „Warum werden diese Menschen (…) als die schlimmsten von allen herausgehoben?“, fragt er an einer Stelle.

Ja, die geschilderten Zustände gibt es. Aber sie bilden nicht „das“ ultra-orthodoxe Judentum ab und sie sind auch keine Erscheinungen, die die Haredim exklusiv für sich gepachtet haben. Nach Tenenboms Einschätzung gibt es viele Ultra-Orthodoxe, die ein glückliches Leben führen. Es gibt viel Gastfreundschaft, Großmut, Humanität und ausgestrahlte Liebe, viel Witz, gute Musik und gutes Essen. Und teils auch einen Unterschied zwischen der ultra-orthodoxen Führung und dem gemeinen Fußvolk, außerdem zwischen den Generationen.

„Man hatte mich vor den Anwohnern gewarnt, aber bisher mag ich sie“, schreibt Tenenbom relativ zu Beginn. An dieser Einschätzung ändert sich auch in der Folge nichts mehr.

Unterm Strich entsteht ein unglaublich facettenreiches, liebevoll gezeichnetes Bild, das über eingefahrene, oberflächliche und billige Vorverurteilungen weit hinausreicht. Das alles formuliert mit einem unnachahmlichen Witz, der mal Tenenbom selber, mal die Ultra-Orthodoxen, immer wieder übrigens aber auch die Progressiven des Westens auf die Schippe nimmt. Wie passen nun die Woken da noch rein? Lassen Sie sich überraschen! Nur ein Hinweis: „Die Mea Schearimer Ladys haben Rebbes, die Berliner Ladys haben Greta.“

Tuvia Tenenbom: „Gott spricht Jiddisch. Mein Jahr unter Ultraorthodoxen“, Suhrkamp, 575 Seiten, 20 Euro, ISBN 978-3-518-47335-1

Der Film zum Buch

Bei einigen seiner Rundgänge durch Mea Schearim und seiner Gespräche mit Haredim ließ sich Tuvia Tenenbom von einer Kamera begleiten. Herausgekommen ist ein Dokumentarfilm von etwa einer Stunde und 15 Minuten. Der eher einfach gehaltene Film zeigt einen kleinen Ausschnitt der im Buch geschilderten Erlebnisse auch mit Ton und Bild. Er wurde am Donnerstag in jiddischer und hebräischer Sprache mit englischem Untertitel im Kino Babylon in Berlin-Mitte uraufgeführt. Ob er auch in weiteren Kinos zu sehen sein wird, ist noch offen. Bei einer an den Film anschließenden Diskussion mit Tenenbom wurde deutlich, dass Film und Buch auch als Gegenwerk zu anderen Stücken zu verstehen sind, die ebenfalls um ultra-orthodoxes Leben kreisen, dieses aber vor allem negativ porträtieren (so die Kurzserie „Unorthodox“ bei Netflix). Gleichzeitig betonte Tenenbom, dass es sich nicht um einen „Propagandafilm“ handle. Das haredische Leben sei ein „wundervolles Leben“, an das man allerdings glauben müsse: „Ich glaube nicht, was sie glauben.“

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3 Antworten

  1. Tuvia Tenenbom hat auch ein Buch unter dem Titel „Allein unter Juden“ geschrieben. Das sollte eigentlich für jeden Politiker zur Pflichtlektüre gehören. Es ist allen zu empfehlen, die sich für die Situation im Nahen Osten ernsthaft interessieren.

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  2. Die Glorifizierung von ultra-orthodoxer Rückwärts-Gewandtheit israelisch-jüdischer „Geschichte“ – als allein selig machend – ignoriert die Dynamik des immer noch gültigen ersten Schöpfer-Wortes ES WERDE LICHT.
    …ebenso wie modernes Judentum immer noch ignoriert Prophezeiungen von Jesaja.

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