JERUSALEM (inn) – Zwei Abgeordnete haben am Montag während einer Rede des israelischen Oppositionsführers Jair Lapid in der Knesset den Saal verlassen. Sie protestierten gegen Äußerungen des Vorsitzenden der Partei „Jesch Atid“ im Gedenken an die Ermordung von Premierminister Jizchak Rabin vor 30 Jahren.
Lapid äußerte in seiner Rede Kritik an der aktuellen israelischen Regierung. „Rabin wurde ermordet, und Itamar Ben-Gvir ist heute ein ranghoher Minister in der Regierung. Das ist die größte Sünde der aktuellen Regierung“, sagte er gemäß einem Bericht der „Jerusalem Post“ mit Bezug auf den Polizeiminister von der Partei „Jüdische Stärke“. Er rief dazu auf, sich gegen Extremisten auf beiden Seiten erheben: „Wir werden keinen Teil daran haben.“
Lapid fügte hinzu: „Das ist mehr als alles andere Rabins Erbe. Es ist das Vermächtnis des praktischen Zionismus: Wenn du etwas Gefährliches siehst, stelle dich ihm entgegen. Wenn du etwas Zerbrochenes siehst, repariere es. Wenn du etwas siehst, was nicht funktioniert, wie die aktuelle Regierung, ersetze es.“
Siedlungsministerin Orit Strock (Religiöser Zionismus) verließ das Plenum. Auf X schrieb sie später, sie sei gegangen, weil Lapid die Gelegenheit genutzt habe, um Hass und Hetze zu säen. Die Likud-Abgeordnete Tally Gotliv schloss sich Strocks Protest an.
Spaltung in Gesellschaft thematisiert
Oppositionspolitiker Benny Gantz (Blau-Weiß) sprach die Spaltung in der israelischen Gesellschaft an: Die Nation solle in sich gehen, bevor der nächste Schuss abgefeuert werde. Er kritisierte die Abwesenheit von Regierungschef Benjamin Netanjahu (Likud) während der Sitzung: „Es ist falsch, dass Sie nicht hier sind.“ Dem Premierminister obliege es, „die Giftmaschine auszuschalten“.
Landwirtschaftsminister Avi Dichter (Likud) thematisierte ebenfalls die Polarisierung. Er merkte an: „Jede Meinungsverschiedenheit zu einem politischen Kampf zu machen, vertieft nur noch die Spaltung.“
Die Abgeordnete Merav Michaeli gehört der Partei „Die Demokraten“ an, die aus Rabins sozialdemokratischer Arbeitspartei (Avoda) und der linksgerichteten „Merez“ hervorging. Sie bezeichnete das Attentat als Israels bedeutsamstes Trauma. „Und ich sage das selbst angesichts des 7. Oktober“, ergänzte sie mit Bezug auf das Hamas-Massaker von 2023. Rabin sei für sie ein „Premierminister, der ein Held Israels in seinen Kriegen war, der Armeechef, der den großen Sieg von 1967 anführte, der Befreier Jerusalems und der Mann, der als Verteidigungsminister mit starker Hand eine Antwort auf die Intifada anordnete“.
An der Knessetsitzung nahm auch Staatspräsident Jizchak Herzog teil. Zudem waren Angehörige von Rabin und 44 Botschafter aus aller Welt zugegen.
Herzog auf Herzlberg: „Null Toleranz für Gewalt“
Herzog selbst sprach am Montag bei einer Zeremonie auf dem nationalen Friedhof auf dem Jerusalemer Herzlberg, wo Rabin begraben liegt. Er schlug einen Bogen in die Gegenwart: „Drei Jahrzehnte später sehen wir immer noch dieselben Zeichen – vielleicht sogar noch mehr: harte, rohe und ungehobelte Sprache; Anschuldigungen wegen Verrats; Verbreiten von Gift über Soziale Medien und die öffentliche Sphäre; Gewalt in jeglicher Form – physisch und verbal.“
Gewalt in der Gesellschaft sei eine „strategische Bedrohung in jedem Sinne“, zitiert ihn die Nachrichtenseite „Times of Israel“. Herzog warnte vor Gewalt gegen öffentliche Amtsträger, Vertreter von Armee und Geheimdienst, Staatsanwälte, Richter, Knessetabgeordnete – und gegen Premierminister Netanjahu. Dieser nahm auch an der Zeremonie auf dem Herzlberg nicht teil, wie seit 2021 jedes Jahr.
Gewalt nehme zu in Straßen, sozialen Netzwerken und Bildungseinrichtungen, sagte das Staatsoberhaupt weiter. Auch bei der Kriminalität in bestimmten Segmenten der Gesellschaft gebe es eine Steigerung, vor allem in der arabischen Gemeinschaft.
„Wir befinden uns erneut am Rande eines Abgrunds, und es darf nur einen Weg nach vorn geben: Null Toleranz für Gewalt!“, ergänzte Herzog. Israel sei kein Schlachtfeld, sondern ein Zuhause. „In einem Zuhause schießen wir nicht. Weder mit Waffen, noch mit Worten, noch mit Drohungen, noch mit Ausdrücken – und nicht einmal mit Andeutungen.“
Normalisierung als Verwirklichung von Rabins Vision
In Rabins Sinn gelte es, den „Kreis des Friedens auszuweiten“: „Israels beeindruckende Errungenschaften an so vielen Fronten haben das Antlitz des Nahen Ostens verändert. Das gilt auch für das starke und mutige Bündnis mit den Vereinigten Staaten, mit der amerikanischen Regierung unter Präsident (Donald) Trump, der eine entschiedene und historische Bemühung anführt, den Kreis des Friedens und der Normalisierung in der Region zu erweitern.“
In vielerlei Hinsicht sei das die Verwirklichung von Rabins Vision, fügte Herzog an. „Israel hat immer Frieden mit allen unseren Nachbarn ersehnt.“ Das hänge auch „von unseren Nachbarn, vor allem den Palästinensern“, ab – „von ihrer Bereitschaft, unsere nationale Heimstatt hier, im Land unserer Vorfahren, zu verinnerlichen und anzuerkennen“. Sie müssten begreifen, „dass der Weg des Terrors uns niemals bezwingen wird“.
Für das bevorstehende Wahljahr rechnet Herzog mit vielen Spannungen. „Aber es darf kein Jahr von Hetze oder Gewalt sein. Politische Meinungsverschiedenheit ist legitim; einen Rivalen zu einem Feind zu machen, ist es nicht.“
Enkel: Trauma bietet Möglichkeit zur Veränderung
Ein Enkel des ermordeten Regierungschefs, Jonatan Ben-Arzi, forderte die Nation auf, Extremismus und internen Hass abzulehnen. „Vor 30 Jahren, eines Abends, nach einem langen und spannungsreichen Tag, wurde mein Großvater Jizchak Rabin ermordet. In weniger als einer Minute, mit drei feigen Kugeln in den Rücken, wurde mir ein Kindheitsheld entrissen, der Stolz meines Lebens.“ Das Trauma des Mordes habe seinen Lebensweg verändert – und den Weg des Landes.
„In einem Trauma, national ebenso wie persönlich, gibt es oft eine Gelegenheit zur Veränderung“, sagte der Enkel. „Ich rufe Sie auf: Lassen Sie uns diese Gelegenheit nach dem Versagen vom Massaker nutzen. Lassen Sie uns gemeinsam tun, was nach dem Trauma des Mordes an einem Premierminister hätte getan werden müssen – den heimtückischen Extremismus ins Abseits schieben.“ Es gelte, ewigen Hass auszulöschen und diejenigen auszumerzen, die ihn anfachen wollten. „Wenn wir gemeinsam handeln, werden wir es schaffen, das israelische Wunder wiederaufzubauen.“
Generalkonsul: Rabin gegen palästinensischen Staat
Auch das israelische Generalkonsulat in New York veranstaltete eine Gedenkzeremonie. Generalkonsul Ofir Akunis sagte dort: „Ich hatte Meinungsverschiedenheiten über Jizchak Rabins Politik. Aber über eine grundlegende Sache gab es sehr wohl ein breites Einverständnis: seinen Widerstand gegen einen palästinensischen Staat.“ Wenige Tage vor seiner Ermordung habe Rabin gesagt: „Sie werden ein Gebilde haben, das weniger ist als ein Staat.“
Rabin war von 1974 bis 1977 und dann wieder ab 1992 israelischer Regierungschef. Er unterzeichnete 1993 mit Palästinenserführer Jasser Arafat (Fatah) das erste Oslo-Abkommen. Am 4. November 1995 wurde er bei einer Friedenskundgebung in Tel Aviv vom extremistischen Juden Jigal Amir erschossen. Der Attentäter lehnte es ab, Kontrolle im Westjordanland an die Palästinenser zu übergeben. Er wurde zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt. (eh)
3 Antworten
Rabins Vision: Frieden mit den Palästinensern. Arafats Vision: Krieg gegen Israel, ein palästinensischer Staat ohne Israel.
Danke Herr Lapid 👍, und ja, die Polarisierung in Israel ist eine sehr große Gefahr die von vielen stark unterschätzt wird.
Die Zugehörigkeit zu einem politischen Lager, ist für viele Israelis zu einem wichtigen Teil ihrer Identität geworden, manchmal wichtiger als die spezifischen politischen Inhalte. All dies führt dazu, dass politische Gegner nicht mehr als Konkurrenten, sondern als Feinde betrachtet werden, was die Suche nach Kompromissen und einen sachlichen Diskurs im politischen Prozess erheblich erschwert, wie man bei Leuten wie Ben-Gvir, Orit Strock und Tally Gotliv sieht.
Die Angriffe von Links gegen Andersdenkende gelten als Verteidigung der Demokratie. Die Angriffe von Rechts gelten als Hetze und Spaltung. In Israel daselbe wie in Deutschland.
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