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Im israelischen Traum verfangen

Die Hollywood-Schauspielerin Natalie Portman hat sich getraut, den Amos-Oz-Bestseller „Eine Geschichte von Liebe und Finsternis“ auf Hebräisch zu verfilmen. Vor dem Hintergrund der Gründerjahre Israels erzählt das Werk die tragische Familiengeschichte des berühmten Autors. Eine Filmkritik von Michael Müller
Ein seltener Moment puren Glücks in der Familie Oz

Auf der Jerusalemer Straße stehen die Menschen dicht gedrängt. Manche halten Schreibblöcke und Bleistifte in den Händen, um Strichlisten zu führen. In dieser Nacht, dem 29. November 1947, gilt ihre gesamte Aufmerksamkeit der knarzenden Stimme aus dem Radioempfänger. Der Sprecher verliest das Abstimmungsergebnis der Vereinten Nationen über den Teilungsplan für das britische Mandatsgebiet Palästina. Land für Land arbeitet sich die Stimme vor. Als klar ist, dass sogar die Sowjetunion dafür gestimmt hat und es für eine notwendige Zweidrittelmehrheit reicht, löst sich die Anspannung in einen riesigen Freudentaumel.
Es ist eine frühe Schlüsselszene des wunderbaren Films „Eine Geschichte von Liebe und Finsternis“. Die Adaption des gleichnamigen Amos-Oz-Bestsellers, den die Hollywood-Schauspielerin Natalie Portman in ihrem Regiedebüt vor Ort und auf Hebräisch gedreht hat, lässt allerdings nicht nur die Geschichte des Staates Israel lebendig werden. Sie erzählt vor diesem Hintergrund auch die Familiengeschichte des heute 77-jährigen israelischen Autors Amos Oz. Der ist zum Zeitpunkt des UN-Beschlusses, der vorsieht, auf dem britischen Mandatsgebiet zwei unabhängige Staaten zu gründen, ein kleiner Junge (Amir Tessler) und lebt mit seiner Familie in Jerusalem. Aus seiner Perspektive erlebt der Zuschauer die ersten Jahre im neu gegründeten jüdischen Staat.

Eltern inspirierten Oz‘ literarisches Werk

Die biografischen Einflüsse auf Oz‘ literarisches Werk sind in den Figuren sofort augenscheinlich. Sein Vater Arieh (Gilad Kahana) versucht als Bibliothekar über die Runden zu kommen und hat gerade sein erstes Buch über hebräische Literatur veröffentlicht. Er ist ein etwas praxisferner Intellektueller, der seinen Sohn darüber aufklärt, dass im Hebräischen die verschiedenen Wörter wie Erde (adama), Mensch (adam), Blut (dam), Rot (adom) und Stille (demama) denselben Wortstamm besitzen. Ihm fehlen aber dagegen die Talente, die bescheidene Wohnsituation der Familie in der kargen Kellerwohnung zu verbessern.
Wenn sein Vater der Literat und Sprachwissenschaftler in der Familie ist, so sind es doch die Fantasien und die erzählerische Begabung seiner Mutter Fania (Natalie Portman), die Amos emotional am stärksten prägen. Die beiden pflegen eine besondere Beziehung. Sie schwärmt ihm zum Einschlafen in den schillerndsten Farben von ihrer Jugend in der polnischen Stadt Riwna vor, die heute in der Ukraine liegt. Bevor ihre jüdische Familie nach Palästina vor den Nationalsozialisten geflohen war, erlebte sie in Riwna als Au-pair-Mädchen skurrile Abenteuer voller Geheimnisse und Dramatik.
Fania erzählt von ihrer Jugend wie aus einem Sagenland. Die Bilder, in denen der Film ihre Geschichten nacherzählt, sind hochartifiziell. Farbfilter liegen auf den Szenen, lassen sie trister oder hyperrealistisch aussehen. Das stilisierte Licht wird in diesem Geschichtenkosmos anders gebrochen, so dass die verfremdeten Bilder eine Traumqualität haben. Es ist nie klar, ob die Geschichten der Mutter wirklich wahr oder ausgedacht sind. Der polnische Offizier zum Beispiel, der Fania und ihren Schwestern schöne Augen beim Schachspiel machte, sich dann nachts wegen eines Liebesbriefs mit der Pistole selbst richtete, könnte auch aus melancholischen Romanen von Leo Tolstoi oder Anton Tschechow stammen.

Erinnerungen wie zu süßlicher Borschtsch

Einmal kocht Amos‘ Mutter für Verwandte, die nach Jerusalem zu Besuch gekommen sind. Allein in dieser Szene ist die Sorgfalt und Leidenschaft der Regisseurin Natalie Portman sichtbar, wenn Fania in der Küche Borschtsch zubereitet und die Kamera mit viel Liebe die einzelnen Schritte einfängt. Die Rote Bete geht im restlichen Gemüse und dem Rindfleisch auf wie ein sinnlicher Spiralnebel. Eine Verwandte findet die Suppe zu süßlich. Der Borschtsch ist so angerichtet wie die nostalgischen Erinnerungen der Mutter an ihre Jugendzeit in Polen – und auch ihre idealisierten Vorstellungen vom jungen israelischen Staat.
„Eine Geschichte von Liebe und Finsternis“ ist im Kern eine Hommage an Amos‘ Mutter. Der Film konzentriert sich in der zweiten Hälfte, die fünf Jahre nach der Staatsgründung spielt, zunehmend auf sie und wird ein herausforderndes Psychogramm, das seismografisch genau die seelische Dämmerung der Mutter nachzeichnet. Auch der kleine Amos spürt das, hört auf zu sprechen und beobachtet. Fania droht an der Kluft zwischen ihren Träumen vom Staat Israel und der kargen Realität zu zerbrechen. Die unsichere Konfliktsituation zwischen Juden und Arabern belastet alle Israelis. Aber in Fanias Vorstellung war Israel personifiziert im intellektuellen Guerillakämpfer, der mit einer gigantischen Haartolle wie ein Modellathlet aussah und ihr ein Leben garantierte, wie sie es aus den Romanen eines Tolstoi oder Tschechow in Polen kennengelernt hatte.
„Ein Raum kann auf Erden immer zu einer Hölle oder zu einem Paradies werden. Es bedarf nur einer ignoranten oder zugewandten Person, das verändert alles.“ Das sind nur zwei dieser brutal einschlagenden Sätze des erwachsenen Amos Oz im Film, der als Erzähler auftritt und von dem Schauspieler Alex Peleg dargestellt wird. Amos‘ Eltern sind bemüht, aber sie passen nicht wirklich zusammen. Gerade wenn einer der Partner das nicht bemerkt, zerdrückt das mit der Zeit das Leben des anderen. Das beschreibt der Film ganz beiläufig und doch genau. Vater Arieh versucht sein Bestes. Aber er scheitert schon daran, sein erstes Buch, das er wie ein eigenes Kind ansieht, an die Leser zu bringen, geschweige denn seiner Familie eine echte Perspektive zu bieten – zumal sich Fania in ihren häuslichen Pflichten frustriert sieht.

Regisseurin Portman träumt oft von Israel

Die Regisseurin Natalie Portman hat sich bei der Lektüre von „Eine Geschichte von Liebe und Finsternis“ stark mit Amos Oz‘ Familie identifiziert, weil auch ihre Großeltern zu diesem Zeitpunkt in Israel lebten. Die Hollywood-Schauspielerin und Oscar-Gewinnerin („Black Swan“), die gebürtig Neta-Lee Hershlag heißt, ist die Tochter eines Israelis und einer Amerikanerin. Sie hat, bis sie drei Jahre alt war, in Israel gelebt. Portman, der die Fachpresse kommendes Jahr wieder sehr gute Chancen auf einen Oscar als beste Hauptdarstellerin („Jackie“) einräumt, wählte bewusst diesen herausfordernden Stoff als Regiedebüt.
„Für mich waren meine jüdischen Wurzeln immer Teil meiner Identität, den ich sehr intensiv empfinde“, sagte Portman der Zeitschrift „Vogue“. Sie denke und träume oft von Israel. Wenn Natalie Portman nicht auch die Hauptrolle als Mutter Fania gespielt hätte, wäre das Filmprojekt nie auf diese Weise zu verwirklichen gewesen. Diese erzwungene Hybris, gleichzeitig Regisseurin, Drehbuchautorin und Hauptdarstellerin zu sein, ist der zweiten Filmhälfte, was die erzählerische Konzentration und die visuellen Ideen angeht, anzumerken.
Der zu süße Borschtsch, die überstilisierten Rückblenden in die polnische Jugend, die Romantik und große Gefühle verheißen, aber in Israel nie eingelöst werden, die karge Kellerwohnung der Familie Oz in Jerusalem: Alle diese Elemente erzählen die selbe unglaublich traurige Geschichte; dass sich nämlich Oz‘ Mutter Fania in ihren eigenen Träumen von einem israelischen Staat und dem Leben wie in einem großen russischen Roman verfangen hat. „Eine Geschichte von Liebe und Finsternis“ ist ein reichhaltiges, aufwühlendes Gefühlsepos, das die großen Lieben Amos Oz‘ feiert: das Land Israel, seine Eltern, die Schriftstellerei, aber auch die Macht der Erinnerung.

„Eine Geschichte von Liebe und Finsternis“, 98 Minuten, freigegeben ab 12 Jahren, ab 3. November im Kino.

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