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Bidud – alle sprechen über Quarantäne

Untrennbar mit dem Coronavirus verbunden ist „Bidud“, das hebräische Wort für Quarantäne. In diesen Tagen ist es in aller Munde. Und allen Ausländern, die keine Quarantänemöglichkeit nachweisen können, wird ab dem heutigen Donnerstagabend die Einreise verweigert.
Israel ist wegen des Coronavirus alarmiert

JERUSALEM (inn) – Auch wer wenig Hebräisch versteht, wird in diesen Tagen an jeder Ecke Jerusalems mit einem Wort konfrontiert: Bidud, das hebräische Wort für Quarantäne. Das Wort Bidud klingt für viele fast noch schlimmer als die eigentliche Bedrohung, nämlich das Coronavirus. Bidud lässt sich einfach nicht ignorieren – kein Treffen von Freunden, Bekannten oder Arbeitskollegen vergeht, bei dem „Bidud“ nicht in irgendeiner Form thematisiert wird.

Um die Ausbreitung des Virus zu bekämpfen, hat die israelische Regierung drastische Maßnahmen in die Wege geleitet: Erst am Mittwoch hatte Regierungschef Benjamin Netanjahu ein Hilfspakt im Umfang von umgerechent 2,5 Milliarden Euro für die Wirtschaft angekündigt. Und seit Montag gilt die neue Regel, nach der jeder Israeli bei der Einreise nach Israel verpflichtet wird, sich umgehend für zwei Wochen nach Hause zu begeben und dieses nicht zu verlassen – auf Hebräisch heißt das „Absonderung“, Bidud. Genaue Zahlen, wie viele Israelis sich aktuell in der „Hausquarantäne“ befinden, gibt es nicht. Die Angaben liegen bei zwischen 80.000 und 300.000. Und so viele das sind, so unterschiedlich ist auch der Umgang der Beteiligten mit dem zwangsverordneten Hausarrest.

Zeit für andere Dinge

„Rate mal, wo ich gerade bin“, ruft etwa eine arabische Lehrerin aus Jerusalem am Montag ihre Freundin an. Diese hört Motorengeräusche. „Im Auto?“, fragt die Freundin verunsichert. „Auf dem Weg in den Norden, ich bin im Bidud.“ Die arabische Christin, die aus Galiläa stammt, arbeitet seit einigen Jahren als Lehrerin in Jerusalem: „An unserer Schule gibt es 14 Lehrer, die in der vergangenen Woche unabhängig voneinander in Bethlehem waren. Ich auch. Obwohl es bei mir nur für eine Stunde war.“ Alle mussten in den Bidud. So traurig scheint die Frau aber nicht zu sein. „Ja, schade“, säuselt sie pflichtbewusst. „Aber es lässt sich ja nicht vermeiden. Nun, ich freue mich, dass ich meine Eltern besuchen kann.“

Eine deutsche Journalistin ist vergangene Woche nach Israel eingereist: „Die Empfehlungen des israelischen Gesundheitsministeriums nehme ich sehr ernst. Ich habe alle Termine in den nächsten zwei Wochen abgesagt. Ich werde niemanden zu mir hereinlassen. Nun lese und schreibe ich viel. Zu essen habe ich für die ersten Tage, danach werden mich Freunde versorgen.“ Und vielleicht sei ja nachts auch mal ein kleiner Spaziergang möglich. „Also dann, wenn wirklich keine Gefahr besteht, dass ich irgendwen anstecken könnte.“

Städtereise mit hohem Preis

Omri reiste mit seinen Kollegen vergangene Woche zu einem Teamtreff der europäischen Kollegen nach Düsseldorf. Als er hörte, dass Rückkehrer aus Deutschland in die Quarantäne müssten, wurde die Konferenz abgebrochen und der Flug der Israelis kurzerhand von Donnerstag auf Mittwoch verlegt. Das war zu spät: Alle acht Kollegen mussten umgehend in den Bidud. Omris Frau zog zu einer Freundin und Omri ist nun allein in seiner Wohnung in Tel Aviv.

Trotz der Warnungen vor dem neuen Coronavirus ließen sich viele Israelis nicht davon abhalten, das Purimfest zu feiern Foto: Israelnetz/mh
Trotz der Warnungen vor dem neuen Coronavirus ließen sich viele Israelis nicht davon abhalten, das Purimfest zu feiern

Eine freischaffende Israelin hat vor Kurzem ihre Wohnung gekündigt und kurzerhand vor anderthalb Monaten ihr Homeoffice nach Wien verlegt. Eigentlich wollte sie Ende Februar zurückkommen, doch weil ihr Wien so gut gefiel, blieb sie zwei Wochen länger. Bei ihrer Ankunft in Tel Aviv war klar: Es folgt der Bidud. „Wäre ich doch nur schon vor zwei Wochen zurückgekommen!“, ärgert sich die Übersetzerin. „Nun hänge ich bei meinem Vater rum und wir gehen uns gegenseitig auf die Nerven. Ich kann nicht mal raus, um mir neue Wohnungen anzusehen. Ich hänge hier fest!“

Auch Meir ärgert sich. Nachdem eine Reise nach Italien wegen des Coronavirus ausgefallen war, buchte er kurzum ein langes Wochenende in Berlin. „Das hat sich überhaupt nicht gelohnt. Für drei Tage Spaß nun zwei Wochen eingesperrt zu sein, ist eine harte Strafe.“ Und weil er es schwer ohne Gesellschaft aushält, legt er die Anweisungen der Regierung etwas lockerer aus: „Wenn Freunde mich besuchen wollen, dürfen sie gerne kommen. Und ab und zu muss ich natürlich auch mal etwas einkaufen gehen.“

Strikte Maßnahmen

Ausländer dürfen noch bis Donnerstagabend einreisen. Danach müssen sie glaubhaft machen, dass sie die ausreichenden Bedingungen für eine 14-tägige Heimquarantäne erfüllen können. Hotelreservierungen gelten nicht als ausreichende Bedingung. Touristen, die sich bereits in Israel aufhalten, werde Zeit gegeben, in den „kommenden Tagen“ auszureisen, teilte das Gesundheitsministerium mit. Exakte Angaben gibt es nicht. Eine Kleingruppe aus Deutschland, die sich zur Zeit im Land aufhält, ist froh, als die israelische Fluggesellschaft El Al mitteilt, dass der ursprüngliche Direktflug nach Frankfurt am Freitag nun doch noch über London möglich ist. So muss für jeden einzelnen Fall eine Lösung gefunden werden.

Gefühlt gibt es fast niemanden in Israel, auf den sich die aktuellen Entwicklungen nicht auswirken. Eine Deutsche aus Berlin berichtet in Jerusalem über ihre Einreise in der vergangenen Woche: „Die haben mich am Flughafen nur gefragt, ob ich in den vergangenen Wochen in Italien oder China war. Ich habe verneint und sie haben mich anstandslos reingelassen. Als ich dann aber mit dem Zug fahren wollte, durfte ich das nicht und musste ein Taxi nehmen.“ Über ihre für kommende Woche geplante Rückreise macht sie sich keine Gedanken. „Die Airline wird mir schon eine Alternative anbieten!“

Feiern trotz Risiko

Viele verfluchen das Coronavirus auf offener Straße, andere in Whats-App-Gruppen. Harel und Eitan, zwei angehende Tourguides, diskutieren: „So etwas hat es noch nie gegeben, das hab ich noch nicht erlebt“, sagt Harel. „Doch natürlich“, entgegnet Eitan „zur Schweinegrippe war es ähnlich“. Harel erwidert: „So ein Quatsch! Wann gab es das, dass so viele Flüge innerhalb so einer kurzen Zeit gecancelt wurden?“ Der Mittzwanziger versucht, der Situation mit Humor zu begegnen: „Wenigstens haben wir endlich Ruhe zu Hause, seitdem ganz Bethlehem abgeriegelt ist: Die Baustelle am Haus neben uns steht still – die Bauarbeiter sind ja alle im Bidud.“

So schlimm sich diese neue Bedrohung auch anfühlt – die ersten Leute sind ihr entflohen und zeigen, dass es ein Leben nach dem Bidud gibt. Einer von ihnen ist Jonathan. Am Dienstagabend tanzte er zum Purimfest ausgelassen auf Jerusalems Straßen. Die offiziellen Feiern waren abgesagt, viele kamen aber trotzdem und hielten sich nicht vor großen Menschenmengen zurück.

Jonathan (links) darf seit Montagmittag wieder am öffentlichen Leben teilnehmen Foto: Israelnetz/mh
Jonathan (links) darf seit Montagmittag wieder am öffentlichen Leben teilnehmen

Jonathan stammt aus der ultra-orthodoxen Stadt Bnei Brak bei Tel Aviv. Am 24. Februar war er aus China zurückgekommen. Der Mittzwanziger hatte dort in einer Brokkolifarm als Maschgiach gearbeitet, als Aufseher, der die Einhaltungen der Regeln der jüdischen Speisegesetze kontrolliert. „Das gab gutes Geld. Dass ich nun zwei Wochen eingesperrt war, war nicht so schön. Aber zwei Wochen gehen vorbei. Und jetzt ist es einfach schön, wieder frei zu sein.“ Ob er keine Angst habe, sich bei den Menschenmassen anzustecken oder eventuell nach der Feier noch einmal in den Bidud zu müssen? „Die Feier ist dieses Risiko wert. Der Bidud schreckt mich nicht.“

Kritik an Schulbetrieb

Israel verzeichnet mittlerweile 100 Fälle von Corona-Erkrankungen. Das gab das Gesundheitsministerium am Donnerstag bekannt. 92 Betroffene befinden sich im Krankenhaus und fünf in Heimquarantäne. Drei haben sich von dem Virus erholt.

Am Donnerstag rief die Lehrervereinigung die Regierung auf, alle Schulen und Kindergärten zu schließen. Diese Einrichtungen seien Brutkästen für ansteckende Krankheiten, schrieb die Vorsitzende Jaffa Ben-David Netanjahu laut der Zeitung „Jerusalem Post“ in einem Brief. Nach Angaben des Bildungsministeriums kamen nach dem Purim-Fest 85 Prozent der Schüler zum Unterricht.

Unterdessen wurde das Auffanglager Saharonim zu einem Lager für infizierte Häftlinge umfunktioniert. Normalerweise sind in der Einrichtung in Südisrael illegale Einwanderer untergebracht. Diese wurden nun auf die Gefängnisse im ganzen Land verteilt. Bislang sind unter den Häftlingen in Israel allerdings keine Corona-Fälle bekannt.

Ökonom: Folgen der Krise bislang nicht absehbar

Dan Galai, Wirtschaftsexperte an der Hebräischen Universität Jerusalem, erklärt in einem Telefoninterview: „Es ist das erste Mal, dass Israel seine Grenzen fast hermetisch abriegelt.“ Der Professor betont den Ernst der Lage: „Selbst in Kriegszeiten ist so etwas noch nicht passiert.“ Die negativen Auswirkungen auf die israelische Wirtschaft seien bisher nicht abzusehen: „Das zur Zeit größte Problem ist die große Unsicherheit, mit der wir konfrontiert sind: Wird das Virus in diesem Sommer verschwinden? Oder erst im nächsten Jahr? Oder vielleicht verschwinden und im nächsten Jahr wieder ausbrechen?“

Zur Zeit könne niemand sagen, wie lange die neuen Regeln gelten werden – ob zwei Wochen, drei Monate oder ein halbes Jahr. „Bei uns gibt es noch keine Todesfälle. Aber die Frage stellt sich, wie wir mit Menschen umgehen, die nach Frankreich oder Deutschland fliegen müssen. Werden wir ihnen erlauben, dorthin zu fliegen?“

Spätestens in einem Monat würden die Konsequenzen für das Land spürbar, prognostiziert Galai. Er rechnet mit einem starken Anstieg der Arbeitslosigkeit: Die könne innerhalb des nächsten halben Jahres von derzeit 3,6 auf 6 bis 7 Prozent steigen. Besonders seien Menschen in der Tourismusbranche, in der Gastronomie und im Unterhaltungssektor betroffen.

„Niemand kann Airlines, Hotels und Reiseagenturen angemessen entschädigen. Nach dem Ende einer solchen Krise braucht es mindestens sechs Monate, bis sich eine Branche davon erholen kann.“ Für einen Bereich bringe die Krise allerdings auch Vorteile mit sich: „Weil viele Firmen nun dazu übergehen, ihre Mitarbeiter ins Homeoffice zu schicken, sind Video- und Telefonkonferenzen nun auf dem Vormarsch. Alle, die im ‚Web-Bereich‘ arbeiten, haben Grund zur Freude, weil deren Dienste verstärkt genutzt werden.“

Von: mh/df

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