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Erfolgsgeschichte mit angeschlagenem Image

Das erste Attentat in der jüngsten Serie von Terroranschlägen in Israel rückt eine kleine Negev-Regionalverwaltung ins Zentrum des Misstrauens der jüdischen Gesellschaft. Dabei gilt sie als Vorzeigemodell des Wandels in der beduinischen Gesellschaft.
Von Antje C. Naujoks
Der Beduinenort Hura im Negev

Am Tag nach dem Anschlag in Be’er Scheva, bei dem am 22. März 2022 vier Menschen umkamen, waren die Straßen der Großstadt fast leergefegt; nur auf dem Friedhof kamen Menschentrauben zusammen. Auch das wenige Kilometer nordöstlich gelegene muslimisch-beduinische Hura, wo der Attentäter lebte, glich einer Geisterstadt.

Trotzdem war in beiden Orten Bewegung: In Be’er Scheva war Polizei und Grenzpolizei allgegenwärtig. In Hura beherrschten Angehörige der Nachrichtendienste sowie Medienvertreter das Straßenbild.

Wenige Tage später kam es im nördlichen Hadera zu einem weiteren Anschlag arabischer Bürger. Als Folge vertiefte sich das Misstrauen der jüdischen Mehrheitsgesellschaft gegenüber der 21 Prozent ausmachenden arabischen Minderheit des Landes. Die Attentäter waren von der Terrorvereinigung „Islamischer Staat“ inspiriert, die Angst vor einer Fünften Kolonne nahm zu.

Zwei Seiten einer Medaille

Schon vor Monaten schlugen die jüdischen Einwohner der nördlichen Negev-Wüste Alarm, weil sie sich von einer schier unglaublichen Menge Schusswaffen in beduinischer Hand bedroht fühlen. Der Terrorakt war der berühmte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte, so dass endgültig gefordert wurde, über die rund 300.000 Negev-Beduinen Militärrecht zu verhängen.

Eine solche Hau-Ruck-Lösung als Schutzversuch einer Million jüdischer Einwohner trägt jedoch nicht der Tatsache Rechnung, dass auch die normative beduinische Gesellschaft unter der „Wild-East“-Situation zu leiden hat. Denn durch illegale Schusswaffen in der Hand von Arabern kamen im Negev wie in anderen Landesteilen bislang fast ausschließlich Araber ums Leben. Zudem sind damit andere Probleme, die auf eine Jahrzehnte währende Vernachlässigung durch die Regierung zurückzuführen sind, nicht aus der Welt; im Gegenteil, neue Probleme kämen hinzu.

In dieser Situation entschieden sich viele Einwohner von Be’er Scheva dafür, Restaurants mit beduinischen Arbeitern zu meiden oder ihre Kinder vom Unterricht zu befreien, da die Schulen beduinische Putzkräfte beschäftigen. Etliche beduinische Geschäftsleute mit Läden in Be’er Scheva machten gar nicht auf, und Huras Einwohner mit Arbeitsplatz in der jüdischen Gesellschaft blieben lieber daheim.

Dieser Rückzug versperrte den Blick dafür, dass sowohl in Be’er Scheva als auch in Hura auf Anweisung der Behörden Sozialarbeiter und Psychologen alle Hände voll zu tun hatten. Einerseits waren Dutzende trauernde Hinterbliebene der Opfer des Terroranschlags zu betreuen. Andererseits brauchten unter anderem fünf Kinder, für die sich durch das Attentat ihres Vaters Abgründe auftaten, professionelle Hilfe.

Huras angeschlagenes Image

Obwohl Hura nur knapp 23.000 Einwohner zählt, ist es im ganzen Land bekannt. Nach dem Attentat trugen Journalisten nicht nur aktuelle Informationen über die Regionalverwaltung, sondern auch über den Beduinenstamm Abu al-Qian zusammen. Zu dessen rund 7.000 in Hura lebenden Angehörigen zählte auch der Attentäter.

Somit wurde in Erinnerung gerufen, dass der Selfmade-Millionär Jakub Abu al-Qian im Frühjahr 2021 in den Verdacht konspirativer Aktivitäten geraten war. Ausgegraben wurde zudem die Geschichte eines angehenden Arztes dieses Stammes, der als erster arabischer Bürger des Staates Israel im Herbst 2014 als Kämpfer in den Reihen des Islamischen Staates in Syrien fiel.

Allseits verbindet man mit diesem Stamm zudem eine Ansammlung von Wellblechhütten und Zelten unweit von Hura. Im nichtanerkannten Umm al-Hiran leben rund 1.500 Angehörige des Stammes, darunter die Witwen eines 2017 ums Leben gekommenen Lehrers. Ihn stempelten Israels Entscheidungsträger wegen eines Zwischenfalls, bei dem ein Polizist umkam, als Terrorist ab. Drei Jahre später, als ans Licht kam, dass eine Verkettung tragischer Szenarien dazu geführt hatte, baten offizielle Vertreter um Entschuldigung.

Dennoch sind es genau solche Einzelfälle, die das Image Huras in der breiten Öffentlichkeit geprägt haben. Daran änderten auch die Verurteilungen jeglicher Gewalt und erst recht feiger mörderischer Terrorakte nichts, die Beduinen in öffentlichen Ämtern ebenso wie beduinische Privatleute – darunter die Familie des Attentäters – in die Öffentlichkeit trugen.

Mikrokosmos Hura

Ende der 1960er Jahre begann Israel, für halbnomadische Beduinen urbane Zentren aufzubauen. Dazu gehört das 1989 gegründete Hura, das 1996 zur Regionalverwaltung wurde. Hura ist Zuhause mehrerer beduinischer Stämme, die konzentriert in eigenen Stadtvierteln leben. Sowohl die öffentliche als auch die familiäre Sphäre ist nachhaltig geprägt von der muslimisch-beduinischen Kultur. Männer sind weiterhin, obschon nicht mehr ausschließlich, tonangebend. Frauen, die sich nicht ohne Hidschab sehen lassen, sind größtenteils nicht erwerbstätig.

Zudem trifft ein Besucher in Hura, wie in der gesamten beduinischen Gesellschaft, auf viele Kinder: 48 Prozent der Einwohner sind unter 14 und weitere 20 Prozent unter 20 Jahren. Fast die Hälfte aller Familien ist mit fünf und mehr Kindern registriert.

Da trotz gesetzlichem Verbot Polygamie praktiziert wird, kommen zu einer Familie bis zu drei weitere Frauen und noch mehr Kinder hinzu. In Hura, doch nicht nur hier, gibt es Grundschulen, deren 500 bis 600 Schüler alle den gleichen Nachnamen haben. Mehr noch: Häufig besuchen mehrere gleichaltrige Geschwister die Klassen einer Jahrgangsstufe. Sie haben den gleichen Vater, jedoch unterschiedliche Mütter.

Den staatlichen Statistiken ist überdies zu entnehmen, dass weniger als 20 Prozent der Einwohner Huras Einkommen mit nach Hause bringen; die Hälfte von ihnen erhalten nur den gesetzlich vorgeschriebenen Mindestlohn. Folglich dümpelt Hura, auch wenn hier im Ausland studierte Ärzte, Rechtsanwälte und Akademiker zu finden sind, auf der untersten Stufe der sozioökonomischen Skala Israels. Zweifelsfrei hat sich Hura kritischen Themen zu stellen, darunter keineswegs nur Polygamie, sondern auch tradierte Gepflogenheiten wie Stammesfehden und Ehrenmorde. Dennoch hat sich vieles gewandelt.

Eine Erfolgsgeschichte mit Luft nach oben

Hura darf stolz auf Errungenschaften sein, die in den Medien wie auch auf den Regierungsfluren als Paradebeispiele des Wandels gelobt werden. Der Anstoß dafür ist Mohammed al-Nabari, einem promovierten Chemiker mit einem Dutzend Patentlizenzen, zu verdanken. Er kehrte nach seinen Studien in das überlieferte Ansiedlungsgebiet seines Stammes zurück und wurde 2005 zum Leiter der Regionalverwaltung Hura gewählt. Al-Nabari stieß etliche Veränderungen an, so einen Wandel in der Bereitschaft, Steuern zu entrichten; für Beduinen, die an die Weite der Wüste ohne Institutionen gewöhnt sind, ist das ein genauso großer Wandel wie der Umzug vom Zelt in eine feste Behausung.

Während seiner 13-jährigen Amtszeit ging er gegen Vandalismus und Kriminalität in Hura vor. Er holte eine Telefon-Hotline in die Stadt und gab den Anstoß zum Aufbau des Cateringbetriebes Al-Sanabel, um die extrem hohe Arbeitslosigkeit unter Beduininnen zu bekämpfen. Federführend war er ebenfalls bei dem aus dem Nichts geschaffenen Projekt Wadi Atir, das sich der Wahrung beduinischer Agrartraditionen verknüpft mit moderner Technologie widmet.

Doch sein besonderes Augenmerk galt dem Bildungssektor. Dadurch ging die Zahl der frühzeitigen Schulabgänger zurück. Immer mehr Jugendliche schließen zwölf Schuljahre mit dem Abitur ab. Doch diese Jugendlichen haben immer noch keinen Ausblick auf eine bessere Zukunft, weil es an Möglichkeiten der Weiterbildung und Erwerbstätigkeit mangelt. Deshalb beschritt Dr. Mohammed, wie alle ihn nur nennen, zusammen mit neugewonnenen Mitstreitern letztlich weitere ungewöhnliche Wege.

Das 2013 gegründete Projekt „Desert Stars“ (Sterne der Wüste) vermittelt jungen Beduinen Führungsqualifikationen, so dass sie ihrer Gesellschaft zum sozioökomischen Aufbruch verhelfen können. Zugleich wurden zwecks Überwindung interner Rivalitäten stammesübergreifende Strukturen aufgebaut. Doch ein weiteres bedeutsames pädagogisches Rational ist die Schaffung einer gemeinsam gelebten Gemeinschaft von Muslimen und Juden. Dieses Modell findet immer mehr Zuspruch, Für alle Einwohner des Negev wie auch des Staates Israel ist inständig zu hoffen, dass dieser Ansatz die Oberhand gewinnt.

Antje C. Naujoks studierte Politologie an der FU Berlin und an der Hebräischen Universität Jerusalem. Die freischaffende Übersetzerin lebt seit fast 35 Jahren in Israel, davon ein Jahrzehnt in Be‘er Scheva.

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Eine Antwort

  1. Es ist ein Kreuz mit den Beduinen. Jahrhundertelang haben sie auf ihre Brüder herabgesehen, die sich in Dörfern niedergelassen hatten und Ackerbau betrieben. Sie wurden dadurch zu minderwertigen Menschen, gegenüber der frei umherziehenden Beduinen. Aber das funktioniert in der heutigen Zeit eben nicht mehr.
    Ich habe die Häuser gesehen, die Israel für sie gebaut hatte, die sie aber nie bezogen haben und lieber weiterhin an Rand der Siedlung in ihrem Wellblech und Teppichzelten im Schmutz zwischen ihren Tieren lebten.
    Und auch die Blutrache ist dort noch vorherrschend. In Israel sind im vergangenen Jahr über 2000 Araber gewaltsam ums Leben gekommen. Nur 68 davon gingen auf das Konto der Israelis/IDF/Sicherheitsbehörde.

    Auch wir haben Jahrhunderte gebraucht um aus dem Mittelalter heraus zu kommen. Die Beduinen werden also noch eine Zeit lang brauchen.
    Es ist halt tragisch, wenn sie für ihr eigenes Unvermögen Israel verantwortlich machen.

    5

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