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Er kann nicht so viel fressen, wie er kotzen möchte

Vor dem Krieg hat Saul Friedländer persönliche Gedanken zur Justizreform in Israel aufgeschrieben. Sein Tagebuch ist einseitig, analytisch schwach und teils plump. Trotzdem kann man etwas daraus mitnehmen. Eine Rezension
Von Sandro Serafin

Saul Friedländer ist Historiker, einer der größten im Bereich der Holocaust-Forschung, mehrfach ausgezeichnet. Man sollte also denken, dass er historische, aber auch zeitgeschichtliche Probleme der Gegenwart nüchtern analysieren kann. So zum Beispiel auch den heftigen Streit um die Justizreform, der die israelische Gesellschaft in den Monaten vor Ausbruch des aktuellen Krieges polarisierte.

Insofern durften Interessierte aufhorchen, als der C.H.Beck-Verlag ein Tagebuch Friedländers zum Thema ankündigte – ein Buch, in dem er laut Verlag „die aktuellen Ereignisse schildert und kommentiert, in Rückblenden aus der Geschichte des Landes, das er mit aufgebaut hat, erzählt, Konflikte analysiert und über Lösungen nachdenkt“. Das klang methodisch wie thematisch interessant, nach dem Versuch, das persönliche Nahe mit dem analytischen Distanzierten zu verbinden.

Nun, ein Tagebuch hat Friedländer in der Tat geschrieben: Seit Januar 2023, also seit es mit der Justizreform konkret wurde, hat der Israeli von seinem Wohnsitz in Kalifornien aus die Entwicklungen und die Debatten in Israel medial beobachtet und zu ereignisreichen Tagen seine Gedanken aufgeschrieben. Vom Anspruch auf eine gewinnbringende Analyse ist dabei allerdings wenig zu spüren. Um es klarer zu sagen: Das Buch geht völlig daran vorbei.

Aggressiv und unsachlich

Das liegt weniger an einigen kleinen Sachfehlern, die Friedländer unterlaufen (er verlegt die Beduinenortschaft Chan al-Ahmar in den Süden statt in den Osten Jerusalems und verortet einen Politiker in einer falschen Partei), als vielmehr daran, dass sich der Autor auf knapp 240 Seiten vollständig als Teil des Geschehens präsentiert, als ein politischer Akteur, der keine Zweifel an seiner Positionierung gegen die Regierung, gegen die Religiösen, die Konservativen, letztlich gegen das Mehrheitsisrael von heute lässt.

Man könne gar nicht so viel fressen, wie man kotzen möchte, hält er gleich zu Beginn fest und meint damit den Blick auf die Situation in Israel (vor dem Krieg). Dieser aggressive, höchst unsachliche Stil zieht sich durch das gesamte Buch: Benjamin Netanjahus Regierungskoalition wird zum „Monster“, zu dessen Bändigung er, Friedländer, beitragen wolle.

Mitglieder der Regierung wie die Rechtsaußen Bezalel Smotritsch und Itamar Ben-Gvir bezeichnet Friedländer fast schon entmenschlichend als „wahrhaft abscheuliche Exemplare“, Ben-Gvir als „bösen Clown“, Netanjahu als „ganz offensichtlich gestört“ sowie als „gerissenen Mafiatypen“ und Justizminister Jariv Levin als „giftige Brillenschlange“.

Diskussionen um das israelische Einwanderungsgesetz („Rückkehrgesetz“) steckt der Holocaust-Historiker indirekt in eine Kategorie mit den Nürnberger Rassegesetzen. Schwer gewalttätige Siedler in Huwara werden bei ihm zu „wilden Tieren“, Netanjahus Ehefrau fast schon penetrant infantil als „Sara’le“ bezeichnet. Israel sieht er „auf dem Weg in eine autoritäre Apartheid-Theokratie, so etwas wie eine Mischung aus dem früheren Südafrika und dem heutigen Iran“.

Nahezu wertlos

In der Geschichtswissenschaft unterscheidet man zwischen Quellen und Literatur. Zweitere schreiben aus der Distanz über ein historisches Thema, erstere sind selbst Teil der Geschichte und können erst durch Fragen an sie zum Reden gebracht werden. Diese Unterscheidung hilft, Friedländers Buch einzuordnen: Für mich es ist ganz wenig Literatur und ganz viel Quelle.

Als Literatur ist es nahezu wertlos, weil es fast ausschließlich die teils äußerst oberflächlichen Narrative einer Seite gegen die Justizreform reproduziert. Weil es viel zu viel assoziatives, emotionales und viel zu wenig analytisches Denken beinhaltet.

Als Quelle ist Friedländers Tagebuch hingegen durchaus interessant: Es gibt den Blick frei auf einen verletzten, hochgradig aufgewühlten, vielleicht auch mit Hass gefüllten, partiell verbitterten Mann, der einen Identitätskampf mit sich und dem Kollektiv seines (jüdischen) Volkes ausficht; eines Volkes, an dem er existenziell hängt, auf das er manchmal auch stolz ist, an dem er zugleich aber auch verzweifelt.

Es ist ein Mann, der nicht nur mit der Justizreform Probleme hat, sondern als Vertreter eines humanistischen Judentums generell mit der rechtskonservativen und religiösen Richtung, in die sich Israel in den vergangenen Jahrzehnten bewegt hat. Eine Entwicklung, die er im Jahr 1967 wurzeln sieht, als Israel die heute so bezeichneten „Palästinensergebiete“ eroberte und der „Wahnsinn“ – so schreibt Friedländer – seinen Anfang nahm. An einer Stelle spricht der Autor von den besetzten Gebieten (dem Kernland des historischen Israel) als „Krebsgeschwür“ in der israelischen Politik.

Kann der Krieg die Spaltung überwinden?

Insofern kann man aus dem Buch dann auf eigentümliche Weise doch wieder etwas mitnehmen, weil es die Tiefe des Identitätskonflikts verdeutlicht, der in den vergangenen Monaten in der jüdisch-israelischen Gesellschaft ausgetragen wurde – auch wenn Friedländer in seiner Radikalität und mit seinen teils grundsätzlich zionismuskritischen Anklängen sicher nicht stellvertretend für die Gegner der Justizreform stehen kann.

Erwähnung verdient noch eine Überlegung, die der Autor gegen Ende des Tagebuchs anstellt: „Ich frage mich, ob die gegenwärtigen Meinungsverschiedenheiten im Falle eines erneuten Krieges verschwinden würden, der wahrscheinlich mehr Leben und Zerstörung kosten würde als die vorherigen.“ Vom 7. Oktober 2023 konnte Friedländer noch nichts wissen, als er diesen Satz niederschrieb. Seit jenem 7. Oktober stellt sich die von ihm aufgeworfene Frage aber umso mehr.

Saul Friedländer: „Blick in den Abgrund. Ein israelisches Tagebuch“, C. H. Beck, 237 Seiten, 24 Euro, ISBN 978-3-406-80897-5

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3 Antworten

  1. Die größten Kritiker Israels sind eben auch Israelis…siehe auch Moshe Zimmermann der in den hiesigen Medien gerne eingesetzt wird wenn es um ‚Israelkritik‘ geht. Israel ist ein Land mit einer offenen Streit’kultur’….

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    1. Jetzt doch ein Kommentar:
      Ein Tagebuch spiegelt das Innere des Menschen – es sollte nicht kritisiert werden, denn wenn man nicht ehrlich vor sich selbst sein darf, dann ist es nichts wert. Ein Tagebuch ist dazu da, dass man seine ungeklärten Nöte, Sorgen, Verzweiflungen wenigstens dem Papier anvertraut. Eigentlich der Öffentlichkeit nicht zur „Zensur“preisgeben sollte. Bei der Geschichte Israels – wenn man sie nur einigermaßen kennt – wer will es einem Juden verdenken, dass er solche Gedanken hat. Was denken und reflektieren wir denn so lebenslang?
      Tagebuch ist Tagebuch und keine Zeitung oder Reportage. Von denen verlange ich Korrektheit, aber nicht von einem Tagebuch. Hallo, ich habe 8 Jahrzehnte hinter mir und im Alter Zeit über mein Leben nachzudenken – Vieles wäre besser gewesen und hätte anders verlaufen können. Was zeigt das? Wir sind a l l e fehlerhaft. Dazu hat der Gott Israels einen Retter geschickt, den ich immer wieder sehr gern kontaktiere. Es ist der Messias der Juden – und wir Christen sind nicht unschuldig, dass sie IHN noch nicht alle erkannt haben; aber es sind immer mehr von ihnen, und es ist schön und gewinnbringend ihnen zuzuhören. Dann hat man auch Lust, sich bei ihnen zu informieren. Sie waren zerstritten? Na und? Ich habe gesehen, wie sie in dieser notvollen Krise auf einmal zusammenstanden, sich umarmten, ihre Soldaten von Rabbinern – Ultraorthodoxen gesegnet wurden, – und wieder und wieder kritisiert, verachtet und seelisch gepeinigt wurden. Sie, die wieder einmal erleben mussten, was keiner von uns ertragen könnte.
      Hatikvah -Hoffnung!!!

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  2. Ich kommentiere weiter, damit mein Herz nicht springt:
    Ein kleines Baby, 8 Monate alt, kaum geboren und in der Gewalt von Menschen, die dem Ebenbild des Schöpfers nicht mehr gleichen. Es kennt die noch nicht, alles ist ihm neu – wer erklärt es ihm, diese grausame Umwelt? Es heißt Kvir – jüdische Eltern wählen bewusst Namen nach ihrer Bedeutung: „Kleiner Löwe“ habe ich übersetzen lassen. Jeshua – den wir Jesus nennen – er sagt auch jetzt noch“: lasset die Kinder zu mir kommen und wehret ihnen nicht…“ Falls der kleine Löwe noch lebt – Gottes Auge sieht ihn und auch, die ihm Gewalt antun, gleichgültig sind und sogar als Lüge bezeichnen. Und falls sie ihn – wie andere Säuglinge und Kinder, umgebracht haben – , spätestens im Tal Josaphath, dem Gerichtsort, wird
    der Gott Israels „brüllen wie ein Löwe“ – auch für den kleinen Löwen und alle, denen Gewalt angetan wurde, die Gutes Böse und Böses Gut nannten. Und, wer die Geschichte des herodianischen Kindermordes kennt, sieht die Parallele: Rahel wird nicht mehr um ihre Kinder weinen. Dann wird das gerechte Licht alles offenbar machen. Am Tag des Zorns – so steht es in Gottes Wort, das ich liebe, mich fürchte und respektiere. Der Gott Israels gebe, dass die Ihn lieben, durchhalten, was noch durchzuhalten ist – mit IHM.

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