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Ehrung für einen unglaublichen Israeli

Der israelische Holocaust-Überlebende Walter Bingham erhält den Verdienstorden des Landes Brandenburg. Mit seinen 99 Jahren reist er nach Deutschland, um Schüler zu Zeugen der Zeitzeugen zu machen.
Von Sandro Serafin

POTSDAM (inn) – „Das ist unglaublich“, sagt Brandenburgs Ministerpräsident Dietmar Woidke (SPD) bewundernd. Gerade hat er das Geburtsjahr seines Gastes aus Israel, Walter Binghams, genannt, den er an diesem Montag in der Staatskanzlei in Potsdam empfängt: 1924. Unglaublich ist aber nicht nur, dass der Scho’ah-Überlebende Bingham damit mittlerweile in seinem 100. Lebensjahr lebt – ein Alter, das „kein Kinderspiel“ ist, wie er selbst sagt. Unglaublich ist vor allem, was er in diesem Alter noch alles macht.

Zum Beispiel per Flugzeug nach Brandenburg reisen, um in dieser Woche hunderten Schülern in verschiedenen Städten von seinen Erlebnissen zu erzählen. Keiner musste Bingham in die Schulen tragen. Er selbst hat darauf gedrängt. „Es ist meine Pflicht als Jude und Überlebender, jetzt darüber zu sprechen und euch darüber zu erzählen, damit es nicht verloren geht“, erklärt er den gut 100 Schülern der Potsdamer Sportschule „Friedrich Ludwig Jahn“ am Montag in einem wohlvorbereiteten und auf Deutsch gehaltenen Vortrag. Es ist die erste von insgesamt fünf Schulen, die er in dieser Woche besucht.

Mit dem Kindertransport gerettet

Die Geschichte, die Bingham den Schülern erzählt und die er mit allgemeinen Informationen über den Nationalsozialismus verknüpft, hat es in sich. 1924 in Karlsruhe geboren, erlebt der Jude die ersten Jahre der Nazi-Zeit am eigenen Leib: In der Schule wird er von Lehrern und Schülern niedergemacht und ausgegrenzt. „Man sah in mir den Untermenschen“ – Bingham zeigt ein Bild seines jüngeren Ich: „Sehe ich nicht gut aus?“, fragt er verschmitzt und fügt hinzu: „Die sahen mich aber nicht so – die sahen an mir Hörner.“

Foto: Sandro Serafin
„Die sahen an mir Hörner“: Der 99-jährige Israeli Walter Bingham und sein jüngeres Ich

Mit 15 Jahren kommt Bingham, der damals noch Wolfgang Billig heißt, mit einem Kindertransport nach Großbritannien. Die Mutter bleibt zurück, überlebt Jahre der Zwangsarbeit; der Vater stirbt im Warschauer Ghetto. 1944 geht es für Bingham zurück aufs europäische Festland, nun als Angehöriger der britischen Armee, in der er als Fahrer eines Krankenwagens fungiert.

Bingham nimmt an der alliierten Landung in der Normandie in Nordfrankreich teil, seine Einheit kämpft gegen Männer der Waffen-SS. In seinem Krankenwagen transportiert Bingham auch Deutsche ins Lazarett: „Das vielleicht schlimmste, was ich je getan habe als Soldat, war, ihnen zu sagen, dass ihr Fahrer ein Jude ist.“

Foto: Sandro Serafin
Sprach mit NS-Außenminister Ribbentrop: Walter Bingham

Nach Kriegsende ist Bingham in Hamburg weiterhin für die Briten aktiv. Er verhört unter anderem NS-Außenminister Joachim von Ribbentrop. Dieser habe ihm ins Gesicht gesagt, dass er von der „Endlösung“ nichts gewusst habe, das sei „der Führer“ gewesen – und er, Ribbentrop, habe davon erst jetzt aus der Zeitung erfahren. „Ich hätte ihn erwürgen können, aber als englischer Soldat durfte ich dem Mann nichts antun“, sagt Bingham.

Die Schüler zu Zeugen machen

Nach der Zeit in Deutschland lebt Bingham weiter in Großbritannien. Im Herzen ist er Zionist: In den 1930ern hatten die Briten verhindert, dass er nach Palästina einreisen konnte; in Großbritannien ist er zeitweise in der Hachschara, der praktischen Vorbereitung der Juden auf ein Leben in Palästina, aktiv. Letztlich verwirklicht Bingham seinen zionistischen Traum im Alter von 80 Jahren, indem er nach Israel einwandert. Heute lebt er in Jerusalem, wo er noch immer für „Arutz Scheva“ eine eigene Radiosendung moderiert und immer wieder für die „Jerusalem Post“ schreibt. Laut „Guinness World Records“ ist er damit der älteste praktizierende Journalist der Welt.

Es ist Bingham wichtig, den Schülern klarzumachen, dass jeder von ihnen, der nun einen Zeitzeugen gehört hat, im Sinne Eli Wiesels selbst zum Zeitzeugen werde: „Ihr seid jetzt Zeugen dieser Zeit.“ Die meisten der Jugendlichen haben zwei Stunden lang aufmerksam zugehört und stellen anschließend interessierte Fragen. Einige wollen unbedingt ein Foto mit der lebenden Legende Walter Bingham abstauben.

Woidke: „Nicht selbstverständlich“

Am Nachmittag empfängt dann Brandenburgs Ministerpräsident Woidke Bingham in der Potsdamer Staatskanzlei. Er verleiht ihm den Verdienstorden des Landes Brandenburg „als Zeichen der Anerkennung und des Dankes für außerordentliche Verdienste um das Land Brandenburg und seine Bevölkerung“. „Es ist nicht selbstverständlich, dass jemand, der 99 Jahre alt ist, solche Anstrengungen auf sich nimmt“, sagt Woidke.

Foto: Sandro Serafin
„Zeichen der Anerkennung und des Dankes“: Ministerpräsident Woidke ehrt Walter Bingham mit dem Verdienstorden des Landes Brandenburg

Als Teil der britischen Armee habe Bingham auch dazu beigetragen, Deutschland eine Zukunft zu geben, betont er. „Für junge Menschen, deren Leben mittlerweile Generationen von dieser Zeit entfernt ist, ist das Gespräch mit jemandem, der dabei war, durch nichts zu ersetzen. Kein Film, keine Aufnahme, kein Podcast, keine Website kann so eindringlich sein wie die persönliche Begegnung. Vielen Dank, lieber Walter Bingham, für Ihren großartigen Einsatz auf diesem Gebiet.“

Bingham, der gemeinsam mit seiner Tochter nach Deutschland gereist ist, hört dem Ministerpräsidenten freudig-aufgeregt zu: „Ich bin überwältigt – wirklich –, diese hohe Ehre vom Land Brandenburg zu erlangen“, sagt er anschließend. „Durch das Erzählen meiner Erinnerungen möchte ich die Warnung unterstreichen, die Edmund Burke zugeschrieben wird: ‚Das Böse triumphiert, wenn gute Menschen nichts dagegen tun.‘ Ich hoffe, dass meine Treffen in den Schulen dazu beitragen, die Worte von Burke in den Schulen zu verwurzeln.“

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Eine Antwort

  1. Es ist wirklich nicht selbstverständlich, erst recht nicht für Shoah-Überlebende, im hohen Alter noch nach Deutschland zu reisen und Vorträge zu halten. Bingham hat realisiert, dass nach ihm keine Generation mehr Zeitzeuge des Holocaust ist. Ein guter Ansatz, bei jungen Schülern zu beginnen.

    Anderes Thema:
    Bei allgemeinen Israelveranstaltungen war leider bisher nicht viel junges Publikum anzutreffen. Im sächsischen Vogtland war das besonders deutlich. Für mich als fast-junge Frau ein merkwürdiges Gefühl. Allerdings ist es auch nicht schlau, den Kontakt zu Israelfreunden von ihrem Alter abhängig zu machen. Das Alter sagt nichts diesbezüglich aus!

    6

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