Es steckt kein System dahinter. Keiner weiß so recht, wer den Trend ins Rollen brachte. Auch die zeitliche Rekonstruktion fällt schwer, wenngleich alle erinnern, dass Anfang 2024 bereits Dutzende Aufkleber an ersten Orten wie Bushaltestellen und Bahnhöfen zu finden waren. Niemand organisiert das. Nichts war geplant oder wird koordiniert.
Design und Druck sind private Initiativen der Familien und/oder der Freunde gefallener Soldaten und ermordeter Zivilisten. Diese Initiativen, die der Toten auf individuelle Art und Weise gedenken, wurden in ihrer Gesamtheit zu einem bemerkenswerten Projekt.
Nationales Gedenken
Mit diesen Aufklebern wird in Israel Zivilisten gedacht, die am 7. Oktober und in den Tagen danach ermordet wurden. Zudem sind sie Soldaten und Sicherheitskräften gewidmet, die infolge des Hamas-Überfalls und des seit fast zwei Jahren tobenden Mehrfrontenkrieges fielen.
Für Israel sind es präzedenzlose Zahlen. 726 Zivilisten sowie 376 Soldaten und Polizisten wurde durch den Terrorüberfall das Leben genommen. Bis Herbst 2025 fielen über 900 Soldaten. Schon Anfang 2025 traf zu: „Es handelt sich um die höchsten Verluste seit dem Jom-Kippur-Krieg von 1973.“

Doch nicht die Flut von Aufklebern in allen Regionen des Landes ließ diese Form des Erinnerns zu einem nationalen Gedenkprojekt werden, dem sich längst auch die Nationalbibliothek Israels widmet. Sie ruft dazu auf, die Sticker digital einzusenden, damit sie „(…) diese Erinnerungsstücke sammeln und bewahren (kann) – für kommende Generationen und zum Gedenken an diejenigen, die wir verloren haben“.
Die Botschaften
Unendlich viele Sticker bedecken in ganz Israel öffentliche Flächen, darunter Bushaltestellen, Bahnhöfe, Schutzräume, Tankstellen, Laternenpfähle und Verkaufsautomaten ebenso wie Sitzbänke. Einige sind bereits vom Sonnenlicht vergilbt, andere haben durch Regen Schaden genommen, doch die meisten sind weiterhin in einem recht guten Zustand. Selten sind sie mutwillig beschädigt.

Kein Aufkleber gleicht dem anderen. Sie haben alle erdenklichen Formen. Einige sind größer als andere, um beispielsweise mehr Text unterzubringen. Es sind individuelle Botschaften, und doch kehren gewisse Phrasen wieder. Das ist vor allem der Fall, wenn es um Gefallene geht. Dann taucht oftmals der offizielle nationale Slogan „Gemeinsam werden wir siegen“ auf. Doch ebenso wiederholt sich der Satz: „Er/Sie gab sein/ihr Leben für unser Land.“
Häufig sind auch typisch jüdische Botschaften zu entdecken, wie „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ (3. Buch Mose 19) oder andere Gebet- wie Psalmenzitate. Fast alle Sticker geben Sätze wieder, die die aus dem Leben gerissenen Menschen prägten oder die sie zum Beispiel als letzte Textnachricht an Eltern oder Partner schickten.
Im Zentrum anderer Sticker stehen Botschaften der Hinterbliebenen, mit denen sie die aus dem Leben Geschiedenen zu charakterisieren versuchen. Doch egal welche Botschaft ein Aufkleber auch hat, allen gemeinsam ist der schmerzerfüllte Wunsch von Familie und Freunden, die Erinnerung an den Toten wachzuhalten.
Obschon Durchhalteparolen auftauchen, so fehlen Aufrufe zur Vergeltung. Das heißt allerdings nicht, dass nicht auch auf diesen Aufklebern eine religiös-tradierte Formel auftaucht, die einen alttestamentarischen Bezug hat und im Judentum dem Namen einer Person nachgestellt wird, die gewaltsam aus dem Leben gerissen wurde: הי“ד – die Buchstaben Hey Jod Dalet bilden das Akronym für „HaSchem Jakom Damo“ – „Möge Gott sein Blut rächen“.
Das Vermächtnis
Allen Stickern gemeinsam sind abgebildete Fotos. Mehrheitlich sind junge Erwachsene zu erkennen, doch auch Reservisten in fortgeschrittenerem Alter wird so gedacht. Manchmal sind es Ganzkörperfotos, oftmals jedoch ausschließlich Gesichter. Diesen Blicken entflieht man nirgendwo in Israel. Die Sticker sind omnipräsent. Doch wer glaubt, wegen der Trauer sei alles grau in grau, der irrt. Nicht nur wegen ihrer Vielfarbigkeit versprühen die Sticker etwas Lebendiges.
Die Fotos zeigen durchgängig die Toten als mitten im Leben stehend, als das Leben genießend. Die meisten lachen. Man sieht, wie sie tanzen, wandern, surfen oder einen guten Tropfen trinken. Andere sind in Uniform, wieder andere mit ihren Haustieren oder gar den Geschwistern oder Freunden auf der letzten gemeinsamen Party abgebildet, bevor sie zusammen ums Leben kamen.

Die große Mehrheit der Fotos wurde in der Natur, am Strand oder bei Festen aufgenommen. Auch wenn sie den schmerzlichen Verlust und die tiefe Sehnsucht veranschaulichen, so strotzen die Aufkleber vor Optimismus mit einer aussagekräftigen Kernbotschaft: Ihr Lächeln soll uns ein Wegweiser sein, dass sie ihr Leben nicht umsonst gaben.
Altbekannt und doch vollkommen neu
In Israel sind Sticker allseits beliebt. Die meisten Autos ziert irgendein Aufkleber. Inhaltlich ist alles dabei. Früher beherrschten politische Botschaften die Stickerlandschaft, wie „Das Volk ist mit dem Golan“ oder Statements gegen den Rückzug aus dem Gazastreifen. Besonders weitverbreitet sind religiöse Slogans, die in Erinnerung rufen, dass der Allmächtige mit dem jüdischen Volk ist.
Nur einmal in Israels Geschichte kursierte ein Sticker, der ein Abschiedsgruß war und an vielen Autos zu sehen war. Den Ausspruch „Schalom Chaver“ prägte US-Präsident Bill Clinton 1995 auf der Beerdigung des ermordeten israelischen Premiers Jizchak Rabin. Gegenwärtig sind an Autos gelbe Schleifen oder Fahnen mit „Bring Them Home Now“ als Solidaritätsbekundungen mit den weiterhin im Gazastreifen festgehaltenen Geiseln zu sehen.
Die hier vorgestellten Sticker erscheinen hingegen nicht an Autos. Es scheint, dass diese individuellen Bekundungen nur im Verbund mit anderen Aufklebern Bedeutung erlangen.
Jenseits offizieller Richtlinien
Diese in Israel bis vor weniger als zwei Jahren ungekannten Aufkleber in Gedenken an Gefallene und Ermordete repräsentieren nicht nur angesichts ihrer Flut eine neuartige Gedenkkultur, sondern vor allem wegen ihrer gemeinschaftlichen Präsenz in der öffentlichen Sphäre. Beides trotzt offiziellen Richtlinien.
Diese Aufkleber zeigen nämlich nicht die Fotos, die die Behörden an die Medien weiterreichen und die Armee und Staat in Gedenkportalen präsentieren. Die Hinterbliebenen wählten vielmehr Fotos, die ihre ermordeten oder gefallenen Lieben so zeigen, wie sie ihr Leben lebten und sie sie in Erinnerung behalten möchten. Zudem ist von Bedeutung, Inhalte zu betonen, die wegen der strikten Beschränkungen der Armee für Ausführungen auf Grabsteinen niemals öffentlich ausgesagt werden können.
Im Gegensatz zu Grabsteinen sind auf vielen Aufklebern nicht unbedingt Nachnamen und schon gar nicht Alter, Todesdatum oder Wohnort verzeichnet. Häufig sind Dienstgrad und Einheit angegeben, mehr nicht. Stattdessen steht die individuelle Botschaft im Fokus des Stickers. Oftmals ist überdies ein QR-Code abgebildet, den Betrachter mit dem Mobiltelefon einlesen können.
Die Websites berichten ausführlicher über die Gefallenen und Ermordeten, erzählen das, was ihnen im Leben wichtig war, was sie charakterisierte oder was die Hinterbliebenen vermissen, teilen und verewigen möchten. Inzwischen gibt es bereits weiterführende Privatinitiativen, die digitale Plattformen aufbauten. Damit wollen sie Überblicke zu den Stickern schaffen und diese Form des Gedenkens zukünftig außerdem als pädagogische Initiative in Klassenräume tragen.
Mehrfacher Brückenschlag
Es ist zum einen dieser inoffizielle Charakter des Gedenkens, der eine neue Erinnerungskultur schuf. Das ist in Israel nicht total neu, denn bereits 2011 wurde im Rahmen einer privaten Initiative parallel zum institutionalisierten Gedenken ein neuartiges Erinnern an die Schoa ins Leben gerufen: Im Rahmen des Projektes „Sikaron BeSalon“ (Erinnerung im Wohnzimmer) laden Privatleute Überlebende zum Erzählen ihrer Geschichte vor einem kleinen Kreis von Gästen ein. Genau wie bei den Stickern pocht auch diese private Gedenkinitiative darauf, dass die Betroffenen – die Lebenden wie die Toten – die eigentlichen Eigentümer ihrer Geschichten sind, keineswegs staatliche Institutionen, Museen und Historiker.
Aus diesem Grund sind solche Aufkleber auch an offiziellen Gedenkinstallationen zu finden. Alle Universitäten zum Beispiel erinnern an Studenten und Mitarbeiter. Für die aufgrund der Ereignisse seit dem 7. Oktober 2023 aus dem Leben geschiedenen Personen wurden besondere Installationen geschaffen. Häufig gibt es hier ebenfalls Sticker, die noch nicht einmal etwas mit den Personen zu tun haben, an die erinnert wird.
Dazu meinte Noam Tirosch, der als Professor für Kommunikationswissenschaften an der Ben-Gurion-Universität des Negev in Be’er Scheva lehrt und gegenwärtig an einer Studie zum Thema arbeitet: „Es ist interessant, dass die Hochschulen sie nicht entfernten. Ich glaube, dass das ein Zeichen dafür ist, dass dieses Projekt nicht so subversiv ist, wie viele immer noch glauben.“ Genau dafür spricht auch das erwähnte Projekt der Nationalbibliothek.
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Zweifelsohne sind die hier vorgestellten Aufkleber ein Aufbegehren der direkt Betroffenen wie auch der passiven Betroffenen, sich nicht in Formate pressen zu lassen, wenn sie den ultimativen schmerzlichen Preis veranschaulichen wollen, den Israels Menschen dafür bezahlen, als freies Volk im eigenen Land zu leben.
Der persönliche Schmerz ist so groß, dass zusätzliche Ausdrucksformen des Gedenkens wichtig wurden. Der kollektive Schmerz ist so überwältigend, dass man sich gegenseitig daran erinnert: Aufgeben ist keine Option. Wir schauen nach vorne und versuchen nach unserem besten Vermögen, positive Kräfte aus dem Verlust zu schöpfen.
Antje C. Naujoks studierte Politologie an der FU Berlin und an der Hebräischen Universität Jerusalem. Die unter anderem freischaffende Übersetzerin lebt seit fast 40 Jahren in Israel, davon mehr als ein Jahrzehnt in Be‘er Scheva.
7 Antworten
Israel hat eine neue Gedenkkultur! Rührend wie mit „tausend“ Ideen versucht wird, diesem Grauen zu gedenken. Heute Früh habe ich von dem jungen Dienstmädchen gelesen, die von Kriegern entführt wurde, nach Syrien. Naeman, der Hauptmann des Königs hatte Aussatz. Das israelische Mädchen sprach zu ihrer Herrin: Ach, dass mein Herr wäre bei dem Propheten in Samaria! Der könnte ihn von seinem Aussatz befreien. Wie kostbar, der syrische Hauptmann nutzte diese Info als letzten Strohhalm, nahm Kontakt auf, und wurde geheilt. 2.Könige 5 – bitte lesen.
Dieser Gott kann auch heute noch gewaltig und übernatürlich eingreifen – wer sagt den Angehörigen der Geiseln von diesem mächtigen Herrn und Gott und seinem Sohn Jesus.
Lieber Gruß Martin
Wohl geschrieben, Frau Naujoks,derlei ist mir im Mai in Netanja auch aufgefallen, es werden die Lebenden gezeigt und gefeiert, die Toten werden betrauert .
Wir Juden feiern nun mal das Leben, die Gabe, das Geschenk des Ewigen, nicht den Tod.
Für den, auch eine Gabe des Ewigen, ist die Trauer und die Klage bestimmt.
SHALOM
Bis Herbst 2025 900 israelische Soldaten, unsere Helden, im Kampf gegen die Barbarei für uns gefallen. Friedrich Merz: „Israel erledigt für uns die Drecksarbeit“.
Mir geht es wie Klaus, auch mir fielen die Plakate in Israel auf, auch gelbe Schleifen in Bäumen, auf Sitzbänken usw. Das Massaker und die Folgen sind allgegenwärtig. Wäre es bei uns anders, würden wir einfach zum Alltag übergehen und sagen, wenn es sein soll kommen die Geiseln frei und wenn nicht, dann halt nicht? Wäre dies von Gott gewollt? Dass man Menschen vergisst, sie abschreibt? Jeshua ging zu den Menschen, er ging auf Menschen zu. Wer dieses ablehnt hat eine schwarze Seele. Menschlich und geistlich komplett versaut.
Israel gedenkt der Menschen, die in den Händen der Hamas sind und das steht im Einklang mit Gottes Willen. Denn Gott liebt die Menschen, sonst hätte er nicht Jeshua geschickt. Ehemalige Geiseln berichten wie wichtig ihnen der Glaube war, während sie in den Händen der Hamas waren. Gläubige Angehörige schöpfen Kraft aus ihrer Beziehung zu Gott.
Was mich allerdings wütend macht ist die Tatsache, dass gestern nur ca 30.000 Israelis in Tel Aviv bereit waren zu gedenken. Wo waren die restlichen, die Samstagabend Bibi muss weg schreien. Da kann man kommen, nur für die Geiseln einstehen ist wohl zuviel verlangt. Was für Heuchler.
Gestern bei der Pro-Israel-Demo in Frankfurt beobachtete ich einen jungen Mann, der sich während des Zuges an sämtlichen Laternenpfählen und Verkehrsschildern am Straßenrand zu schaffen machte. Ich erfasste dann, dass er von diesen mit seinen Fingernägeln sämtliche Pro-Pal-Aufkleber entferne und sprach ihm meine Anerkennung dafür aus. Auch auf diese Weise kann man – neben der Teilnahme an einer Demo für Israel – ein gutes Werk tun. Die Fingernägel werden allerdings arg gelitten haben.
Caja : bravo, so lieb‘ ich meine Heimatstadt ! Hier in Paris habe ich meine Fingernägel auch schon derart misshandelt.
Ein „entwaffnende“ Reaktion Israels, der Menschen ❤️🩹 dort!