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„Stickerim“ – Eine ur-israelische Diskussionskultur

Das jüdische Volk ist in der ganzen Welt für seinen schöpferischen Geist bekannt. Besonders kreativ sind die Israelis, wenn es darum geht, gesellschaftliche und politische Diskussionen in der Öffentlichkeit durch Plakate und Aufkleber, die im heutigen Hebräisch aus dem Englischen abgeleitet „Stickerim“ genannt werden, auszutragen. Beim Blick auf die beklebten Hinterteile vorbeifahrender Fahrzeuge kann man deshalb viel über die politische Einstellung, die Beziehung zum Land aber auch die religiöse Überzeugung der Fahrer erfahren.

„Ha’Am im HaGolan“ – „Das Volk mit den Golan“ – ist vielleicht das Schlagwort mit der längsten Lebensdauer. Als Mitte der 90er Jahre Friedensgespräche mit Syrien als reale Option erschienen, wurde dieser Slogan geboren. Der nordöstliche Nachbar Israels, der radikalen Terrororganisation im Kampf gegen Israel Unterschlupf gewährt, erklärte sich zu Verhandlungen bereit, unter der Bedingung, dass sich Israel aus „allen besetzten arabischen Gebieten zurückzieht“. In Israel wurde das als Forderung eines Rückzugs von den Golanhöhen interpretiert, die Israel 1967 im Sechstagekrieg erobert und 1980 annektiert hatte.

Die Gegner dieser Rückzugsüberlegungen meldeten sich mit dem Aufkleber „Ha’Am im HaGolan“ zu Wort und konkretisierten dann auch noch: „Ich mit dem Golan!“ und: „Ich, ein Linker, mit dem Golan!“, was sich im Hebräischen ganz wunderbar reimt: „Ani Smolan im HaGolan“. Die Siedlervertretung in der Golanhauptstadt Katzrin gab per „Sticker“ bekannt: „Der Golan ist unsere Seele“ und „Von den Golanhöhen werden wir niemals weichen!“

Das blau-rot-schwarze Layout des Aufklebers „Das Volk mit dem Golan“ taucht bis heute in vielen Variationen und verschiedenen Texten immer wieder auf, was ihn zum Vater aller Stickerim macht. So mahnte ein Transparent auf einer stürmischen Likudsitzung die Lager der beiden großen Rivalen in der konservativen Partei Israels zur Einheit: „Netanjahu mit Scharon“.

Aus dem linken Lager war dann bald zu erfahren, dass das „Volk mit Peres“ sei und ein Aufkleber in den Farben der palästinensischen Flagge verkündete, dass die „Araber mit Peres“ sind. Ganz unbeeindruckt proklamierte gleichzeitig ein blau-weißer Sticker: „Ich verlasse mich auf Peres!“ In Jerusalem überraschte einmal ein vorbeifahrendes Auto mit dem Slogan: „Regierung Israels, das Volk ist mit dir.“

Zum Glück für die Sticker-Fans überlebt kaum eine israelische Regierung ihre volle Legislaturperiode, denn in Wahlkampfzeiten haben Sticker natürlich Hochkonjunktur. „Nur Barak!“ wurde innerhalb weniger Stunden mit dem Filzstift in „Nur nicht Barak!“ verwandelt – und tauchte dann wenige Tage später ebenfalls als Gegenaufkleber in dieser Form auf. Viele israelische Fahrzeuge tragen auf Anweisung des TÜV einen roten Aufkleberstreifen auf der Rückseite, der mahnt „Halte Abstand!“ – was von Gegnern der Arbeitspartei zu „Halte Abstand von Barak!“ umgemünzt wurde.

Da die israelische Busgesellschaft Egged in derselben Zeit Werbung machte mit dem Slogan „Egged geht seinen Weg“, warnten Aufkleber bald vor dem damals amtierenden Regierungschef: „Netanjahu geht seinen Weg!“ Enttäuscht über die Zugeständnisse „Bibis“ an die Palästinenser schrie ein Aufkleber in die Welt hinein: „Nur ein Narr wird ein zweites Mal Netanjahu vertrauen!“ Und: „Ich bin für Israel und nicht für Bibi.“

„Netanjahu, ich bin mir sicher!“, „Wir bewahren den starken Netanjahu!“ und „Netanjahu, wir machen einen sicheren Frieden!“ versicherten die Getreuen Benjamin Netanjahus sich selbst und anderen „aufkleberweise“, um dann zu warnen: „Bibi oder Achmed Tibi – einen dritten Weg gibt es nicht“. Achmed Tibi ist ein arabischer Knessetabgeordneter, der im israelischen Parlament vehement palästinensische Interessen vertritt und eine Zeitlang als Berater Jasser Arafats fungierte.

Himmelblau verkündete die Oslo-bewegte israelische Linke Mitte der 90er Jahre auf großen Plakaten: „Israel Rozah Schalom!“ – „Israel will Frieden!“ Sofort waren die Oslo-Gegner auf dem Plan, schmierten Anfangs das Wörtlein „Acher“ per Sprühdose auf die Friedensplakate und mahnte dann im Blick auf die Selbstmordattentatswelle, die den Abkommen von Oslo gefolgt war, auch bald per Aufkleber: „Israel Rozah Schalom Acher!“ – „Israel will einen anderen Frieden!“

Frieden, ein sicherer Frieden, ist überhaupt das Thema in Israel. Ungeduldig meint die israelische Friedensbewegung „Schalom Achschav“ – „Frieden jetzt“: „Es hätte längst Frieden sein können“ und fordert „Rettet den Frieden!“ Nach der Beerdigung des ermordeten Premierministers Jitzchak Rabin waren die Abschiedsworte des amerikanischen Präsidenten Bill Clinton als Aufkleber allgegenwärtig: „Schalom, Chaver“ – „Schalom, Freund!“ „Chaver Ata Chaser“ – „Freund, Du fehlst!“ trauerten diejenigen, die Rabin in Anspielung an den „Sar Schalom“, den Friedefürsten des Propheten Jesaja, als „Mar Schalom“, als „Herrn des Frieden“, verehrt hatten. – „Alles wegen dir, Chaver“ klagte dagegen die politische Rechte an, die Oslo für die Terrorwelle der 90er Jahre verantwortlich machte.

„Nein zu einem Frieden um diesen Preis!“, „Dieser Friede bringt uns um!“ und „Ein Holocaust hat uns gereicht – für einen Lügenfrieden werdet ihr teuer bezahlen, verteilt nicht Stücke vom Vaterland an den Feind“ konterten die Skeptiker. „Os-lo“ meinte ein Aufkleber kurz und bündig, wobei das „Lo“, das im Hebräischen „Nein“ bedeutet, ganz dick hervor gehoben war. Die Antwort der Oslo-Gegner auf „Friede jetzt“ war: „Mit Oslo aufhören – jetzt“. Die palästinensisch-israelischen Abkommen bezeichneten sie als „Einen großen Betrug Rabin 1993“.

„Land für Frieden“ ist ein anderer Dauerbrenner in der israelischen Öffentlichkeit. Die Friedensbewegung proklamiert: „Verlasst die Gebiete, um Israels willen!“ Andere glauben nicht daran, dass Frieden durch Gebietsabgabe erreicht werden kann. Sie sehen in Zugeständnissen an die Palästinenser eine Ermunterung zum Terror und wollen keinen Unterschied sehen zwischen besetzten Gebieten und dem alten Kernland Israels. „Jescha ist hier“ behaupten die Aufkleber in ganz Israel, wobei „Jescha“ eine Abkürzung für „Judäa, Samaria und den Gazastreifen“ ist.

In dieselbe Kerbe schlagen Aufkleber wie „Judäa und Samarien – Herz des Landes Israel“, „Das ist unser Land“, „Das Land Israel dem israelischen Volk“, „Hebron – damals und für immer“ oder „Das Jordantal – Sicherheitsgurt des Staates Israel“. Das „Nein zu einem Palästinensischen Staat“ wird dem Friedensnobelpreisträger Schimon Peres als „Nein zu einem Peres-tinischen Staat“ per Aufkleber ins Gesicht geschleudert. Ironisch parodiert ein anderer Sticker aus dem rechten Lager: „Gnädige Juden! Der Feind braucht bessere Bedingungen für seinen nächsten Liquidationskrieg. Überlasst ihm, bitte, weitere Teile des Vaterlandes. 22 Länder reichen nicht aus“.

Über Jerusalem wurde bis kurz vor Ausbruch der Al-Aksa-Intifada im September 2000 verhandelt. Damals war Ehud Barak israelischer Premierminister. Aus dieser Zeit stammt der Aufschrei „Jerusalem ist unser!“, oder die Warnung: „Barak, verliere nicht den Norden Jerusalems!“ Und: „Gefahr – Jerusalem wird auseinander gerissen!“ Die optimistischen Freunde des israelischen Regierungschefs versicherten: „Jerusalem – Rabin hat es befreit, Barak wird es schützen!“ Wenig beeindruckt lamentiert dagegen ein Aufkleber: „Jerusalem, ohne dich bin ich nur ein halber Mensch!“

Bald nachdem Ariel Scharon die Räumung von 21 jüdischen Ortschaften im Gazastreifen und vier Siedlungen in Samaria im Rahmen seines Planes zur einseitigen Trennung ankündigte, tauchte auch schon der Sticker „Das Volk mit dem Gusch Katif“ auf – wie könnte es auch anders sein. Der „Gusch Katif“ ist der „Katif-Siedlungsblock“ im südlichen Gazastreifen.

Als wollten sie sich selbst Mut einflößen, weil der politische Kampf um die Siedlungsräumungen im Gazastreifen bereits entschieden zu sein scheint, meint ein Siedleraufkleber: „Wir haben Liebe, und die wird gewinnen. Gusch Katif und Samaria!“ Trotzig betonen sie: „Israel wird sich bei seiner Sicherheit, bei der Besiedlung und im Krieg gegen den Terror nicht beugen!“, und erinnern ihre Mitbürger daran: „Ein Ausreißen der Siedlungen ist ein Sieg des Terrors!“

Wo man auf politischer Ebene diplomatisch vom „Abzug“ oder der „Räumung“ jüdischer Siedlungen spricht, sehen die Einwohner des Gusch Katif einen Vorgang, den sie mit „Akira“ bezeichnen – ein Herausreißen mit den Wurzeln. Sie betonen, dass im Gusch Katif jüdische Menschen teilweise schon in der dritten Generation leben. Ein anderer Aufkleber zieht eine Parallele zu den Umsiedlungsplänen radikaler Israelis für die arabische Bevölkerung – was die westliche Welt heute als ethnische Säuberung bezeichnen würde – und proklamiert verzweifelt: „Der Transfer wird nicht durchgehen!“

Ein Teil der israelischen Bewohner des Gusch Katif und Nordsamarias wird seine Wohnungen wohl friedlich räumen. Weil orthodoxe Rabbiner aber unterstreichen, dass das Land Israel nicht an Heiden abgegeben werden darf, bewegen religiöse Soldaten die Option der Wehrdienstverweigerung. „Für jeden Soldat, der sich weigert, trete ich freiwillig ein“, bieten sich Friedensaktivisten per Sticker an. Sie betrachten die „Räumung von Siedlungen“ als „Entscheidung für das Leben“ und meinen zu wissen, dass „Die Mehrheit entscheidet: Wir verlassen Gaza und fangen an zu verhandeln“.

Im Blick auf das Sticker-Phänomen muss in der aktuellen Situation aber die Beobachtung betont werden, dass heute viele Autos mit Sticker-freiem Heck unterwegs sind. Bei den letzten Parlamentswahlen hat das schon das israelische Fernsehen als Symptom der Diskussionsmüdigkeit in Israel gewertet.

Einzig die religiösen Aufkleber halten sich, manchmal alt und verwittert auf rostigem Untergrund, fest. „Bereitet euch vor auf das Kommen des Messias“ mahnt die Chabad-Bewegung unbeeindruckt von der Tatsache, dass der von ihr als Messias proklamierte Lubawitscher Rebbe bereits vor Jahren in New York gestorben ist. Zeitlos bescheiden sind die Bekenntnisse: „Heiliger, gelobt seist Du, wir lieben Dich!“ oder: „Unser himmlischer Vater, wir sind deine Kinder!“ Politisch wissen die frommen Sticker-Kreateure schon lange: „Wir haben niemanden, auf den wir uns verlassen können, außer unserem Vater im Himmel!“ Die volkstümlichere Version dieses Aufklebers verkündet: „Mit Gottes Hilfe wird es gut werden!“

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