Tally Gotliv, Likud-Abgeordnete, wurde am Dienstag, dem 19. August, gewaltsam in Lod aus dem Gerichtssaal von Sicherheitskräften abgeführt. Die Parlamentarierin hatte die Verhandlung mit Zwischenrufen gestört und die Richterin mehrfach unterbrochen. Bei der Anhörung ging es um die Freilassung von Jonatan Urich, einem der Hauptverdächtigen im Korruptionsskandal „Qatargate“ und Berater von Premierminister Benjamin Netanjahu (Likud). Er soll als inoffizieller Sprecher im Premierbüro ohne Offenlegung finanzielle Zuwendungen aus Katar erhalten haben.
Als das Sicherheitspersonal sie hinauswerfen wollte, widersetzte sich Gotliv. Als die Sicherheitskräfte schließlich die Situation unter Kontrolle hatten und die Politikerin aus dem Gerichtssaal nach draußen eskortierten, wurde sie ausfällig: „Schämt euch, ihr Tiere!“ Vor dem Gerichtssaal bezeichnete die Likud-Abgeordnete die Sicherheitskräfte als „Judenrat“ und sorgte damit für große Empörung in der Koalition und im Land.
Justizminister Jariv Levin (Likud) zeigte sich zutiefst erschüttert über Gotlivs Verhalten und diffamierende Äußerungen, ihren Holocaust-Vergleich. Er verurteilte dies noch am selben Tag aufs Schärfste: „Die Gleichsetzung von ‚Judenrat‘ und ‚Tieren‘ mit Sicherheitskräften im Gericht schadet nicht nur der Sache, sondern ist auch eine große Schande, eine Verharmlosung des Holocaust und das genaue Gegenteil der Botschaften, die ein amtierender Abgeordneter vermitteln soll.“ Er fügte hinzu: „Dieses Verhalten steht im direkten Widerspruch zu den Werten des Likud, mit denen ich aufgewachsen bin und die mich geprägt haben.“
Levin wandte sich zudem mit einer Botschaft an seine Partei: „Gotlivs Verhalten, ihr Mangel an Respekt und Kollegialität gegenüber dem Premierminister, den Ministern im Allgemeinen und ihren eigenen Parteikollegen – ihre Sticheleien gegen Likud-Mitglieder, die in den schwersten Zeiten der Partei das Kreuz getragen haben, und ihre ständigen Provokationen – all das schadet dem Likud am Rande eines Wahljahres nur.“
„Judenräte“ waren nationalsozialistische Erfindung
Um die Brisanz von Gotlivs Anschuldigung zu verstehen, folgt hier eine Erörterung des Begriff-Ursprungs „Judenrat“: Innerhalb der jüdischen Gemeinden des nationalsozialistisch besetzten Europas wurden auf deutschen Befehl sogenannte „Judenräte“ eingerichtet. Ihnen wurde die Verantwortung übertragen, die nationalsozialistische Judenpolitik umzusetzen und die interne Verwaltung der Ghettos zu organisieren. Sie waren somit keine frei gewählten Gremien.
Zu ihren Aufgaben gehörten – unter anderem – die Organisation von Zwangsarbeit und die Vorbereitung von Deportationen. Zudem waren sie auch für die innere Ordnung der jüdischen Gemeinden und Ghettos zuständig und versuchten, Dienstleistungen aufrechtzuerhalten.
Die „Judenräte“ hatten unterschiedliche Strukturen und Aufgaben, je nachdem, ob sie für ein einzelnes Ghetto, eine Region oder ein Land zuständig waren. Vereinzelt galt die Gerichtsbarkeit auch für ein ganzes Land, wie etwa in Deutschland, Frankreich, Belgien, den Niederlanden, der Slowakei, Rumänien und dem Protektorat Böhmen und Mähren.
Für die „Judenräte“ bedeutete die Ausführung ihrer oktroyierten Funktion einen moralischen Konflikt und Balanceakt: Einerseits fühlten sie sich moralisch verpflichtet, ihren jüdischen Mitmenschen so weit wie möglich zu helfen. Andererseits sollten sie die Befehle der nationalsozialistischen Behörden ausführen – oft auf Kosten ihrer Glaubensbrüder und Glaubensschwestern.
Seit Herbst 1939
Die ersten Judenräte wurden bereits im Herbst 1939 – nur wenige Wochen nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs – im besetzten Polen gegründet. Dies geschah auf Anordnung von Gestapo-Chef Reinhard Heydrich und wurde umgesetzt von Generalgouverneur Hans Frank.
Der „Judenrat“ sollte sich aus „einflussreichen Persönlichkeiten und Rabbinern“ zusammensetzen. Frank ordnete an, dass der „Judenrat“ in Gebieten mit weniger als 10.000 Juden aus zwölf Mitgliedern bestehen sollte, während er in größeren Städten 24 Mitglieder umfassen sollte. Die Räte sollten von der lokalen Bevölkerung gewählt werden, und der Rat wählte wiederum seinen Vorsitzenden und seinen Stellvertreter, beide mussten von den Nationalsozialisten bestätigt werden. Es sind Fälle dokumentiert, in denen sich jüdische Aktivisten weigerten, den „Judenräten“ beizutreten, was meist Konsequenzen hatte.
Andere Mitglieder der „Judenräte“ hofften, dass durch ihre Mitwirkung die Aufmerksamkeit der deutschen Nationalsozialisten auf die Produktivität der Juden gelenkt werden könne und sie auch positiven Einfluss auf die Handlanger der Nazis nehmen könnten, um die täglichen Demütigungen und Misshandlungen abzumildern. In einigen Fällen nutzten Mitglieder der „Judenräte“ ihre privilegierte Stellung zu ihrem persönlichen Vorteil aus.
Die „Judenräte“ versuchten vielerorts, das Elend und den Hunger in ihren Ghettos zu lindern, indem sie illegal Lebensmittel beschafften, Hilfsorganisationen, Krankenhäuser, medizinische Kliniken und Waisenhäuser gründeten. Ab 1940 wurden die „Judenräte“ angewiesen, Arbeiter für Zwangsarbeit in Arbeitslagern bereitzustellen. In den meisten Fällen kamen die Räte der Forderung der Deutschen nach, was erneut zu Spannungen innerhalb der jüdischen Gemeinde führte.
Nazis forderten Namen für Deportationen
Als die Nazis die „Endlösung“ – die systematische Vernichtung des europäischen Judentums – begannen in Angriff zu nehmen, verlangten sie von vielen „Judenräten“ Namen der Juden, die in Vernichtungslager deportiert werden sollten. Viele „Judenrat“-Mitglieder suchten verzweifelt nach Möglichkeiten, den Deportationsprozess zu verhindern oder zumindest zu verlangsamen. Einige verfolgten die Politik der „Rettung durch Arbeit“, indem sie versuchten, den Deutschen zu demonstrieren, dass die Juden für die Kriegswirtschaft durch Produktion von Waffen und Munition von entscheidender Bedeutung seien.
Einige „Ratsvorsitzende“ beschlossen, Mitglieder der Gemeinde für andere zu opfern. Die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem formuliert es folgendermaßen: „Sie schnitten ihnen die Hand ab, um den Rest des Körpers zu retten.“ Sowohl während als auch nach dem Krieg stieß diese Praxis auf große Kritik und löste heftige Kontroversen aus. Mitglieder von „Judenräten“ organisierten aber auch bewaffnete Widerstände gegen die Nazis.
Die Rolle der „Judenräte“ wurde nach dem Krieg lange tabuisiert und ist bis heute stark umstritten, da sie zwischen Anpassung und Widerstand, Kooperation und Kollaboration angesiedelt war. Bei dem Vorwurf der Kooperation der „Judenräte“ darf man die perfide Vorgehensweise der Nationalsozialisten nicht außer Acht lassen, denn mit der Einrichtung eines „Judenrates“ in jedem Ghetto distanzierte sich die SS vordergründig von der Vollstreckung ihrer Politik. Somit zwang sie die „Judenräte“ zu einer unmoralischen Form der Kollaboration, kurzum: Die „Drecksarbeit“ zu leisten.
Viele Mitglieder des „Judenrats“ klammerten sich an die Hoffnung, ihren jüdischen Mitmenschen helfen zu können, wodurch sie sich in den Augen der anderen an der NS-Vernichtungsmaschinerie mitschuldig machten. Dieser perfide Plan der Nationalsozialisten ging auf, nach dem Krieg wurden die „Judenräte“ der bereitwilligen Mittäterschaft bezichtigt und mussten sich in Ehrengerichtsverfahren rechtfertigen.
Der deutsch-israelische Historiker Dan Dinerdefiniert die prekäre Situation der „Judenräte“ so: Die von den Nazis auferlegte jüdische „Selbstverwaltung“ und ihre Instrumentalisierung im Vernichtungsprozess trugen dazu bei, die sonst sehr klare Linie zwischen Tätern und Opfern zu verwischen, die Opfer in den Tatzusammenhang zu verstricken.
4 Antworten
Ein hochinteressanter und ausgeglichener Artikel. Das grausige Dilemma der „Judenräte“ wirft auch heute noch die Frage auf : was hätte ich in dieser Situation getan ?
Die einzig lautere Antwort ist: Man kann es selbst nicht wissen, was man getan hätte. Alle, die behaupten, sie hätten dieses oder jenes getan, sind mir nicht geheuer.
Es gibt zu diesem Thema eine intelligente Aussage im Neuen Testament, sie lautet sinngemäß: Schriftgelehrte und Pharisäer, ihr sagt, hätten wir zu Zeiten der Propheten gelebt, wir hätten sie nicht erschlagen. Wahrlich, ich sage euch, indem ihr so redet, legt ihr Zeugnis darüber ab, dass ihr in Wahrheit Nachfahren jener seid, die die Propheten erschlugen. Wohl an, so erfüllt auch ihr das Maß eurer Väter!
Antonia, diese Frage konnte nicht einmal die große Hannah Arendt zufriedenstellend beantworten, ja, sie übte sogar selbst Kritik an den Judenräten ,sie hat sich recht intensiv und kontrovers mit dieser Problematik beschäftigt und musste sich infolge dessen einiges an Kritik gefallen lassen………und auch ich selbst habe meine Zweifel an der Rolle der Judenräte und ihren Absichten und Entscheidungen.
Es war wohl wie ein Feststecken zwischen Scylla und Charybdis…………………….SHALOM
Tally Gotliv, Likud-Abgeordnete, wird gewaltsam aus dem Gerichtssaal von Sicherheitskräften abgeführt. Israelische Sicherheitskräfte, die besten von allen.