Zehntausende Haredim bei Massenprotest gegen Wehrpflicht

Mit einem Massenprotest in Jerusalem wenden sich Haredim gegen den Militärdienst. Ein tödlicher Zwischenfall führt zum vorzeitigen Abbruch der Kundgebung.
Von Israelnetz

JERUSALEM (inn) – Etwa 200.000 ultra-orthodoxe Männer haben am Donnerstagnachmittag in Jerusalem gegen die Wehrpflicht protestiert. Mehr als 2.000 Polizisten sicherten die Großkundgebung. Die Veranstalter indes hatten beim „Marsch der Million“ offenbar mit mehr Teilnehmern gerechnet. Sie stellten die Demonstration als „Gebetstreffen“ dar.

Für die Kundgebung kamen zahlreiche Haredim mit Bussen und in vollgefüllten Zügen an den zentralen Bahnhof der israelischen Hauptstadt, Jizchak Navon. Von dort marschierten sie in die Innenstadt. Es gab weder eine Hauptbühne noch Reden. Doch Demonstranten gaben Erklärungen ab, riefen Parolen und schwenkten Transparente. Zudem wurden Gebete gesprochen und Psalmen verlesen.

Gesetzesvorschlag als Auslöser

Anlass für die Kundgebung waren Pläne, in der kommenden Woche einen überarbeiteten Gesetzesvorschlag zur Wehrpflicht für Haredim in den Knesset-Ausschuss für Äußeres und Verteidigung einzubringen. Im Juni 2023 war das Gesetz ausgelaufen, das die allgemeine Freistellung gewährte. 2024 verfügte das Oberste Gericht, die Regierung müsse dafür sorgen, dass Ultra-Orthodoxe eingezogen werden.

Das Gesetz dazu steht noch aus. Die Regierung befürchtet einen Zusammenbruch der Koalition, weil die Schass und die bereits im Juli ausgetretene Partei Vereinigtes Tora-Judentum gegen eine neue Regelung sind. In den vergangenen Monaten gab es überdies zahlreiche Festnahmen von Wehrdienstverweigerern. Sie waren ein weiterer Auslöser der Protestkundgebung.

Die Armee hat derweil mitgeteilt, dass sie 12.000 zusätzliche Soldaten in Kampfeinheiten benötige. Ein Grund seien erhöhte Sicherheitsanforderungen. Zudem seien in den zwei Jahren Krieg seit dem Hamas-Massaker vom 7. Oktober Tausende Soldaten gefallen oder verwundet worden.

Seltene Einigkeit

Ungewöhnlich bei der Protestveranstaltung war, dass unterschiedliche Gruppen der ultra-orthodoxen Bewegung gemeinsam daran teilnahmen. Darauf weist die Nachrichtenseite „Times of Israel“ hin. Allerdings seien die einzelnen Gruppierungen in verschiedenen Zonen für sich geblieben. Rabbiner waren demnach angewiesen, ihre Studenten während der Veranstaltung bei sich zu behalten.

Mehrere Gruppen stehen dem überarbeiteten Vorschlag des Ausschussvorsitzenden Boas Bismuth (Likud) nicht grundsätzlich feindselig gegenüber. Dazu gehören sephardische Gruppen, repräsentiert durch Schass, und die litauische aschkenasische „Degel HaTora“, eine Fraktion des Vereinigten Tora-Judentums. Dessen chassidischer Flügel „Agudat Israel“ hingegen fordert Ausnahmen für alle Tora-Studenten.

Laut des Senders „Kanal 12“ waren die Gruppen zuletzt 2014 vereint aufgetreten. Damals ging es um Bemühungen, ein Gesetz zu etablieren, das eine Quote von Jeschiva-Studenten im Wehrdienst vorsieht.

Radikale Gruppe boykottiert Kundgebung

Die Mehrheit der radikalen Jerusalem-Fraktion boykottierte unterdessen die Kundgebung vom Donnerstag. Sie lehnt jegliche Zusammenarbeit mit Bismuth ab. Die Jerusalem-Fraktion organisiert immer wieder Proteste gegen die Wehrpflicht. Dabei gibt es regelmäßig Zusammenstöße mit den Ordnungskräften.

Bei der „Versammlung der Million“ gaben Haredim fünf Erklärungen ab. So riefen sie: „Die Tora ist unser Leben“, und forderten, dass die bestehenden Regeln erhalten bleiben. Scharfe Kritik war an Justiz und Regierung zu hören: „Die Justizbehörden agieren in dreister Weise gegen die Tora; der israelischen Regierung ist es nicht gelungen, diese schändliche Lage zu verhindern.“

„Sollen im Heiligen Land Tora-Studenten verfolgt werden?“

Wie die Nachrichtenseite „Arutz Scheva“ berichtet, wandten sich Teilnehmer auch direkt an die Bevölkerung: „Unsere Brüder, ist es denkbar, dass ausgerechnet im Heiligen Land Tora-Studenten verfolgt werden sollen?“

Auf dem Weg in die Innenstadt trugen Demonstranten Transparente mit den Parolen „Russland ist hier“ oder „Stalin ist hier“. Ferner war zu lesen: „Lieber als Haredi sterben und sich nicht für die Armee rekrutieren lassen“.

Foto: Israelnetz/mh
„Russland ist hier“ steht auf dem Schild

Für Unmut sorgen Sätze wie: „Bringt sie zurück in die Jeschiva – jetzt!“ Diese Formulierung ist den Forderungen des Forums der Familien von Geiseln nachempfunden, das mit ähnlichen Slogans zur Rückholung der Verschleppten nach Israel aufgerufen hatte. Die Bewegung fordert derzeit umgerechnet rund 100.000 Euro Schadenersatz von einer Jeschiva, weil sie sich deren Symbole für ihre Kampagne gegen die Inhaftierung von Wehrdienstverweigerern aneigne.

Oppositionsführer Jair Lapid (Jesch Atid) kritisierte den Massenprotest. Auf X veröffentlichte er ein Bild von einem englischen Transparent, das von einer Brücke hing: „Wir werden niemals in der Armee des israelischen Feindstaats dienen.“ Dazu schrieb er auf Hebräisch: „Das wird ein Ende finden. Wir werden eine Regierung bilden, und wer sich nicht rekrutieren lässt, erhält keinen einzigen Schekel vom Staat.“

Tödlicher Sturz beendet Kundgebung

Ein tragischer Zwischenfall führte zum vorzeitigen Abbruch der Protestveranstaltung: Viele Haredim hatten die Stockwerke eines im Bau befindlichen Hochhauses erklommen, um die Kundgebung zu beobachten. Dabei stürzte ein 20-Jähriger in den Tod. Sein Name wurde später mit Menachem Mendel Litzman angegeben. Die Polizei geht mittlerweile davon aus, dass es sich um einen Suizid handelt.

Foto: Chaim Goldberg/Flash90
Von dem unfertigen Hochhaus stürzte ein junger Mann in den Tod

Als sich die Nachricht vom Tod des jungen Mannes verbreitete, erklärten die Veranstalter die Demonstration für beendet. Sie forderten die Teilnehmer auf, sich auf sicheren Wegen zu zerstreuen.

Die meisten Demonstranten leisteten dem Folge. Doch Hunderte junge Männer gerieten mit Grenzpolizisten aneinander. Schon vorher hatte es Zusammenstöße mit der Polizei gegeben. Auch Journalisten wurden angegriffen.

Haredim bewarfen die Korrespondentin Inbar Twiser während einer Liveschalte vom „Kanal 12“ mit Wasserflaschen. Die Kollegen im Studio brachen die Übertragung ab und forderten sie auf, einen sicheren Ort aufzusuchen. Später war sie zu sehen, wie sie hinter einer Reihe Polizisten über die Kundgebung berichtete. Der israelische Journalistenverband erhielt weitere Meldungen zu Übergriffen.

Nach der Kundgebung kam es beim zentralen Bahnhof zu weiteren Ausschreitungen. Dabei wurden unbeteiligte Passanten von Steinen getroffen. Sicherheitskräfte schritten ein.

Klagemauer: Zeremonie für ultra-orthodoxe Reservisten

Wenige Stunden vor dem Protest hatten Reservisten der neuen ultra-orthodoxen hasmonäischen Brigade eine friedliche Zeremonie an Jerusalemer Klagemauer abgehalten. Sie feierten den Abschluss ihrer Grundausbildung beim israelischen Militär. In der Brigade gehören Gebete ebenso zum Alltag wie jeden Tag eine Stunde Tora-Studium. (eh)

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2 Antworten

  1. Schickt die Religiösen endlich in den Wehrdienst, Ich sehe es nicht an dass ich diese Personen deren Gehalt finanziere, während Millionen von säkulare Juden verflucht sind, in der Armee zu dienen, ihr Leben riskieren und opfern, arbeiten und dieses Land am Leben erhalten.

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  2. Unsere liebe Freundin in Israel – sie selbst hat zu ihrer Zeit Militärdienst geleister und ihr Sohn ist derzeit bei den Golani – meint, dass die Haredim vor allem Angst davor haben, dass ihre Jungs während des Armeedienstes in Kontakt mit säkulären und liberalen Juden oder gar – huch – mit Soldatinnen kommen und dadurch vom streng orthodoxen Weg abkommen. Für die ist sogar Netzah Jehuda zu frivol. Haben die mitbekommen, was am 7.Oktober 2023 passiert ist ? Glauben die ernsthaft, die Terroristen würden sie verschonen, wenn sie nur laut genug beten ? Im Rahmen unseres Sar-El-Einsatzes hatten wir viele Gespräche mit Soldaten. Manchmal musste man sie bremsen, so wütend waren die auf die Haredim. Manche Bemerkungen wären da bei einem Goy als antisemitisch eingestuft worden. Nur so viel : sie warfen den Oberfrommen vor, auf Kosten der israelischen Gesellschaft zu leben, nicht zu arbeiten und viele Kinder zu produzieren. (Die Soldaten haben das weitaus drastischer ausgedrückt)

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