Netivot in der südlichen Peripherie Israels ist vor allem Anhängern der jüdischen Mystik bekannt. Besondere Anziehungskraft geht vom Grab des Kabbala-Gelehrten Jisrael Abuhazeira, Baba Sali genannt, aus. Zu seiner Beisetzung 1984 fanden sich über 100.000 Trauernde ein, zehnmal mehr, als Netivot damals Einwohner zählte.
Das Netivot der Gegenwart hat eine Infrastruktur für Pilger aufgebaut, die den Zustrom regulieren soll. Doch nicht nur deshalb wird es zu Todestagen von namhaften Rabbinern nicht mehr überschwemmt.
Die Stadt Netivot, deren hebräischer Name dem Buch Sprichwörter 3,17 entlehnt ist und zu Deutsch „Wege“ bedeutet, hat ein rasantes Wachstum durchgemacht. Die Anfänge gehen auf das Jahr 1956 zurück. Zunächst bestand hier ein Auffanglager für sephardische Juden aus arabischen Ländern.
Erst 2000 erhielt Netivot mit über 17.000 Einwohnern Stadtstatus. Seither kamen Juden der Einwandererwellen aus der ehemaligen UdSSR und Äthiopien hinzu. Dies ist ein Ausschnitt des so mannigfaltigen Mosaiks des Staates Israel, der der Stadt eine Homogenität bezüglich Religiosität und politischer Einstellung verleiht.
Die beiden ultra-orthodoxen Parteien erhielten bei der Knesset-Wahl im November 2022 fast 50 Prozent der Stimmen. Zusammen mit dem Likud und der Rechtsaußenpartei „Religiöser Zionismus“ wählten fast 92 Prozent der Einwohner von Netivot Parteien, die die gegenwärtige Regierungskoalition ausmachen.
Die Raketenopfer der Stadt
Auch in Netivot, welches zu jener Zeit mit rund 40.000 Einwohnern die größte Stadt der Region war und lediglich 11 Kilometer vom Gazastreifen entfernt ist, ertönten am 7. Oktober 2023 unaufhörlich die Sirenen. Beim ersten Alarm um 6.29 Uhr waren viele der gläubigen Einwohner bereits in den Synagogen, denn dieser Schabbat war zudem der Simchat-Tora-Feiertag, an dem der Lesezyklus der Fünf Bücher Mose neu begonnen wird.
Israels Süden, und im weiteren Verlauf des Vormittages eine Region bis nach Tel Aviv und Jerusalem, wurde bis zu den Mittagstunden mit rund 4.300 Raketen beschossen. Dabei kamen elf Israelis ums Leben: zwei in der Hafenstadt Aschkelon und sechs Personen – fast nur Kinder – der beduinischen Gemeinschaft, die in den Weiten der Wüste ohne jegliche Schutzmöglichkeit lebt.
In Netivot schafften es drei Mitglieder einer Familie während einer um 11.30 abgefeuerten Raketensalve nicht mehr, sich in Sicherheit zu bringen. Raphael Fahimi (63), sein Schwiegersohn Netanel Maskalchi (36) und sein Enkel Raphael Meir (12), die gerade erst aus der Synagoge zurückgekehrt waren, kamen aufgrund eines direkten Treffers des Hauses ums Leben.
Tragisch ist: Das Haus verfügte sehr wohl über einen Schutzraum. Der war allerdings mit Möbeln und anderen Gegenständen vollgestopft. Wer mit einem schmalen Budget haushalten muss, wirft eben nichts so schnell weg. In Netivot geht es vielen so, denn die Mehrheit der Einwohner muss mit Gehältern auskommen, die 30 Prozent unter dem Landesdurchschnitt liegen.
Die Stadt zählt zu den wirtschaftlich schwächsten des Landes. In diesem Fall kostete die fehlerhafte Abwehr einer Rakete dieser Salve gekoppelt mit der Tatsache, dass der Schutzraum zum Lagerraum umfunktioniert worden war, drei Menschen das Leben.
Ahnungslos, aber unbeirrt Gott anflehend
Trotz der fortwährenden Raketenalarme schalteten religiöse Einwohner weder Mobiltelefone noch Fernsehen oder Radio ein. Für sie waren auch in diesen Momenten Gebete wichtiger, mit denen sie den Allmächtigen um Schutz anflehen.
Die Nachrichten über die Ereignisse in der Region schockierten auch in Netivot, doch zugleich beharrten Einwohner gegenüber den Medien darauf, dass das alles die Strafe Gottes sei. Schließlich hätten „Juden Gebete am Jom Kippur“ gestört. Angespielt wurde auf Zwischenfälle in Tel Aviv. Säkulare Juden hatten dagegen protestiert, dass ein Platz der öffentlichen Sphäre von einem Verein mit rechtskonservativ-religiöser Agenda zur Stätte des Gebets deklariert und zudem Geschlechtertrennung umgesetzt worden war.
Glimpflich davongekommen
Eine Zeitleiste der Ereignisse in Netivot liest sich wie ein Krimi, auch wenn die einfallenden Hamas-Terroristen keinem einzigen Einwohner das Leben zu nehmen vermochten. Schon mit dem ersten Alarm hatte die Stadtverwaltung reagiert und ein Sicherheitsteam entsandt, um Straßensperren zu errichten. Dort sollte Menschen, die die Stadt erreichten, der jeweils kürzeste Weg zu einem Schutzraum gewiesen werden.
Lediglich 16 Minuten später traf an einer solchen Straßensperre ein Zivilist ein, der in der Region von Sderot von Terroristen angeschossen worden war. Nur wenige Minuten darauf trafen drei weitere Zivilisten mit Schusswunden ein. Es dauerte keine 20 Minuten, bis die Verantwortlichen im Krisenzentrum der Stadtverwaltung alle 30 Angehörigen des Sicherheitsteams mobilisiert hatten. Für sie stand fest: Nicht nur in Sderot und auf den umliegenden Straßen sind schwerbewaffnete Terroristen aus dem Gazastreifen unterwegs.
Dass Abwehrkräfte in der Nähe des benachbarten Kibbuz Be´eri ein Terrorkommando ausschalteten, das auf dem Weg nach Netivot war, erfuhr man erst Tage später, als die im Wagen der Hamasniks installierten Kameraaufzeichnungen ausgewertet waren. Die Aufzeichnungen lassen keinen Zweifel daran, dass die Terroristen die „Mission Netivot“ hatten.
Um 8.20 Uhr, rund 70 Minuten nachdem die Stadtverwaltung Rückschlüsse auf nahende Terroristen gezogen hatte, trafen tatsächlich Hamas-Kämpfer in einem gestohlenen Fahrzeug an einer der Straßensperren ein, die zusätzlich weiter vor den Toren der Stadt errichtet worden waren. Es kam zu einer Verfolgungsjagd. Die Terroristen konnten gestellt und erschossen werden. Auch ein drittes Terrorkommando, das sich Netivot vom Osten her näherte, wurde erfolgreich abgewehrt.
Ort der Zuflucht und der Flucht zugleich
Kurz vor 9 Uhr morgens trafen Dutzende von jungen Leuten in Netivot ein. Sie hatten sich vom Nova-Festival beim Kibbuz Re´im in die Kleinstadt durchgeschlagen.
Beinahe hätte es bei den ersten Eintreffenden eine fatale Verwechslung gegeben. Sie waren in einem Fahrzeug unterwegs, das jenen Fahrzeugen ähnelte, in denen überall Hamas-Terroristen gesichtet worden waren. Damals wandte sich der leitende Sicherheitsoffizier der Stadt, Jogev Hasan, in den nationalen Medien sowie über verschiedene andere Kanäle an die Einwohner, um die aufkommende Massenpanik zu zerstreuen.
Im weiteren Verlauf des Tages trafen in Netivot Familien der Kibbuzim Be´eri und Kfar Asa ein. Die Stadt übernahm ihre Erstversorgung und Unterbringung. Das war der Moment, in dem in Netivot ein Notfallzentrum gegründet wurde, das in den nachfolgenden Tagen zudem die Versorgung von notleidenden Einwohnern der Stadt übernahm.
Tatsächlich konnte erst am 8. Oktober, so wie an vielen anderen Orten auch, Entwarnung gegeben werden: Es befinden sich keine Terror-Kommandos mehr in der Nähe. Doch die Raketenangriffe hielten an.
Familien mit kleinen Kindern, Senioren, Menschen mit besonderen Bedürfnissen oder mit Behinderungen konnten dem schwerlich die erforderlichen physischen und psychischen Reserven entgegensetzten. Einigen wirtschaftlich besser gestellten Einwohnern von Netivot war es möglich, zeitweise das Weite zu suchen.
Da Netivot jedoch nicht zu den evakuierten Ortschaften des israelischen Südens gehörte, gab es keine staatliche Förderung für Unterbringungen auswärts. Viele, die lieber eine Auszeit genommen hätten, konnten nicht weg. Andere wären auch dann nicht gegangen, wenn Geld gewunken hätte. Wie auch in anderen Ortschaften bekundeten Einwohner, dass die Stadt ihr Zuhause ist, sie keinen Zentimeter weichen.
Neue Erkenntnisse schockieren
Alle Welt bekam mit, dass Israel auch noch Wochen nach dem 7. Oktober die Zahl der Todesopfer korrigieren musste. Besonders schockierten die Neuigkeiten rund um das Nova-Festival, zu dem sich geschätzt 3.000 junge Leute zum Tanzen in den Morgen hinein eingefunden hatten. Zugegen waren zudem 400 Mitarbeiter und 75 unbewaffnete Ordnungskräfte.
Die Behörden gaben nach Anlaufen der Bergungsarbeiten an, dass hier zirka 260 Leichen geborgen werden müssen. Es sollte nicht viel Zeit vergehen, bis sich herausstellte, dass es 378 Todesopfer alleine hier waren, 344 Zivilisten und 34 Sicherheitskräfte.
Eine überwältigende Mehrheit aller Israelis fordert weiterhin die Einberufung einer staatlichen Untersuchungskommission, die nicht nur die Ereignisse klärt und Fehlleistungen aufdeckt. Sie soll auch die Konstellationen evaluieren, wieso Israel an fast allen Fronten derart unvorbereitet war.
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Die Koalitionsparteien haben erst Anfang des Jahres durch eine Knesset-Abstimmung die Einberufung einer solchen Kommission abgeschmettert. Das bedeutet jedoch nicht, dass Armee und Geheimdienste ihre internen Untersuchungen stoppten. Dabei kommen allgemeine Informationen an den Tag, wie beispielsweise, dass nicht rund 2.000 Terroristen in Israel einfielen, sondern vielmehr 6.000, 3.800 Hamas-Terroristen und 2.200 Anhänger anderer palästinensischer Terrorvereinigungen sowie Zivilisten des Gazastreifens. Immer wieder wird zu einem anderen Ort ein fertiggestellter Bericht herausgegeben.
Der Bericht zum Nova-Festival beinhaltet auch Informationen, die Netivot betreffen. Die Auswertung vor allem der elektronischen Geräte, die die Hamas-Terroristen zwecks Dokumentation ihrer Gräueltaten mitführten, zeigt deutlich: Das 120-köpfige Hamas-Kommando, das auf dem Nova-Festival so vielen jungen Menschen das Leben nahm, hatte eigentlich die „Mission Netivot“. Sie waren lediglich zufällig auf die Veranstaltung gestoßen, weil sie vom richtigen Weg nach Netivot abgekommen waren.
Antje C. Naujoks studierte Politologie an der FU Berlin und an der Hebräischen Universität Jerusalem. Die unter anderem freischaffende Übersetzerin lebt seit fast 40 Jahren in Israel, davon mehr als ein Jahrzehnt in Be‘er Scheva.
8 Antworten
Wie kann die Welt sich anmaßen, Israel zu verurteilen? Israel wurde am 7.10. mit 4300 Raketen beschossen. 378 Menschen kamen auf dem Nova um, 1000 in den Kibuzzinen, in Askelon und Sderot, 250 Geiseln wurden genommen. Netivot blieb verschont, weil die Terroristen vom richtigen Weg abkamen und „zufällig“ auf das Festival trafen.
So sehr mir die Palästinenser leidtun, Israel MUSS Hamas vernichten. Wenn die Terroristen weiter an der Macht bleiben, geht das Ganze in 1-2 Jahren wieder los. In den noch nicht vernichteten 300-400 km Tunneln liegt z.T. Material für neue Raketen und gestohlene Hilfsgüter zum Überleben. Israel hätte m.E. die Freilassung der Geiseln zur Bedingung für erneute Lieferung von Hilfsgütern machen müssen.
„Das Leid der Israelis und Juden wird von der Welt übersehen, während ein Bild eines hungernden Palästinensers weltweite Empörung und Aufrufe zur Vernichtung Israels und des jüdischen Volkes hervorruft.“ (Doron Schneider, Il)
Wie kann das sein? Hat die Welt hat den 7. Oktober schon vergessen? Nicht nur die Terroristen, auch die Welt, kommt vom richtigen Weg ab. Joh.14,6
Wenn man das Massaker und was dort geschah und immer noch an Schmerz bleiben wird, nicht allein die Sorgen um 58 Geiseln, die toten, verletzten Soldaten, der angestiegene weltweite Judenhass usw. usw.
und liest, was Hamas noch planten….. Frage? Da lief gewaltig was schief von der israelischen Regierung her, vom Geheimdienst, Militär und was weiß ich?
Und jetzt? Nur noch Schmerz und Leid. Jeden Tag Verletzte, Tote. Sanktionen gegen Israel?
Hamas ist nicht besiegt. Plünderer von LKWs, las ich vorhin auf IN.
Herr Netanjahu kapiert nicht, dass er sein Volk spaltet., dass er Bevölkerung opfert und seine Träume,
dass er…… und seine Rechten Gaza friedlich besiedeln werden, solche Aussagen kann er sich sonst wohin stecken. Ja, ich bin unendlich traurig, dass mein Volk leidet, aber auch wütend, dass jeden Tag Menschen sterben. Ich hatte es bereits geschrieben, das geht so nicht weiter!
Er kann Hamas nicht besiegen. Die Milliarden schweren Kommandeure sitzen in Kater. Türkei? Die politischen Linken in IL, verraten letztendlich auch ihr Land mit ihrem Gerede. Sie kapieren nicht, dass
IL in die Schranken gewiesen wird und Jerusalem die Hauptstadt der Pals werden soll. Geht überhaupt nicht, wobei ich denen eine Zustimmung zutraue. Land für Frieden brachte nie etwas in IL.
Bitte beten wir, dass Krieg endlich aufhört. Danke. Shalom
Eine Untersuchungskommission, die die Ereignisse klärt und Fehlleistungen aufdeckt? Nein, erst muss die Hamas besiegt werden, dann kann man darüber reden.
Heute habe ich in einer katholischen Kirche mit meiner schlechten Handschrift ein Gebet für den Frieden im Nahen Osten aufgeschrieben und mich zweimal vor den Altar gekniet und gebetet. Mehr kann ich nicht tun.
@Ute Engels
Da tun Sie mehr als manch Anderer. Danke!
@Ute Engels
Unser Bischof, bester Bibelkenner von allen, hätte sich sehr gefreut, wenn er vor diesem Altar gestanden hätte.
Das ist sehr viel, liebe Ute. Toda raba. Shalom
@ Ute Engels.
Das Gebet wird vielfach unterschätz. Es ist nicht wenig, das zu tun.