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Erkenntnisse und Lehren

Er lebt außerhalb des Rudels und ist auf sich allein gestellt, um zu überleben. Dies macht ihn zu einem gewieften Jäger, zum unberechenbaren Raubtier. Die Rede ist vom einsamen Wolf, dem „lone wolf“. In jüngster Zeit ist dieser Begriff in Bezug auf den islamistisch-dschihadistischen Terrorismus neben Israel auch in Europa und den USA allgegenwärtig. Eine Analyse von Marcel Serr
Die Gusch Etzion-Kreuzung im Süden des Westjordanlandes ist immer wieder Ziel von Terroristen

Die Bezeichnung „einsamer Wolf“ beschreibt die Anwendung von Gewalt durch einen einzelnen Täter ohne beziehungsweise mit minimaler Unterstützung anderer Personen oder Gruppen, um ein politisches, soziales, religiöses oder ein anderes Ziel zu erreichen.

Seit Oktober 2015 wurde auch Israel von einer Terrorwelle einsamer Wölfe heimgesucht, sodass bereits von der „lone wolf“-Intifada die Rede war. Die Täter nutzten meist Messer, aber auch Schusswaffen, Bomben und Autos als Waffen. Bis August 2017 kam es zu mehr als 300 Attacken von einsamen Wölfen.

Konfrontiert mit mehreren Angriffen am Tag, sahen sich die Sicherheitskräfte in der anfänglichen Hochphase regelrecht überwältigt. Zum Erschrecken der Beamten gab es so gut wie keine Vorwarnung – viele Attentäter waren den Sicherheitsbehörden zuvor nicht bekannt. Die Angriffe führten zwar auf israelischer Seite zu vielen Verletzten, doch die Zahl an Toten blieb verglichen mit den verheerenden Selbstmordbombenanschlägen der „Zweiten Intifada“ gering.

Das Profil der einsamen Wölfe

Um die „lone wolf“-Angriffe in den Griff zu bekommen, trugen die israelischen Sicherheitsbehörden alle verfügbaren Informationen über die Täter zusammen. Dabei offenbarte sich ein klares Profil: Die Täter haben keine formalen Beziehungen zu Terror-Organisationen. Sie sind zwischen 15 und 24 Jahre alte Muslime; ihre Herkunft lässt sich in der Regel auf sieben Dörfer im Westjordanland eingrenzen. Besonders beliebte Angriffsorte sind die Gusch Etzion-Kreuzung, Hebron, die Tapuah-Kreuzung, Kikar Arjieh bei Ariel und der südliche Zugang zu Nablus.

Die Motive von Attentätern sind breit gestreut und reichen von klassischem Nationalismus bis hin zu Familienproblemen. Religion spielt meist keine Rolle. Viele Attentäter sind inspiriert von vorangegangenen Attacken. Außerdem ist der Tod von Familienangehörigen oder Freunden durch die israelische Armee ein wesentliches Motiv. Einige weisen auch suizidale Tendenzen oder mentale Gesundheitsprobleme auf.

Nach Angaben der israelischen Sicherheitsbehörden hatten 40 Prozent der Angreifer zwischen Oktober 2015 und Januar 2016 Selbstmordabsichten. Viele litten an persönlichen Problemen: Männer und insbesondere Frauen, die zuhause missbraucht wurden, Familienkrisen durchgemacht hatten oder Außenseiter waren. Ihnen gemein ist die Überzeugung, durch ein Attentat als Märtyrer ihrem Leben zu entkommen.

Viele Terroristen handelten spontan. So führte ein Terrorist ein Messerattentat durch, nachdem er sich mit seinem Vater gestritten hatte, der sein iPad beschädigt hatte. In einem anderen Fall fuhr der Sohn eines wohlhabenden Geschäftsmannes den Mercedes seines Vaters in eine wartende Menschenansammlung, nachdem dieser ihm eröffnet hatte, dass sein Bruder das Familiengeschäft übernehmen werde. Israels Geheimdienst bezeichnete die Taten daher als „Rache der Gescheiterten“; durch die Anschläge würden sie zumindest kurzzeitig zu palästinensischen Superhelden.

Verherrlichung des Terrors

Die getöteten Terroristen werden in den sozialen Medien von den Palästinensern als Helden gefeiert. In Flyern und auf Postern werden Jugendliche als Märtyrer verehrt. Wohlwollende Statements von palästinensischen Offiziellen, Besuche bei den Familien von getöteten Terroristen und eine breite Medienberichterstattung geben den Anschlägen eine unterstützende Botschaft.

Doch der Umgang der palästinensischen Medien mit den Messerangriffen ist auf eine bizarre Art zwiespältig. Einerseits wird Israel vorgeworfen, junge Palästinenser eiskalt „hinzurichten“; nicht selten werden Angriffe der palästinensischen Jugendlichen schlichtweg abgestritten. In der palästinensischen Presse ist dann zu lesen, dass Israels Polizei den „vermeintlichen“ Angreifern im Nachhinein Messer in die Hand lege. Andererseits werden die „angeblichen“ palästinensischen Attacken verherrlicht und die Attentäter glorifiziert.

Gleichzeitig sorgt die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) dafür, dass die Hinterbliebenen von Terroristen finanziell durch die „Märtyrerrenten“ abgesichert werden. Ein junger palästinensischer Polizeioffizier verdient im Monat umgerechnet zwischen 480 und 570 Euro; ein Nachwuchsterrorist bekommt schon für seinen ersten Tag in einem israelischen Gefängnis mehr. Wer fünf Jahre und länger in israelischer Haft verbringt, hat Anspruch auf eine PA-finanzierte Pension. Kein Wunder also, dass die israelische Armee von Fällen berichtet, bei denen sich Palästinenser vorsichtig mit einem Messer einer Armeestellung nähern, sich ohne nennenswerten Widerstand festnehmen lassen und später angeben, dass ihnen noch ein paar Monate Haft für die Pensionsansprüche fehlten.

Angepasste Terrorbekämpfung

Die Tatsache, dass Israel mit einsamen Wölfen und nicht mit organisierten Gruppen konfrontiert ist, ist zunächst einmal als ein Erfolg israelischer Terrorbekämpfung zu verstehen. Seit der sogenannten Zweiten Intifada haben es Israels Sicherheitskräfte vermocht, die Terrornetzwerke der Hamas und anderer Gruppen im Westjordanland weitgehend zu neutralisieren.

Israels Sicherheitsbehörden versuchen, durch die Beobachtung der sozialen Medien in Kombination mit sogenannter „human“ und „signal intelligence“ (menschlicher Aufklärung und Signalaufklärung) und das Einspeisen dieser Informationen in ein Frühwarnsystem das Unvorhersehbare vorherzusehen. Genauere Informationen gibt Israels Sicherheitsapparat bislang nicht preis. Aber das Ziel ist es, durch frühzeitiges Eingreifen vor weiteren Attacken abzuschrecken. Da die einsamen Wölfe häufig unmittelbar vor ihren Taten diese in sozialen Netzwerken ankündigen, gilt es für die israelischen Behörden, schnell zu handeln.

Im Westjordanland hatte das Herstellen von Schusswaffen zuletzt drastisch zugenommen. In den vergangenen Monaten ist Israels Militär vehement dagegen vorgegangen und hat dutzende Manufakturen zerstört. Nach Angaben der Armee wurden 2016 43 Waffenproduktionsorte geschlossen und mehr als 450 illegale Schusswaffen konfisziert. Bis April 2017 wurden bereits 12 Manufakturen aufgedeckt und 115 illegale Schusswaffen sichergestellt. Durch diese Maßnahmen sind die Preise auf dem Schwarzmarkt extrem in die Höhe geschnellt.

Außerdem haben sich Israels Sicherheitskräfte an die veränderten Bedingungen angepasst und gelernt, Messerattacken effektiv abzuwehren. Das vermehrte Aufstellen von Betonbarrieren an neuralgischen Punkten wie Bushaltestellen hat ebenfalls zum verbesserten Schutz der Zivilbevölkerung beigetragen. Die Welle palästinensischer „lone wolf“-Attentate schwellt an und ab. Doch in den vergangenen zwei Jahren ist der einsame Wolf als neue terroristische Bedrohung für Israel zunehmend in den Vordergrund getreten – daran wird sich auf absehbare Zeit wenig ändern. Denn vollständig verhindern lassen sich derartige Anschläge kaum.

Marcel Serr ist Politikwissenschaftler und Historiker. Von 2012 bis März 2017 lebte und arbeitete er in Jerusalem – unter anderem als wissenschaftlicher Assistent am Deutschen Evangelischen Institut für Altertumswissenschaft des Heiligen Landes in Jerusalem. Seine Forschungsschwerpunkte liegen auf der israelischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik sowie der Militärgeschichte des Nahen Ostens.

Von: Marcel Serr

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