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„Die Menschen sind dieser endlosen Saga müde geworden“

Israel wählt am kommenden Montag seine 23. Knesset. Es sind die dritten Wahlen innerhalb von zwölf Monaten. Kommt bald noch eine vierte Abstimmung dazu? Fragen und Antworten.
In jüngsten Umfragen sehen die Demoskopen Netanjahus Likud knapp vor Gantz und seinem blau-weißen Bündnis

Wie ist die Ausgangslage?

Im Vergleich zu den vorigen Wahlen ist die Ausgangslage weitgehend unverändert. Insgesamt sind noch 29 Listen im Rennen, von denen es voraussichtlich 8 in die Knesset schaffen. Sämtliche Vorwahlumfragen deuten darauf hin, dass der rechte Block von Benjamin Netanjahu keine Mehrheit erreichen wird. Zuletzt registrierten die Demoskopen allerdings ein „Momentum“ für den Likud, der in Umfragen am blau-weißen Bündnis von Benny Gantz vorbeiziehen konnte. Insgesamt liegen sie jedoch eng beinander. Für Gantz sieht es in Sachen Regierungsbildung noch schlechter aus. Die linke Liste aus Arbeitspartei und „Meretz“, die ihn als Regierungschef unterstützt, ist marginalisiert und kommt voraussichtlich auf um die 10 Sitze. Die Einheitsliste der Araber wird als drittstärkste Fraktion gesehen. Doch mit ihr will Gantz nicht zusammenarbeiten. Denn für sie kandidiert eine Kandidatin, die in der Vergangenheit arabische Terroristen feierte.

Welche Lösung könnte es geben?

Hier kann man nur spekulieren. Die verschiedenen Varianten wurden bereits im Zuge der vergangenen zwei Wahlen durchgespielt – und sind allesamt gescheitert. Die Fronten sind daher verhärtet. So ist inzwischen kaum mehr vorstellbar, dass Avigdor Lieberman, national-säkularer Chef der Partei „Israel Beitenu“, doch noch zu Netanjahu zurückkehrt und eine rechts-religiöse Regierung stützt, wie er es bis 2018 getan hatte. Nicht nur hat er seine ganze Kampagne darauf aufgebaut, die Ultra-Orthodoxen zu attackieren. Inzwischen fährt er auch persönliche Angriffe gegen Netanjahu: „Er war zu lange an der Macht und hat seinen Instikt und seine Motivation verloren, das Notwendige zu tun.“ Lieberman hat angedeutet, gegebenenfalls ins linke Lager überzulaufen und notfalls mit der linken Meretz-Partei zu kooperieren, um Gantz ins Amt zu hieven.

Greift Netanjahu inzwischen persönlich an: Avigdor Lieberman Foto: MSC/Preiss
Greift Netanjahu inzwischen persönlich an: Avigdor Lieberman

Der bräuchte dann allerdings immer noch weitere Unterstützer. Der Ex-Armeechef müsste sich entweder von den Abgeordneten der arabischen Einheitsliste wählen lassen. Dann allerdings würde er sein Wahlkampfversprechen brechen, nicht mit den Arabern zu kooperieren. Oder es bräuchte Überläufer aus Netanjahus Rechtsblock. Dessen Parteien haben dem Likud-Chef aber wiederholt die Treue geschworen.

Die Möglichkeit einer Einheitsregierung aus Likud und Blau-Weiß wurde bereits nach den Wahlen im September verhandelt – ohne Erfolg. Gantz hat seine Kampagne darauf aufgebaut, Netanjahu wegen dessen Korruptionsanklage zu attackieren. Die Gerichtsverhandlungen des Premiers beginnen zwei Wochen nach der Wahl. Eine Zusammenarbeit mit Netanjahu hat Gantz wiederholt ausgeschlossen. Zu denken wäre insofern nur an einen Putsch gegen den Likud-Chef aus den eigenen Reihen. Seine Partei hatte ihm aber erst im Dezember bei den Wahlen zum Parteivorsitz mit überwiegender Mehrheit das Vertrauen ausgesprochen. Parteiinterne Kritiker sind seitdem verstummt.

Sind erneute Neuwahlen denkbar?

Das ist keinesfalls ausgeschlossen, wie schon Äußerungen führender israelischer Politiker zeigen. Der Anführer der ultra-orthodoxen Schass-Partei erklärte am Dienstag im Fernsehen, uneingeschränkt hinter Netanjahu zu stehen – selbst wenn dies einen weiteren Urnengang nach sich zöge. Einem Zeitungsbericht zufolge hat das Zentrale Wahlkomitee sogar schon einen Termin für eine vierte Wahl auserkoren: den 8. September. Avigdor Lieberman äußert sich hingegen anders: „Eine vierte Wahl wird es nicht geben. Punkt.“

Worum ging es im Wahlkampf?

In der Medienberichterstattung dominierten persönliche Angriffe der Kandidaten gegeneinander. Insgesamt wiederholten sich viele Muster, die bereits die vergangenen Wahlkämpfe geprägt haben. So verbreitete Netanjahu am Dienstag einen kurzen Videoclip, in dem sein Herausforderer in verschiedenen unvorteilhaften Situationen gezeigt wird, unter anderem stotternd. „Was ist stimmt nicht mit Benny Gantz?“, schrieb er dazu. Die Vertreter von Blau-Weiß wiederum starteten in der letzten Woche vor der Wahl eine Kampagne, in der Netanjahu als „Erdogan in der Balfour-Straße“ bezeichnet wird. Es geht um die Korruptionsanklage gegen Netanjahu und Spekulationen darüber, dass der Likud-Chef es immer noch darauf absehe, Immunität von der Knesset zu erhalten. Erst im Januar hatte Netanjahu entsprechende Bemühungen eingestellt.

Inhaltliche Gesichtspunkte rückten in den Hintergrund. „Der Wahlkampf war mangels Plakaten und Neuigkeiten kaum bemerkbar“, berichtet Nahost-Korrespondent Ulrich W. Sahm. Mitte Februar stellte der Likud einige Programmpunkte vor, um die hohen Lebenserhaltungskosten zu senken und das Gesundheitssystem zu verbessern. Dem „Kollaps des Gesundheitssystems“ widmete sich auch Gantz in einem Teil seiner Kampagne. Durch den jüngsten Raketenbeschuss aus dem Gazastreifen rückte auch noch einmal die Sicherheitspolitik ins Zentrum der Diskussion. „Die Abschreckung erodiert nicht – sie ist nicht mehr existent“, warf der Ex-General Gantz Netanjahu vor. Zuletzt registrierten Beobachter, dass sich die Parteien vermehrt um die Gunst arabischer Wählerschichten bemühten.

Wie blicken die Israelis auf die Wahlen?

Genervt. So zumindest lesen sich Medienberichte aus Israel. „Die Menschen sind dieser endlosen Saga müde geworden“, sagt auch Nahost-Korrespondent Sahm. „Hoffentlich haben wir bald eine Regierung“, meint Adele Raemer, die im Kibbutz Nirim direkt am Gazastreifen lebt. Der kleine Ort stand in dieser Woche wieder einmal unter Raketenbeschuss. Die Bewohner haben das Gefühl, dass die derzeitige Übergangsregierung nur eingeschränkt handlungsfähig ist. Unterdessen versucht die bekannte Eis-Marke „Ben & Jerry’s“, dem Wahlverdruss entgegenzuwirken. Sie produzierte ein Eis mit der Aufschrift: „Eine süße Wahl. Es gibt einen Grund zu wählen.“

Israelische Behörden befürchteten im Vorfeld, dass die Angst vor dem Coronavirus Bürger davon abhalten könnte, zur Wahl zu gehen. Sicherheitsminister Gilad Erdan wies die Polizei an, gegen Falschmeldungen in diesem Zusammenhang vorzugehen. Für eine Verschiebung der Wahlen gebe es keinen Anlass, sagte Premier Netanjahu. Der Likud-Chef entschied für sich, keine Hände mehr zu schütteln. Für Israelis, die mit dem Virus infiziert sind oder sich in Qarantäne befinden, hat das Wahlkomitee spezielle Wahlstationen eingeplant. Bislang sind allerdings gerade einmal zwei Infektionsfälle bekannt.

Was kostet das Ganze?

Das ist schwer zu sagen. Zu den Kosten für die Wahlen selbst – etwa die Druckkosten für die Wahlzettel – kommen die Auslagen für die Wahlkampagnen der Parteien und die wirtschaftlichen Ausfälle. Denn in Israel sind Wahltage arbeitsfreie Tage. Das Wirtschaftsportal „Calcalist“ sieht alleine den israelischen Staatshaushalt durch die drei Wahlen mit 1,6 Milliarden Schekeln (gut 400 Millionen Euro) belastet. Die indirekten Kosten schätzt es auf 1,5 Millarden Schekel. Das Budget des Zentralen Wahlkomitees wurde vor der anstehenden Wahl deutlich erhöht.

Und was ist mit typisch israelischen Kuriositäten?

Auch die gab es natürlich. So tauchten plötzlich Plakate der arabischen Einheitsliste, auf deren Ticket Islamisten, Nationalisten und Kommunisten in die Knesset einziehen wollen, in ultra-orthodoxen Gegenden auf. Darauf stand der jiddische Schriftzug: „Deine Stimme gegen Zwangseinziehung zur Armee.“

Von: Sandro Serafin

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