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Pessach einmal anders

Seit 3.000 Jahren feiern Juden Pessach, das auch als Fest der ungesäuerten Brote bekannt ist. Sie erinnern an den Auszug aus Ägypten. Das Fest symbolisiert den Übergang von der Sklaverei in die Freiheit und wird traditionell in der Großfamilie gefeiert. In diesem Jahr darf es nur im engsten Familienkreis begangen werden.
Mit sechs ausgewählten Speisen enthält der Seder-Teller eine tiefe Symbolik

JERUSALEM (inn) – Auch wenn sich das Pessachfest über acht Tage erstreckt, bildet den Höhepunkt der Beginn, die Seder-Nacht. An diesem Abend kommt traditionell die ganze Familie zusammen sowie Gäste, die keine Familie haben. Üblich sind daher lange, meist in den Wohnzimmern aufgestellte Tafeln, an denen 15 bis 40 Personen sitzen; es können aber auch mal 60 sein. Bei Nichtjuden sorgt die Kreativität der Gastgeber in den relativ kleinen Wohnungen oft erst für Ver- und dann für Bewunderung.

Das Fest, das an den Auszug aus Ägypten erinnert, beginnt in diesem Jahr am Mittwochabend. Aufgrund der Beschränkungen als Folge des Coronavirus besteht die Anordnung der israelischen Regierung, an diesem Abend die Häuser nicht zu verlassen und nur in der Kernfamilie zu feiern. Bei vielen Israelis sorgen die Einschränkungen seit Wochen für Unsicherheit, denn auch Juden mit eigenen Kindern sind es gewohnt, zu ihren Eltern zu fahren, um bei ihnen den Seder zu feiern. In den vergangenen Tagen boten Zeitungen, Fernsehsender und Internetseiten zahlreiche Anleitungen für Israelis, einen Seder-Abend zu gestalten.

Trotzdem wollen es sich viele nicht nehmen lassen, ihren Seder-Abend mit der ganzen Familie zu begehen. „Mein Mann, unsere zwei Kinder und ich verbringen jedes Jahr abwechselnd den Seder bei meinen und seinen Eltern. Dieses Jahr sind meine Eltern dran“, erzählt Neta aus Giv’atajim. Sie und ihre Familie sind säkular: „Wir werden uns per Zoom dazu schalten.“ Die 40-Jährige lacht verschmitzt: „Ob dieses Mal dann als vollwertig gilt und wir im nächsten Jahr automatisch wieder bei meinen Schwiegereltern feiern, müssen wir noch diskutieren.“

Netas Schwester wird sich aus ihrer Einzimmerwohnung in Tel Aviv dazuschalten, der Bruder ist vor einigen Wochen aus Amerika zurückgekommen und wohnt ohnehin zur Zeit bei den Eltern in Jerusalem. „Ja, die Situation ist traurig in diesem Jahr. Doch selbst wenn es das Verbot nicht gäbe, uns zu treffen, ein Besuch wäre gerade ohnehin nicht weise“, erzählt Neta. „Mein Vater ist mit knapp 70 Jahren Teil der Risikogruppe. Trotzdem arbeitet er jeden Tag weiter als Arzt im Krankenhaus. Meine Schwester ist als Ärztin in einem anderen Krankenhaus tätig. Wir wollen kein Risiko eingehen, den Seder aber trotzdem, so gut es eben geht, miteinander erleben.“

Alles hat seine Ordnung

Seder bedeutet Ordnung, und nach einer bestimmten Ordnung wird die Geschichte des jüdischen Volkes erzählt. Diese Erzählung ist in der Haggada festgeschrieben, dem Buch, das eigens für diesen Abend verfasst und gestaltet wurde und in unzähligen Ausgaben vorliegt. Der Ablauf des Abends ist von einer tiefen Symbolik geprägt. Die Geschichte wird vorgelesen, Symbole werden erklärt, es wird gebetet, gesungen, es gibt gutes und traditionelles Essen und fröhliches Beisammensein. Das ganze dauert oft mehr als drei Stunden, selbst wenn viele säkulare Juden die Haggada gern auch mal abkürzen.

Zu Beginn wird der Sederteller bewundert. Er enthält sechs Elemente: Ein gebratener Hühnerknochen symbolisiert das Pessachopfer. Das Fleisch ist meist entfernt, der Knochen wird nicht gegessen. Ein hart gekochtes Ei steht für die Festtagsopfer im Tempel. Auch das Ei wird nicht gegessen. Der Verzehr von geriebenem Meerrettich soll Tränen in die Augen treiben und an die harte Fronarbeit in Ägypten erinnern, aber auch an eigene Abhängigkeiten. Das Gegenteil davon ist eine süße Apfel-Nuss-Paste, die an die Ziegelsteine erinnern soll, die die hebräischen Sklaven in Ägypten herstellten. Ein Stück Gemüse wird in Salzwasser getunkt und erinnert an die vergossenen Tränen der Sklaven. Weitere Bitterkräuter werden mit dem Stück Gemüse und zusammen mit dem ungesäuerten Brot, der Mazza, gegessen.

Symbolisch ist ein Stuhl für den Propheten Elia reserviert, der die Ankunft des Messias ankündigen soll. Die anwesenden Kinder suchen ihn während der erzählten Geschichten. Die Haggada gibt Antwort auf ihre Fragen: Wie sind die Patriarchen Abraham, Isaak und Jakob nach Ägypten gekommen und wie wurde das jüdische Volk in der Sklaverei Ägyptens unterdrückt? Eingeleitet wird der Abend traditionell mit dem Kiddusch, der Segnung mit einem Glas Wein, die die Heiligkeit des Feiertages ausruft.

Symbolisch trinken die Feiernden vier Gläser Wein. Diese beziehen sich auf Konzepte der Befreiung, die in 2. Mose (Exodus) 6,6f. erwähnt werden: „Darum sage den Israeliten: Ich bin der HERR und will euch wegführen von den Lasten, die euch die Ägypter auflegen, und will euch erretten von ihrem Frondienst und will euch erlösen mit ausgestrecktem Arm und durch große Gerichte; ich will euch annehmen zu meinem Volk und will euer Gott sein, dass ihr’s erfahren sollt, dass ich der HERR bin, euer Gott, der euch wegführt von den Lasten, die euch die Ägypter auflegen.“ Jesus verglich in Markus 14 am Abend vor seiner Kreuzigung den Wein mit seinem Blut, das zur Errettung der Menschen dienen sollte.

Mose nicht in der Haggada

Reihum liest jeder am großen Seder-Tisch die Geschichte vor: Gott sendet zehn Plagen herab, um den Pharao und sein Volk zu bestrafen. Nach Exodus 12 gebietet Gott bei der letzten Plage den Israeliten, ihre Tür mit dem Blut des Pessachlammes zu bestreichen. Dann würde er vorbeigehen (pessach) und sie verschonen. Schließlich lässt der ägyptische Pharao das Sklavenvolk ziehen und die Israeliten ziehen durch das Schilfmeer in das Gelobte Land.

Die Haggada enthält vermeintlich die gesamte Geschichte des Exodus. Und untrennbar mit diesem Ereignis ist die Figur des Mose verbunden. „Doch in der Haggada kommt Mose überhaupt nicht vor“, erklärt Eitan, ein religiöser Jude: „Wir sollen uns daran erinnern, dass es der HERR war, der uns aus Ägypten befreit hat, und keine menschlichen Führer.“

Eines der Lieder, das zum Pessachfest gehört, heißt „Was unterscheidet diese Nacht von allen anderen Nächten“. Dieser Refrain singt traditionell das jüngste Mitglied der Seder-Runde als Frage. Die ganze Runde antwortet auf vierfache Weise: „In allen anderen Nächten dippen wir Gemüse nicht, doch in dieser Nacht dippen wir es zweimal. In allen anderen Nächten essen wir Chametz und Mazza, doch in dieser Nacht nur Mazza. In allen anderen Nächten essen wir nur Gemüse, doch in dieser Nacht auch Bitterkräuter. In allen anderen Nächten essen und trinken manche sitzend und liegend, doch in dieser Nacht liegen wir alle.“ Der Brauch des Liegens beim Verzehr von Speisen stammt aus der Antike. Nur freie Menschen durften liegen. Um ihre Freiheit zu betonen, deuten Juden am Sederabend daher an, dass sie liegend die Speisen zu sich nehmen.

Schmerzlicher Verzicht

Die amerikanische Jüdin Carly Pildis schreibt in einem Artikel: „Dieses Jahr ist anders als alle anderen Jahre. Für meine Familie und für eure.“ Pildis berichtet von vergangenen Sedernächten mit der ganzen Familie, die ihre Mutter für 30 bis 40 Leute ausrichtete. „In diesem Jahr dagegen muss ich die Nacht allein mit meiner Tochter und meinem Mann begehen.“ Sie resümiert: „Wir befinden uns in diesem Jahr in einem schmerzhaften Ausnahmezustand, doch bekommen wir auch eine Gelegenheit, die alte Tradition des Seder-Mahls zu unserer eigenen zu machen.“

Die Trauer über den Verzicht geliebter Gewohnheiten in diesem Jahr ist ihr abzuspüren, doch ebenso die positive Haltung, die sie dazu entwickelt hat: „Und paradoxerweise: diese traurigste aller Seder-Nächte zu feiern, wird plötzlich zu einer großen Freude. Unsere kleine Familie ist sich unserer ‚Jiddischkeit‘ (Begriff aus dem Jiddischen) bewusst. So wie es Juden über Jahrhunderte immer taten; trotz der uns umgebenden Umstände bestehen wir darauf, Freude zu empfinden und wir folgen den Ritualen, die uns zusammenhalten.“

Walter Bingham, der als Jude in den 1930er Jahren in Deutschland wohnte und heute in Israel lebt, ist überzeugt: „Das ist wie der Osterputz!“ Auch für den rüstigen Mittneunziger ist das eine neue Situation und als religiöser Jude kommt für ihn der Einsatz von Elektrizität am Feiertag nicht infrage: „Einen Seder allein zu feiern, das ist auch für mich neu. Doch ich werde mich festlich kleiden und an den Tisch setzen und die Haggada lesen. An den letzten Wochenenden haben wir bei uns im Wohnhaus alle Türen weit aufgesperrt, und dann die gesungenen Schabbatlieder voneinander gehört. Ich denke, das werden wir auch zum Seder so halten. Dadurch bekommen wir das Gefühl, einander nahe zu sein.“

Aufgrund der Corona-Krise sind solche Bilder dieses Jahr in Israel nicht zu sehen Foto: Israelnetz/mh
Aufgrund der Corona-Krise sind solche Bilder dieses Jahr in Israel nicht zu sehen

Während des Pessachfestes ist es Juden untersagt, Sauerteig oder andere gesäuerte Speisen zu essen. Das Brot wird in dieser Zeit durch Mazza ersetzt, das sind flache Platten, die an Knäckebrot erinnern, aber nur aus Mehl und Wasser bestehen. Es ist Brauch, dass vor Pessach das ganze Haus gereinigt wird.

Streng gläubige Jude beleuchten sogar die dunkelsten Ecken mit einer Kerze, um auch die kleinsten Krümel von Chametz, dem Gesäuerten, zu finden. Schränke werden von Schmutz und alten Lebensmitteln gereinigt. Das Chametz wird dann weggeworfen oder an festgelegten Orten im Stadtviertel verbrannt. In religiösen Haushalten gibt es für das achttägige Pessachfest sogar ein eigenes Geschirrset. Wer keines hat, kann sich sein alltägliches Geschirr von Rabbinern auf den Straßen des eigenen Stadtviertels in großen mit heißem Wasser gefüllten Bottichen waschen lassen, so dass es koscher für Pessach wird. In diesem Jahr wurde die Praxis verboten, es gibt im Zweifel die Möglichkeit, auf Plastikgeschirr umzuschwenken.

Für gewöhnlich kommen ultra-orthodoxe Juden an mehreren Orten im Stadtteil zusammen, um Chametz zu verbrennen. In diesem Jahr fallen diese Zusammenkünfte kleiner aus. Foto: Israelnetz/mh
Für gewöhnlich kommen ultra-orthodoxe Juden an mehreren Orten im Stadtteil zusammen, um Chametz zu verbrennen. In diesem Jahr fallen diese Zusammenkünfte kleiner aus.

Wer wertvolles Chametz, zum Beispiel Alkohol, Schokolade oder angebrochene Lebensmittel, nicht wegschmeißen möchte, kann dieses für die Zeit des Pessachfestes zu einem symbolischen Preis an seine nichtjüdischen Nachbarn verkaufen. Zum selben Preis kauft er es dann nach dem Fest wieder zurück.

Eitan weiß: „Chametz lässt den Teig in die Höhe gehen und steht im Übertragenen für Stolz und Hochmut. Hochmut ist das glatte Gegenteil von dem, was uns die Tora lehren möchte. Die flache Mazza hingegen symbolisiert Demut.“ Pessach, das sei auch eine Zeit der Neubesinnung im eigenen Leben und „wir müssen uns fragen: welches Chametz trage ich mit mir herum? Wovon muss ich mich trennen?“ Auch Eitan fährt in diesem Jahr nicht zu seinen Eltern. Der Endzwanziger möchte niemanden gefährden: „Mein Mitbewohner ist seit Wochen bei der Armee. Vielleicht kommt trotz der Ausgangssperre ein Freund zu Besuch, damit ich die Haggada nicht ganz allein lesen muss.“

Eines der drei Wallfahrtsfeste

Pessach, das Wochenfest Schavuot und das Laubhüttenfest Sukkot sind die drei jüdischen Wallfahrtsfeste, an denen Juden zu Zehntausenden zu Zeiten des Tempels nach Jerusalem pilgerten und dort ihre Opfergaben darbrachten. Es geht zurück auf Exodus 23,14f: „Dreimal im Jahr sollst du mir ein Fest feiern: Das Fest der Ungesäuerten Brote sollst du so halten, dass du sieben Tage ungesäuertes Brot isst, wie ich dir geboten habe, im Monat Abib, denn zu dieser Zeit bist du aus Ägypten gezogen. Niemand erscheine mit leeren Händen vor mir!“

Seit dem babylonischen Exil trägt der jüdische Monat Abib den Namen Nisan und bezeichnet nach dem jüdischen Kalender den ersten Monat. Das Pessachfest beginnt mit dem Vorabend des 15. Nisan. Der erste und letzte Tag der Festwoche gelten in Israel als offizielle Feiertage. Diese beiden werden zu Hause oder bei Verwandten verbracht, doch in der Zeit dazwischen sind viele unterwegs. Die Tage gelten als Halbfeiertage: Die Kinder haben Ferien, viele Erwachsene nehmen sich Urlaub und reisen mit der Familie. Normalerweise sind Nationalparks, Wanderwege und andere Attraktionen in ganz Israel überfüllt, in diesem Jahr müssen Israelis wegen der Einschränkungen aufgrund des Corona-Virus gänzlich auf solche Ausflüge verzichten.

Warum besonders den Israelis das so schwerfällt? Joram Jovell, Professor und Psychotherapeut aus Jerusalem, erklärt in einem Telefongespräch: „Grundsätzlich sind Menschen nicht dazu geschaffen, in der Kernfamilie zu leben. Dieses Konzept ist erst im 19. Jahrhundert in viele westliche Kulturen eingezogen. Weil Israel so ein kleines Land ist, treffen Enkel ihre Großeltern relativ häufig. Es ist wohl der erste Seder seit 3.000 Jahren, den Juden kollektiv in ihren Kernfamilien begehen. Selbst im Zweiten Weltkrieg und in den Ghettos Europas schafften Juden es immer irgendwie, den Seder mit ihren Familien zu feiern.“

„Herrschaftskrone“: Ein Lied zur Krise

Angesichts der aktuellen Situation und in Anspielung auf den Namen des Virus hat der religiöse Sänger Ischay Ribo das Lied „Herrschaftskrone“ gedichtet. Darin heißt es unter anderem an Gott gewandt: „Was sollen wir verstehen? Wie sollen wir in diesem Schmerz Abstand voneinander halten und doch zueinanderfinden? Wir möchten mit dir leben und nicht allein sein. Wassollen wir daraus lernen? Wie können wir in dieser Trennung zueinanderfinden? Bis dass dir die Herrschaftskrone gegeben wird!“ Der Sänger verweist auf die beiden Wochenabschnitte Pikudei und VaJikra, in denen Gott nach 2. Mose 38 bis 3. Mose 5 das Volk Israel zum Tempeldienst und zu den Opferdiensten anweist.

Vielleicht hilft dieses „ganz andere“ Pessachfest auch Neta und Eitan sowie Pildis, Bingham und Ribo, ganz neu zu verstehen, was der Erfinder dieses Festes sich wirklich gedacht hat. Ribo jedenfalls singt voller Überzeugung: „Der Frühling ist da und Pessach kommt. Damit kommt viel Hoffnung.“ In Anlehnung an das jüdische Glaubensbekenntnis schließt er sein Lied: „Höre Israel, der HERR ist Einer, der HERR allein.“

Von: mh

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