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„Wasser der Erlösung“

Der 2018 verstorbene Holocaust-Überlebende Israel Yaoz war als Reiseleiter oft mit Christen in Israel unterwegs. Das hat ihn zum Nachdenken über Gemeinsamkeiten und Unterschiede der jüdischen und christlichen Tradition gebracht. In diesem Aufsatz hat er seine Gedanken zu den jüdischen Herbstfesten festgehalten.
Israel Yaoz (1928–2018)

Am Abend des 29. September 2019 beginnt mit dem jüdischen Neujahrsfest (Rosch HaSchanah) das Jahr 5780 „nach Erschaffung der Welt“. Um genauer zu sein: seit dem sechsten Schöpfungstag. Der erste Mensch, Adam, wurde damals erschaffen. Er empfing Gottes Hauch und begann zu atmen. Im Judentum beginnt der Tag mit dem Vorabend; in 1. Mose 1,5 heißt es: „Da ward aus Abend und Morgen der erste Tag.“

Eine chassidische Erzählung veranschaulicht ein zentrales Thema des Neujahrsfestes, nämlich den Menschen als verantwortliches Geschöpf Gottes: „Rebbe Nachman aus Bratzlav (Breslau) sagte zu seinen Studenten: ‚Gott hat nicht den Juden geschaffen, sondern Gott hat den Menschen geschaffen‘, auf Jiddisch: ‚Sei a Mensch!‘ Der Rebbe sagte: ‚Schau hinaus durch das Fenster: was siehst du?‘ Ein Talmudstudent antwortet: ‚Ich sehe Menschen‘. Der Rebbe: ‚Schau in den Spiegel: was siehst du?‘ ‚Mich selbst‘. Darauf der Rebbe: ‚So ist die Menschheit: ein bisschen Silber (der Spiegel), und man sieht nur sich selbst‘“.

An Rosch HaSchanah wird in allen Gebeten in der Synagoge Gott der „König der Könige“ genannt. Doch ein König ist kein König, solange er keine Untertanen hat. So war es ein Grund, die Menschheit zu erschaffen, damit er „Untertanen“ habe. Rosch HaSchanah ist also der Geburtstag der Menschheit! Ein Tag, an dem der Mensch gegenüber sich selbst Rechenschaft ablegen soll – über das, was er mit seinem bisherigen Leben getan hat, was Gott von ihm verlangt, und was er von sich selbst erwartet. Auch im Himmel wird festgelegt, was das kommende Jahr bringen wird, zum Guten wie zum Bösen. In der Synagoge wird das Schofar (Widderhorn) geblasen. Die Gläubigen beten für eine Einschreibung ins himmlische Buch des Lebens. Deswegen wünschen wir uns gegenseitig „ein gutes und gesegnetes neues Jahr“ und „eine günstige Einschreibung und Versiegelung“ im himmlischen Buch des Lebens.

Erntedank und Versöhnung

Auf das Neujahrsfest folgen der Versöhnungstag Jom Kippur (9. Oktober) und das Laubhüttenfest (14. bis 20. Oktober). In biblischen Zeiten war das Laubhüttenfest „Sukkot“ das wichtigste und fröhlichste Pilgerfest des Jahres. Wenn in der Bibel „das Fest“ – also ohne Beinamen – erwähnt wird, ist Sukkot gemeint. Am Abend des ausgehenden Jom Kippur werden die ersten Bretter für die Laubhütte aufgerichtet. Der Fastentag Jom Kippur ist ein Ausdruck der großen Reinigung der Seele und der großen Reinigung des heiligen Tempels.

Fünf Tage nach der großen Reinigung von Leib und Seele beginnt dann das Laubhüttenfest: Wir Juden wohnen in Laubhütten, denn es ist das Erntedankfest. Nachdem sie seit der babylonischen Gefangenschaft vom Boden ihrer Väter vertrieben worden waren, wurde die Erinnerung an die Laubhütten, in denen das Volk während der vierzigjährigen Wüstenwanderung gewohnt hatte, immer wichtiger.

Wasser für das Leben

90 Prozent der Israeliten in biblischen Zeiten waren Kleinbauern, und wer den Tanach (Hebräische Bibel) unter diesem Aspekt liest, stellt fest, dass dieser auf eine landwirtschaftliche Lebenswelt zugeschnitten war. Die Erntezeit ist zu Ende, nun soll man Gott mit Opfern danken und zum Himmel flehen, dass bald ein segensreicher Winter kommt. Denn dieses Land ist abhängig vom Regen (5. Mose 11,10-18). Deshalb beten Juden in den Synagogen weltweit am Laubhüttenfest um Regen.

Johannes 7,37-38 berichtet, dass auch Jesus hinaufzieht zum Laubhüttenfest. Er spricht bei der Gelegenheit von sich als Quelle „lebendigen Wassers“, womit er bewusst an ein wichtiges Ritual des Laubhüttenfestes anknüpfte. In biblischen Zeiten bestieg der Hohepriester an jedem der acht Feiertage eine Bühne auf dem Vorhof des Tempels, um das Wasseropfer darzubringen: Zwei junge Priester schöpften zwei Gefäße voll Wasser aus dem Siloah­Teich und trugen sie empor, begleitet von jubelnden Massen. Der Talmud (Sukkah 51a) berichtet: „Wer die Freude beim Wasserschöpfen nicht erlebt hat, hat nie richtige Freude erlebt.“ Der Hohepriester goss dann dieses Wasser, das als „Wasser der Erlösung“ bezeichnet wurde (eine Anlehnung an Jesaja 12,3), über den Altar. Dabei flehte er um Regen und das Volk achtete darauf, dass nichts versehentlich „daneben ging“.

Ein gutes und gesegnetes neues Jahr und eine günstige Einschreibung und Versiegelung im himmlischen Buch des Lebens; dies ist mein Wunsch für euch und euren Nächsten.

Von: Israel Yaoz

Israel Yaoz wurde 1928 in Gelsenkirchen geboren. Von 1944 bis 1945 war er im Konzentrationslager Bergen-Belsen inhaftiert. Er ist der einizge Scho‘ah-Überlebende seiner siebenköpfigen Familie. 1948 wanderte er nach Israel ein und wurde Reiseleiter. Er verstarb im Frühjahr 2018. Sein Aufsatz wurde redaktionell gekürzt und bearbeitet. Wir danken der Familie von Israel Yaoz an dieser Stelle ausdrücklich für die freundliche Genehmigung zur Veröffentlichung. Zum Erscheinen des Aufsatzes haben Merle Hofer, Brigitta Rosema und Nicolas Dreyer beigetragen.

Diesen Artikel finden Sie auch in der Ausgabe 5/2019 des Israelnetz Magazins. Sie können die Zeitschrift kostenlos und unverbindlich bestellen unter der Telefonnummer 06441/5 66 77 00, via E-Mail an info@israelnetz.com oder online. Gerne können Sie auch mehrere Exemplare zum Weitergeben oder Auslegen anfordern.

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