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„Kehre einen Tag vor deinem Tod um“

Vergebung ist das Zentrum des Versöhnungstages Jom Kippur. Vor 90 Jahren erkannte ein deutscher Rabbiner einen Zusammenhang mit dem Vaterunser. In Israel indes steht an diesem Tag des öffentliche Leben still.
Am Montag nach Mitternacht kamen etwa 100.000 Menschen für die Bußgebete zur Klagemauer

„Der Jom Kippur vergibt Sünden zwischen Gott und Mensch. Sünden zwischen Mensch und Mensch sühnt der Jom Kippur nicht, solange der Mitmensch nicht um Verzeihung gebeten wurde.“ So heißt es in der Textsammlung, die dem Talmud zugrunde liegt, der Mischna (Joma 8,9). Deshalb sprechen Juden in den Wochen vor dem Großen Versöhnungstag nicht nur die Bußgebete (Slichot), in denen sie Gott um Vergebung für ihre Sünden bitten. Sie bemühen sich in diesen Tagen auch besonders darum, Mitmenschen um Verzeihung zu bitten.

In einem Aufsatz von 1929 stellte der Essener Rabbi Salomon Samuel einen Zusammenhang zwischen Jom Kippur und dem Vaterunser her. Unter der Überschrift „Wie auch wir vergeben unseren Schuldigern“ verwies er auf das Zitat aus der Mischna. Daneben stellte er Jesu Erläuterung aus Matthäus 6,14–15: „Denn wenn ihr den Menschen ihre Fehler vergebt, so wird euch euer himmlischer Vater auch vergeben. Wenn ihr aber den Menschen nicht vergebt, so wird euer Vater eure Fehler auch nicht vergeben.“ Der Rabbi merkte dazu an: „Merkwürdig! Das erste Gebet des altneuen Glaubens ein Jom-Kippur-Gebet?“

Zur Bitte „Und führe uns nicht in Versuchung“ schrieb Samuel: „Wie tief war diese Bitte jedem Kinde unserer Gemeinschaft eingeprägt, da sie zum täglichen Morgengebet gehörte. Und wie eng ist sie verknüpft mit dem Bewusstsein unserer menschlichen Schwäche, unserer Neigung zur Sünde, unserem täglichen und oft vergeblichen Kampfe gegen den unser Herz bedrohenden, bösen Trieb.“ Den Aufsatz dokumentiert das Salomon-Ludwig-Steinheim-Institut an der Universität Duisburg-Essen in der aktuellen Ausgabe seiner Zeitschrift „Kalonymos“.

Mit dem jüdischen Neujahr, Rosch HaSchanah, beginnen die zehn „Tage der Ehrfurcht“. Sie betonen Gottes Rolle als Richter. Am Großen Versöhnungstag Jom Kippur endet diese Zeit und erreicht gleichzeitig ihren Höhepunkt. Von Sonnenuntergang bis Sonnenuntergang fasten Juden und verbringen viel Zeit in der Synagoge, wo sie ihre Bitten um Vergebung vor Gott bringen. In diesem Jahr beginnt der Versöhnungstag am Abend des 8. Oktober.

Buch Jona: Ninive erlebte Gottes Gnade

Jom Kippur gilt als der Schabbat schlechthin. In der Synagoge wird das Buch Jona gelesen. Der biblische Prophet widersetzte sich Gottes Auftrag, den Menschen in Ninive eine Bußpredigt zu halten. Stattdessen bestieg er ein Schiff, das ihn möglichst weit in die westliche Gegenrichtung bringen sollte – nach Tarsis in Spanien. Doch Gott brachte ihn zur Umkehr, er predigte den Menschen in Ninive das Gericht, und sie ließen von ihren bösen Wegen ab. Die Stadt im heutigen Irak wurde nicht zerstört, weil Gott mit Gnade auf die Bußbereitschaft der Bewohner reagierte.

Drei Wörter gibt es im Hebräischen für Vergebung: „slicha“, „mechila“ und „kappara“. Im täglichen Leben ist in Israel oft „slicha“ zu hören, wenn jemand etwa um Verzeihung bittet für ein versehentliches Anrempeln im Gedränge. Das Wort „mechila“ kann neben der Vergebung auch das Graben eines Tunnels bedeuten, wenn beispielsweise Häftlinge auf solche Weise aus einem Gefängnis entfliehen. Übertragen heißt das: Wer einem Menschen vergibt, dass dieser ihn verletzt hat, ist von der damit verbundenen Last befreit. Der Ausdruck „kappara“ wiederum ist mit „kippur“ verwandt. Die Betonung liegt hier auf der Reinigung. Durch die Vergebung ist es so, als wäre die Tat nie geschehen. Das macht Versöhnung möglich.

Manche Juden schlachten angesichts des Jom Kippur einen Hahn. Dieser geht quasi stellvertretend für den Menschen in den Tod. Die Zeremonie trägt den Namen „Kapparot“.

Die meiste Zeit des Tages verbringen Juden im Gebet. Jom Kippur ist der einzige Tag, an dem sie fünf vorgeschriebene Gebete sprechen. Ohnehin üblich sind das Abendgebet (Aravit oder Ma’ariv), das Morgengebet (Schacharit) und das Nachmittagsgebet (Mincha). Wie auch an anderen Festtagen gibt es spezielle Zusatzgebete, die unter dem Begriff „Mussaf“ zusammengefasst werden. Einzigartig ist das Ne’ila-Gebet, das nach Mincha gesprochen wird. Es verdeutlicht unter anderem, dass der Mensch sich für ein Leben nach Gottes Geboten entscheiden kann.

Bibel gebietet eintägiges Fasten

In 3. Mose 23,26–32 heißt es: „Und der HERR redete mit Mose und sprach: Am zehnten Tage in diesem siebenten Monat ist der Versöhnungstag. Da sollt ihr eine heilige Versammlung halten und fasten und dem HERRN Feueropfer darbringen und sollt keine Arbeit tun an diesem Tage, denn es ist der Versöhnungstag, euch zu entsühnen vor dem HERRN, eurem Gott. Denn wer nicht fastet an diesem Tage, der wird aus seinem Volk ausgerottet werden. Und wer an diesem Tage irgendeine Arbeit tut, den will ich vertilgen aus seinem Volk. Darum sollt ihr keine Arbeit tun. Das soll eine ewige Ordnung sein bei euren Nachkommen, überall, wo ihr wohnt. Ein feierlicher Sabbat soll er euch sein und ihr sollt fasten. Am neunten Tage des Monats, am Abend, sollt ihr diesen Ruhetag halten, vom Abend an bis wieder zum Abend.“

Bis zur Zerstörung des Zweiten Tempels im Jahr 70 nach der Zeitrechnung betrat der Hohepriester am Jom Kippur das Allerheiligste. Er opferte einen Ziegenbock und schickte einen zweiten in die Wüste, nachdem er ihn symbolisch mit den Sünden des Volkes Israel beladen hatte. Nach dem Verlust des Heiligtums in Jerusalem ersetzten jüdische Gelehrte das Opfer durch Gebete. Viermal wirft sich ein Jude am Versöhnungstag zu Boden, sonst wird im Stehen gebetet.

Kinder nutzen die freien Straßen für Ausflüge Foto: Israelnetz/mh
Kinder nutzen die freien Straßen für Ausflüge

Wie in der Bibel geboten, steht das öffentliche Leben in Israel an diesem Tag still. Deutlich mehr noch als an einem gewöhnlichen Schabbat verzichten Juden auf das Autofahren, außer in Notfällen. Die freien Straßen bevölkern Kinder mit Fahrrädern, Skateboards und Rollschuhen. Säkulare Onlinezeitungen teilen mit, sie würden ihre Berichterstattung nach dem Ende des Fastens wiederaufnehmen. Selbst viele Juden, die sich als weltlich einstufen, gehen am Jom Kippur in die Synagoge und fasten.

Viele Juden tragen an dem Fasttag weiße Kleider. Das erinnert auch an den Tod, der jederzeit eintreffen kann. Im Babylonischen Talmud (Schabbat 153a) ist folgende Episode überliefert: „Rabbi Elieser sagte: Kehre um, einen einzigen Tag vor deinem Tod! Die Schüler fragten R. Elieser: Weiß denn der Mensch den Tag, an dem er sterben wird? Er antwortete ihnen: Darum kehre er heute um, denn vielleicht muss er morgen sterben; also wird er all sein Tage in Umkehr leben!“ Dies machen sich Juden besonders am Jom Kippur bewusst. Die einheitliche Kleidung soll zudem die Einheit des Volkes betonen.

Historie: Jom-Kippur-Krieg überraschte fastende Juden

Vor 46 Jahren, am 6. Oktober 1973, griffen arabische Truppen während des hohen Feiertages Israel an. Trotz der Überraschung konnten die Israelis den Krieg am Ende für sich entscheiden. Er ging als Jom-Kippur-Krieg in die Geschichte ein, Araber nennen ihn „Oktoberkrieg“. Um Anschläge zu verhindern, hat Israel auch in diesem Jahr vor dem Versöhnungstag um Mitternacht die Palästinensergebiete abgeriegelt.

Von: Elisabeth Hausen

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