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Jamaika in Jerusalem

Eine unerwartete Begegnung mit einem Jamaikaner in Jerusalem erweitert den Horizont. Das biblische Symbol des Löwen gibt es in beiden Kulturen.
Von Gundula Madeleine Tegtmeyer

Als Journalistin und im Rahmen meiner Arbeit als Guide für die Hadassah-Organisation komme ich mit Delegationen aus aller Welt und Politikerinnen und Politikern zusammen. Auch prominente Gäste sind nichts Ungewöhnliches.

Und dann gibt es diese unerwarteten und spontanen Begegnungen mit Menschen, die eine ganz eigene Dynamik und Tiefe haben. Meine Begegnung mit Immanuel aus Jamaika ist solch eine Begegnung.

Schon die Begrüßung an der Tür zum Hadassah-Erbe-Zentrum ist ungewöhnlich herzlich und vertraut, und dies, obwohl wir uns noch nie zuvor begegnet waren. Meine beiden Gäste strahlen mich an und bedanken sich höflich für meine Zeit. Wir stellen uns gegenseitig vor, Claire aus Frankreich und ihr Bekannter, Immanuel, aus Jamaika. „Wow, Jamaika, soweit ich weiß, hatten wir noch nie Besuch aus Jamaika, wie spannend“, platzt es aus mir heraus. Wieder dieses umwerfende Lächeln.

Immanuel ist eine auffallende Erscheinung, gekleidet in einen rot-weiß-blau karierten Maßanzug aus teurem Tuch. Als Tochter einer Damenschneidermeisterin habe ich einen Blick für solche modischen Details. Dazu trägt Immanuel farblich abgestimmte Sneakers aus Leder. Mir fallen seine zahlreichen Halsketten auf, etliche Armbänder schmücken auch seine Handgelenke, Ringe zieren seine schmalen Finger. Sein graues Haar trägt Immanuel als Dreadlocks zu einem Dutt hochgesteckt. Ein Rasta von großer Eleganz.

Ausdruck „Babylon“ steht für Sklaverei

In ihrer Religion berufen sich die Rastas auf Auslegungen der Bibel aus afrikanischer Sicht, nach der die Schwarzen außerhalb Afrikas in der Verbannung leben wie einst die Hebräer in der Babylonischen Gefangenschaft. Dies erklärt, warum im Wortschatz der Rastas „Babylon“ für Sklaverei, Unterdrückung und Rassismus steht. Der wohl bekannteste Rasta war der Musiker Bob Marley.

Immanuel betrachtet meine Frisur genauer und entdeckt meine Rastas, feingeflochtene Zöpfe, die ich hin und wieder trage. Er spricht mich auf sie an. Einen Moment lang bin ich verunsichert, denn ich habe Sorge, er könne es als kulturelle Aneignung interpretieren. Ich stammle etwas verlegen eine Erklärung hin, „mit den Zöpfen bändige ich an bad hair days mein volles Haar“. Mein jamaikanischer Gast lächelt mich milde an. Während er meine Hände hält, versichert er mir: „Don´t worry, all good, they are cute on you!“ – „Mach dir keine Sorgen, es ist alles gut, sie stehen dir gut.“ Ich bin erleichtert.

In Israel die eigene Identität ergründen

Wir starten unsere Tour durch die Geschichte der Hadassah-Organisation und die wechselvollen Gründungsjahre der Hadassah-Krankenhäuser. Ich frage meinen Gast, was ihn nach Israel führt, umso mehr in dieser Zeit des Krieges gegen die Hamas. Immanuel, sein Name bedeutet „G´tt ist mit uns“, erzählt mir, er hätte diese g´ttliche Weisung erfahren, nach Israel zu gehen, auch, um im Gelobten Land seine Identität zu ergründen.

Wir schlendern an historischen Fotos vorbei, die die Geschichte des Krankenhauses dokumentieren, und halten einen Moment an der Gedenktafel an die 78 Opfer des Terroranschlags vom 13. April 1947 inne – an jenem Tag verübten Araber aus dem Hinterhalt ein Anschlag auf den medizinischen Konvoi zum Hadassah-Krankenhaus auf dem Skopusberg. Dabei erfahre ich Erstaunliches über meinen Gast aus Jamaika.

Immanuel erzählt mir, sein Vater und auch Großvater seien in Kingston, der Hauptstadt Jamaikas, Rabbiner in der jüdischen Gemeinde Shaarei Shalom („Tore des Friedens“) gewesen. Er selbst lehre seit vielen Jahren Englisch als Fremdsprache an verschiedenen Universitäten. Er schwärmt von der Schönheit seiner Heimat. In Israel wolle er herausfinden, wohin er gehört, was seine wahre Berufung im Leben ist.

Chagall-Fenster faszinieren die Besucher

Wir verlassen das Erbe-Zentrum und setzen unsere Tour in der Abbell-Synagoge mit den Marc-Chagall-Glasfenstern fort. Immanuel und Claire lauschen gebannt meinen Ausführungen über die Geschichte und Manufaktur der Glasfenster in Frankreich, wo Chagall einige Jahre gelebt hat und auch begraben ist.

Der Künstler hatte einst die zwölf Glasfenster der Hadassah-Organisation für die Synagoge gestiftet, als Geschenk an das jüdische Volk. Am 6. Februar 1962 wurden die Fenster im Hadassah-Krankenhaus Ein Kerem und die Synagoge feierlich eingeweiht.

Marc Chagall wurde 1887 in Witebsk im damaligen Russischen Zarenreich, heute Belarus, als Moishe Segal geboren. Er hatte es sich nicht nehmen lassen, den Feierlichkeiten beizuwohnen.

Claire, Immanuels Bekannte, stammt ursprünglich aus Paris. Ich erzähle meinen Gästen von Chagalls Zeit in der französischen Hauptstadt und seinen Begegnungen mit George Braque und Pablo Picasso – beide Künstler gelten als Gründer des Kubismus, der auch Chagall inspiriert hat.

Bekanntschaft mit Picassos Tochter

Um dies zu veranschaulichen, zeige ich auf Chagalls kubistische Darstellung Jerusalems im Fenster von Benjamin, dem jüngsten Sohn der Patriarchen Jakob. Immanuel ist hin und weg und erzählt fast beiläufig, dass er mit Paloma Picasso gut bekannt ist. „Paloma Picasso?“, wiederhole ich erstaunt. „Ja, ja, Paloma. Wir haben während meiner Zeit in Paris als Uni-Dozent uns regelmäßig auf einen Kaffee getroffen.“

Ich bin erneut verblüfft. Paloma Picasso ist eine spanisch-französische Designerin und seit Juni 2023 Nachlassverwalterin für das Erbe ihres Vaters Pablo Picasso und somit auch der „Friedenstaube“. Schon als Kind zeigte Picasso eine große Leidenschaft für Tauben, beobachtete sie fasziniert und zeichnete sie unzählige Male. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Taube zum Symbol für die Friedensbewegung in Ost und West, als der Dichter Louis Aragon, Funktionär der Kommunistischen Partei Frankreichs, eine Taube von Pablo Picasso zum Plakatmotiv für den Pariser Weltfriedenskongress 1949 wählte.

Marc Chagall hatte sich bei den Motiven seiner Fenster aus der Bibel inspirieren lassen: von Jakobs Segenssprüchen über seine zwölf Söhne und den Worten, die Mose zu den zwölf Stämmen sprach, bevor sie in das Gelobte Land einzogen. Ich erkläre meinen interessierten Gästen die Symbolik des jeweiligen Fensters. Als Höhepunkt der Führung lenke ich die Aufmerksamkeit auf das Glasfenster von Juda. Mit der Rastafari-Religion bin ich etwas vertraut, in ihr nimmt der Löwe von Juda eine zentrale Rolle ein.

Das Bild der zwölf Stämme Israels das kennen auch Rastas. Eine der bedeutendsten Rasta-Organisationen, The Twelve Tribes of Israel, T. M., (Die zwölf Stämme Israelis) ist nach diesen benannt. Der Stamm Juda hat unter Rastafarians eine besondere Bedeutung, denn auf diesen führen sie Haile Selassie zurück, von 1930 bis 1974 äthiopischer Kaiser und von ihnen als Reinkarnation Gottes verehrt.

Haile Selassie gilt Rastafarians als direkter Nachkomme von König Salomo und der Königin von Saba, aus deren Verbindung der erste äthiopische Kaiser Menelik I. hervorgegangen sein soll. Das Buch „Kebra Nagast“ (Ruhm der Könige) kreist um diesen Mythos. Es überliefert auch, dass Menelik als junger Mann an den Hof seines Vaters Salomo nach Israel zurückkehrte, wo ein Mitglied seines Gefolges die Bundeslade entwendete und nach Äthiopien brachte.

Dies erklärt, warum Löwe und Davidstern bei den Rastas heilige Symbole sind. Rastafari verorten den biblischen Begriff Israel nach Äthiopien. Rastafari und Judentum glauben an das Kommen des Messias. Wer dieser Messias ist oder sein wird, darüber besteht allerdings kein Konsens.

Die Wurzel des messianischen Glaubens der Rastafari stammt aus der Prophezeiung von Marcus Garvey, sie besagt: „Schau nach Afrika, wo ein schwarzer König gekrönt werden wird, er wird der Erlöser sein.“ Der Aufstieg Haile Selassies erfolgte unmittelbar nach Garveys Voraussage, bestätigte – nach Ansicht seiner Anhänger – seine Prophezeiung und verlieh Selassie unter einigen Rastafari den Titel „Gott der schwarzen Rasse“.

Gesetze aus dem Alten Testament

Sowohl Rastafari als auch Juden sehen das Alte Testament als ihre heilige Schrift an. Die Interpretationen der Gesetze im Alten Testament weichen zwischen den beiden religiösen Gruppen ab. Ein anschauliches Beispiel für ein Gesetz, dem sowohl Rastafari als auch strenggläubige Juden folgen, ist die Einschränkung jeglicher Veränderung der Haare.

In 3. Mose 19,27 heißt es: „Ihr sollt die Ecken eures Hauptes nicht abrunden, und die Ecken eures Bartes sollst du nicht beschädigen“. In 3. Mose 21,5 lesen wir, „sie sollen keine Glatze auf ihrem Kopf machen, noch sollst du sie beschädigen“ und in 4. Mose 6.5: „So lange das Gelübde seiner Trennung vergeht, soll kein Schermesser auf sein Haupt kommen; bis die Tage erfüllt sind. Das, was er dem Herrn verschont, soll er heilig sein und die Locken seines Haupthaars wachsen lassen.“ Dies erklärt die Pejes, dielangen Schläfenlocken und Bärte religiöser Juden, sowie die Rastalocken gläubiger Rastafari.

Immanuel ist von Chagalls Juda-Fenster besonders angetan. Schließlich spielt der Löwe von Juda auch bei den Rastafari eine zentrale Rolle.

Löwe als Attribut für Juda

Im Judentum ist der biblische Juda, hebräisch Jehuda, Namensgeber des Stammes. Er wird traditionell mit einem Löwen symbolisiert. Der Patriarch Jakob spricht von seinem Sohn Juda als einem jungen Löwen (Gur Arije Jehuda), als er ihn segnet.

Foto: Public Domain
Der Löwe ziert das Wappen der Stadt Jerusalem

Durch die Verbindung des Löwen zum Stamm des Juda, der als der mächtigste unter den alt-israelitischen Stämmen, des legendären Nachfahren des Königreichs des Juda, Judäa und den modernen Juden gilt, werden unter Juden Variationen und Übersetzungen des Wortes „Löwe“ oft synonym für Juda (Jehuda) gebraucht. Ein Beispiel dafür ist der Name des Rabbi Jehuda ben Bezel’el Löw, dem die Erschaffung des Golem zugeschrieben wird und der 1609 in Prag starb und . Loew ist das jiddische Wort für „Löwe“. Der beliebte und moderne hebräische Name Arieh (auch Ari oder Arje) heißt übersetzt „Löwe“.

In christlicher Tradition wird der Löwe genannt, um Jesus darzustellen, siehe Offenbarung des Johannes 5,5: „Und einer von den Ältesten spricht zu mir: Weine nicht! Siehe, es hat überwunden der Löwe aus dem Stamm Juda, die Wurzel Davids, aufzutun das Buch und seine sieben Siegel.“

Äthiopische Herrscher gebrauchten Wendung zum Stamm Juda

Im 16. Jahrhundert verwendeten die äthiopischen Herrscher in ihrem Briefverkehr mit Europa in Anlehnung an die Offenbarung des Johannes die Wendung „Gesiegt hat der Löwe aus dem Stamm Juda“, als Eröffnungssatz, um den gemeinsamen christlichen Glauben zu betonen. Die Europäer interpretierten es irrtümlich als Titulatur des äthiopischen Kaisers.

Die Formel wurde zum Leitspruch des äthiopischen Kaiserhauses und Reichsmotto, schmückte Siegel, wurde in Münzen geprägt. In dem ab 1942 erscheinenden äthiopischen Amtsblatt Negarit Gazeta wurde die Formel zur Einleitung von Proklamationen des Kaisers verwendet. Die offizielle englische Übersetzung lautete „Conquering Lion of the Tribe of Judah“ (Erobernder Löwe des Stammes Juda), direkt gefolgt von dem Namen des Kaisers. Sie nahm spätestens mit Haile Selassie auch in Äthiopien den Charakter einer kaiserlichen Titulatur an.

Foto: Tom Lemmens | CC BY-SA 3.0 Unported
Das Wappen der Kaiser von Äthiopien mit gekröntem Löwen

Darstellungen eines gekrönten Löwen von Juda standen vor allem für das äthiopische Kaiserhaus, zuweilen auch für das Kaiserreich Äthiopien. So wurde der Löwe von Juda auf Wappen, Flaggen, Stempeln, Münzen, Denkmälern abgebildet und rahmt gelegentlich Inschriften beidseitig ein, etwa am Zugang zur äthiopisch-orthodoxen Kidane-Mihiret-Kirche, auch Kidane Mehret oder Kidane Mihret, in Jerusalem. Der „Löwe von Juda“ wird auch im legendären Song Iron Lion Zion von Bob Marley thematisiert.

Foto: Public Domain
Auch die äthiopische Nationalflagge zeigt den Löwen

Immanuel und Claire sind von den der Schönheit und Tiefgründigkeit der Chagall-Glasfenster tief berührt. Ich lade meine Gäste ein, noch einige Minuten ohne mich zu verweilen, was sie freudig annehmen. Zum Abschied drehe ich mich an der Synagogentür noch einmal zu den beiden um. Sonnenlicht durchdringt die Glasfenster, die Sonnenstrahlen zaubern an diesem Tag eine besondere Atmosphäre. Womöglich ein himmlisches Zeichen.

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