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Fotos gegen das Vergessen

Eine internationale Ausstellung zeigt Bilder von Menschen, die den Holocaust erlebt und sich danach ein erfolgreiches Leben aufgebaut haben. Die Initiatoren wissen, dass ihnen nicht mehr viel Zeit bleibt, um die Lebensleistung dieser Menschen zu porträtieren.
Der Physik-Professor Andrea Anati erzählt Interessierten seine Geschichte

JERUSALEM (inn) – Von einem Felsen im Wadi Qelt lächelt ein alter Mann dem faszinierten Zuschauer entgegen. Ein anderes Poster zeigt eine weißhaarige Dame, die in ihrem Wohnzimmer ihre alte Rolleiflex justiert und den Betrachter ernst anschaut. Ein Mann im Arztkittel blickt in die Kamera, 60 Jahre hat er über das Erlebte geschwiegen.

Die Fotos sind Teil der Ausstellung „Das Lonka-Projekt – Ein fotografischer Tribut an die letzten Holocaust-Überlebenden“. Mehr als 250 Fotografen aus 35 Ländern haben mehr als 400 Momentaufnahmen von Menschen geschaffen, die sich nach dem Erleben des Holocaust ein erfolgreiches Leben aufgebaut haben. 60 Porträts sind noch bis Ende September auf dem Jerusalemer Safra-Platz zu sehen. Für wenige Wochen waren zehn weitere in der stadteigenen Galerie an der Jaffa-Straße ausgestellt. Ein Teil der Bilder wird im Haus der Ghettokämpfer im Norden Israels zugänglich gemacht. Zum 75. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz wurde ein Teil der Ausstellung im Hauptquartier der Vereinten Nationen gezeigt. Auch in Berlin wurden Bilder präsentiert, virtuell ist die Ausstellung noch zugänglich.

Bilder der Erfolgsgeschichte

Die Idee zu dem Projekt hatte das Fotografenehepaar Rina Castelnuovo und Jim Hollander. Castelnuovo sagte zu Beginn des Projekts: „Als meine Mutter im Sommer 2018 starb, erkannte ich, dass ich mein ganzes Leben vor ihrer Holocaust-Vergangenheit davongelaufen war.“ Ihre Eltern hatten nie über ihre tragische Vergangenheit gesprochen. „Bei uns zuhause herrschte Stille. Ich wusste, was Baracken und Nazis sind, doch als meine Mutter starb, wurde mir bewusst, dass die Verantwortung, die Erinnerung an die Vergangenheit am Leben zu erhalten, nun uns aufgetragen war.“

So entstand das Lonka-Projekt, benannt nach Elenora „Lonka“ Nass, der Mutter Castelnuovoas. Die Fotografen wandten sich an befreundete Kollegen. „Wir baten sie alle um das gleiche: den Überlebenden kennenzulernen und danach ein Porträtfoto zu machen. Abgesehen davon machten wir keine Vorgaben.“

Jedes einzelne Bild ist eine eigene Erfolgsgeschichte. Der Kletterer ist Andrea Anati, emeritierter Professor für Physik an der Hebräischen Universität Jerusalem. Im Rentenalter entdeckte er das Klettern für sich. Die weißhaarige Dame ist Dorothy Bohm, eine Fotografin, die sich in London vor allem mit Straßenfotografie einen Namen machte.

Im Versteck überlebt

Zu jedem Bild gehört ein Text, der Besonderheiten des Lebens des Dargestellten erzählt. So ist über den Mann im Arztkittel zu lesen:

Als die deutschen Truppen 1940 in Brüssel einwandern, wird Schaul Perlberg geboren. „Meine Eltern schufen einen Durchbruch zu der Wohnung unserer älteren Nachbarin, Frau Pirotte. So wurde ich zu ihrem Enkelkind, mein Name war Popol.“ Die junge Familie versteckt sich auf deren Dachboden. Im April 1943 werden sie an die Nazis verraten und die Eltern nach Auschwitz deportiert. Partisanen stürmen den Zug, doch Schauls Eltern gelang die Flucht nicht.

Nach einer umfangreichen Suche in Brüssel findet die Gestapo schließlich den Jungen. Als dieser seine Hose runterlassen soll, um zu zeigen, ob er Jude und der gesuchte Junge ist, kommt ihm der Hund von Frau Pirotte zu Hilfe und treibt die Gestapo-Soldaten in die Flucht.

Mit vier Jahren wird Schaul doch aufgegriffen und soll mit 500 weiteren Kindern nach Auschwitz deportiert werden. Eine Nacht vor der geplanten Deportation schmuggelte der belgische Widerstand die Kinder in Klöster und Farmen. Wegen des Drucks der Alliierten gaben die Nazis die Suche nach den Kindern schließlich auf, sodass sie überlebten.

Zu Kriegsende „suchte mich meine Mutter. Sie hatte Auschwitz und den Todesmarsch überlebt. Sie wusste nicht, wie sie ihren Jungen, der damals zwei und nun fünf war, jemals wiederfinden sollte.“, erzählt Perleberg heute. „Aus dem Eingangsbereich hörte sie Kinder spielen. Plötzlich öffnete sich die Tür und ein Kind schaute sie für den Bruchteil einer Sekunde an. Es rannte die Treppen hinunter und rief laut ‚Mami‘. Ich habe sie sofort erkannt, sie mich nicht.“ 1949 segelten Schaul und seine Mutter mit anderen Überlebenden nach Israel. Schaul studierte Medizin und gründete die Urologie-Abteilung im Hadassa-Krankenhaus auf dem Skopus-Berg. 60 Jahre schwieg er. Dann wurde ein Buch über die 500 Kinder veröffentlicht. Schaul versammelte seine Familie und teilte ihr mit: „Ich bin eines der 500 Kinder.“

Wettlauf gegen die Zeit

Chagai Rot weiß um die Herausforderungen des Projektes: Hinter jedem Foto steckt viel Arbeit. So muss zu jedem Holocaust-Überlebenden der passende Fotograf gefunden werden. Auch sind nicht alle Überlebenden sofort bereit, sich porträtieren zu lassen. Die Arbeit der Fotografen und sonstigen Mitarbeiter ist ehrenamtlich.

Chagai Rot erklärt die Entstehungsgeschichte zu den Bildern Foto: Israelnetz/mh
Chagai Rot erklärt die Entstehungsgeschichte zu den Bildern

Rot ist als Biologe in der Krebsforschung am Weizmann-Institut in Rechovot tätig: „Auch mein Großvater war Holocaust-Überlebender. Er war der einzige, der aus seinem Dorf überlebt hatte.“ Als er vor einigen Jahren als Reservesoldat im Rahmen des Programms „Zeugen in Uniform“ nach Auschwitz fuhr, traf ihn die Erkenntnis, dass es die Zeitzeugen bald nicht mehr geben würde. „Ich bin zwar kein Fotograf, aber ich kann Leute zusammenführen.“

Neben dem bildungstechnischen soll die Ausstellungen auch einen künstlerischen Anspruch erfüllen. Und Rot hat weitere Ziele: So möchte er ein Buch erstellen, auf dessen Seiten ein Barcode abgedruckt ist, hinter dem sich die Geschichte der einzelnen Porträtierten nachlesen lässt. Um das umzusetzen, braucht es noch weitere Freiwillige.

Die Zeit läuft, denn schon jetzt sind auf der Lonka-Homepage zahlreiche Nachrufe zu den Porträtierten veröffentlicht. Zwar kommen einzelne Porträts zur Sammlung dazu, doch Rot weiß: „Bald ist es zu spät, die letzten Holocaust-Überlebenden ausfindig zu machen.“

Von: mh

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