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Ein Land wird umgekrempelt

Das Leben in Saudi-Arabien hat sich in den vergangenen Jahren gewandelt. Ein westlicher Stil hält dank königlicher Reformen Einzug. Die jungen Saudis sind begeistert.
Große Straßenschilder weisen darauf hin, dass Nichtmuslimen das Betreten der Stadt Mekka verboten ist

Die Stimme aus dem Cockpit kündigt an, dass die Besatzung in wenigen Minuten mit den Vorbereitungen zum Landeanflug auf Dschidda beginnen wird. Durch das Fenster schimmert bereits seit geraumer Zeit das Blau des Roten Meeres unter uns.

Dschidda: Mit seinen rund vier Millionen Einwohnern die zweitgrößte Stadt Saudi-Arabiens, an der Westküste der Arabischen Halbinsel am Roten Meer gelegen, dient sie auch als Tor nach Mekka, dem religiösen Zentrum des Islams und Sehnsuchtsort aller Muslime.

Kronprinz Mohammed Bin Salman und König Salman Bin Abdulasis al-Saud auf einem Werbeplakat für einen Juwelier in der Hafenstadt Dschidda Foto: Sonja Riethmann
Kronprinz Mohammed Bin Salman und König Salman Bin Abdulasis al-Saud auf einem Werbeplakat für einen Juwelier in der Hafenstadt Dschidda

Dschidda – das war für mich auch bis 2011 sechs Jahre lang mein Arbeitsplatz und meine Heimatstadt „auf Zeit“. Meine Gedanken fliegen zurück in diese Zeit und ich erinnere mich an meine ersten Eindrücke und Begegnungen dort: Männer, elegant gekleidet in ihren langen weißen Gewändern, in schwarze Abajas verhüllte Frauen, orientalische Märkte und supermoderne Shopping Malls. Ein Land wie aus Tausendundeiner Nacht – und zugleich auch das wohl konservativste und strengste muslimische Land der Welt, in dem ein König nicht nur Hüter der heiligen Stätten von Mekka und Medina ist, sondern absolutistisch herrscht.

Ein Leben lang minderjährig?

Ich erinnere mich an meine ersten Begegnungen mit der „Mutawwa“, der saudischen Religionspolizei. Sie sorgte dafür, dass in der Öffentlichkeit die religiösen und moralischen Sitten gewahrt wurden: dass Frauen angemessen gekleidet und bedeckt waren, die Geschäfte während der täglichen Gebetszeiten geschlossen und die Geschlechtertrennung eingehalten wurde. Restaurants waren unterteilt in „Single Section“ für Männer und „Family Section“ für Familien. Und selbst in der „Family Section“ waren oft noch Trennwände als Sichtschutz zwischen den einzelnen Tischen aufgestellt.

Alkoholische Getränke und natürlich auch Schweinefleisch waren verboten. Frauen durften nicht selbst Auto fahren, in der Öffentlichkeit keinen Sport treiben, nicht Rad fahren und auch nicht Schwimmen gehen. Für Operationen im Krankenhaus oder Reisen ins Ausland brauchten sie die Zustimmung eines „Vormunds“. In der Regel war das der Ehemann, der Vater, der Bruder oder sogar der Sohn.

Während der Gebetszeiten bleiben Geschäfte geschlossen Foto: Sonja Riethmann
Während der Gebetszeiten bleiben Geschäfte geschlossen

„Mein Saudi-Arabien“ – so wie es mir bisher vertraut war – war ein verschlossenes Land, für das man als Europäer und Nicht-Muslim nur schwer ein Besuchervisum erhalten konnte. Umso erstaunter war ich, als ich Ende September letzten Jahres in der amerikanischen Zeitung „New York Times“ las, dass das konservative Königreich Saudi-Arabien seine Türen auch für ausländische Besucher aus 49 Ländern (darunter Deutschland) öffnet, die nicht auf Pilgerfahrt nach Mekka gehen.

Und was ich kaum glauben wollte: Besuchervisa würden innerhalb weniger Minuten online erteilt. Was hatten wir damals als Unternehmen manchmal monatelang um Visaerteilungen gerungen! Und tatsächlich: Nach 20 Minuten, etlichen Klicks und der Überweisung einer Visagebühr kommt mein Visum aus dem Drucker: ein Jahr lang gültig, mehrfache Einreisen möglich.

Reformen von des Herrschers Gnaden

Möglich gemacht hat das alles Kronprinz Mohammed Bin Salman, der seit 2017 de facto für seinen Vater, König Salman Bin Abdulasis al-Saud, die Leitlinien der Politik bestimmt. Mit seinem Reformprogramm „Vision 2030“ öffnet er das Land kulturell und gesellschaftlich. So dürfen Frauen seit Januar 2018 Sportstadien besuchen und im Juni 2018 wurde das Auto-Fahrverbot für Frauen aufgehoben. Auch in Fragen der Religionspolitik betritt Saudi-Arabien Neuland: Der Kronprinz warb öffentlich für eine „Rückkehr“ zu einer moderaten Lesart des Islams. So wurden der Religionspolizei im April 2016 alle Exekutivrechte entzogen; die Mutawwa tritt seither nicht mehr in der Öffentlichkeit auf. Und Touristen, die die „kulturellen Gepflogenheiten“ respektieren, sind nun willkommen.

Und so sitze ich jetzt im Flugzeug und bin gespannt, wie sich „mein Saudi-Arabien“ verändert hat. Die erste Überraschung erwartet mich gleich am Flughafen. „Welcome to Saudi Arabia“, begrüßt mich freundlich eine uniformierte Beamtin mit Kopftuch und Gesichtsschleier und kontrolliert meinen Pass. Auch an anderen Schaltern sehe ich fast überall Frauen arbeiten; vor Jahren wäre das noch undenkbar gewesen.

Eingang zum Suq al-Alawi in der Altstadt von Dschidda Foto: Sonja Riethmann
Eingang zum Suq al-Alawi in der Altstadt von Dschidda

Die Überraschung, Neues zu entdecken, bleibt in der nächsten Woche mein ständiger Begleiter: aufgeräumte Straßen, Frauen am Lenkrad, an der Strandpromenade flanierende Pärchen und Familien auf Fahrrädern, gemischte Cafés und Restaurants, Kinos in Shopping Malls und vereinzelt immer wieder Frauen, die anstatt einer schwarzen Abaja hellere Farben tragen. Das Land hat sich sichtbar verändert.

„Mehr als die Hälfte der Saudis ist unter 30“, erklärt mir Phil, der seit über fünfzehn Jahren für eine saudische Prinzenfamilie arbeitet. „Die jungen Leute wollen ihr Leben so frei leben, wie sie es aus Dubai, Europa oder Amerika kennen. Sie sind vom Kronprinzen und den Veränderungen im Land begeistert. Neulich haben wir im Palast sogar eine Mahnung bekommen: Der Strom wird abgedreht, wenn unsere Stromrechnung nicht bald bezahlt wird. Das hätte es früher nie gegeben.“

Kritik am Kronprinzen nur mit gesenkter Stimme

Wenn ich mit Bekannten über die Ermordung des regimekritischen Journalisten Dschamal Chaschoggi durch ein saudisches Spezialkommando in Istanbul spreche, senkt sich die Stimme: Man äußerst sich nicht gern kritisch über MBS, wie der Kronprinz hier überall genannt wird.

So willkommen die Reformen von Herrschers Gnaden bei vielen sind, so gefürchtet bleibt die Macht des starken Mannes, der mit seinen Kontrahenten wenig zimperlich umgeht. Im Herbst 2017 ließ der Kronprinz mehr als 200 führende Persönlichkeiten des Landes in einem Luxushotel in Riad festsetzen. Unter anderem wurde ihnen Korruption vorgeworfen. MBS hat sich nicht bei allen beliebt gemacht. Es hält sich das Gerücht, dass seine engsten Bewacher alle aus dem Ausland kommen und bereits mehrere Attentate auf ihn vereitelt worden seien.

Im März berichtet zuerst die „New York Times“, dass in Saudi-Arabien mehrere hochrangige Mitglieder der Königsfamilie festgenommen worden seien. Ihnen werde Verschwörung vorgeworfen. Unter den Verhafteten seien auch ein Bruder und ein Neffe des Königs Salman.

Sport-Events im Land

Saudi-Arabien befindet sich in der Sportoffensive. Es will seinen Rückstand auf das Nachbarland Katar reduzieren, in dem 2022 die Fußball-Weltmeisterschaft stattfindet. Im italienischen Supercup spielte im Dezember Lazio Rom gegen Juventus Turin – und zwar in Riad. Im Januar war die Rallye Dakar zu Gast und das Finale des spanischen Fußball-Supercups zwischen dem FC Barcelona und Real Madrid wurde in Saudi-Arabien gespielt. Weitere Sport-Events werden folgen.

Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International wirft Saudi-Arabien vor, sich mit den Events von der Kritik bezüglich der Menschenrechte „reinwaschen“ zu wollen und das eigene Ansehen mithilfe des Sportes aufzuwerten. Viele Länder haben in der Vergangenheit auf die positive Strahlkraft des Sportes gesetzt: China mit der Olympiade, Russland mit der Fußball-WM. Auch die Fußball-WM 2006 in Deutschland „zu Gast bei Freunden“ sollte der Welt das Bild eines fröhlichen, weltoffenen Deutschlands vermitteln.

Visionen für die Zukunft

Im Dezember hat Saudi-Arabien die G20-Präsidentschaft übernommen. Der G20 gehören die Europäische Union und 19 führende Wirtschaftsnationen an. Kronprinz Mohammed Bin Salman wird damit Gastgeber des nächsten Gipfels, der im November 2020 in Riad stattfinden soll. Bereits im Vorfeld erklärte das Königreich, die Präsidentschaft werde unter dem Motto „Verwirklichen der Chancen des 21. Jahrhunderts für alle“ stehen. Ziel sei es, Verhältnisse zu schaffen, in denen insbesondere Frauen und Jugendliche leben, arbeiten und Erfolg haben können. Riad wolle außerdem auch Klimaschutzmaßnahmen vorantreiben und sich für Innovationen und technischen Fortschritt einsetzen.

In der Hauptstadt treffe ich Bekannte in der neu eröffneten „Riyadh Front“, einem riesigen Komplex mit Kinos, Restaurants und Geschäften, der an die großen amerikanischen Einkaufszentren erinnert. Die Sonne ist bereits untergegangen und die Menschen drängen sich in den Cafés. Amal und Murad sind beide fast dreißig. Sie waren bisher noch nicht auf Reisen außerhalb ihres Landes. Murad ist modern westlich gekleidet, Amal trägt eine dunkelblaue Abaja. Beide haben sich vor einiger Zeit christlich taufen lassen. Beide wissen nur zu gut, was das für sie persönlich bedeuten kann in einem Land, dessen Rechtsprechung (Scharia) auf Gesetzen und Normen beruht, die aus dem Koran und der Überlieferung der Propheten hervorgehen.

Die gesellschaftlichen Entwicklungen in ihrem Land finden sie gut. Viele Neuerungen machen das Leben etwas leichter, auch wenn es immer teurer wird und beide nicht reich sind. Ich frage sie, wie sie bei all den gesellschaftlichen Umbrüchen zusätzlich noch mit dem Umbruch in ihrer persönlichen Glaubensorientierung klarkommen. Amal antwortet ganz im arabischen Stil: „In scha‘ Allah – wenn Gott will, wird es gelingen.“

Von: Sonja Riethmann

Diesen Artikel finden Sie auch in der Ausgabe 2/2020 des Israelnetz Magazins. Sie können die Zeitschrift kostenlos und unverbindlich bestellen unter der Telefonnummer 06441/5 66 77 00, via E-Mail an info@israelnetz.com oder online. Gerne können Sie auch mehrere Exemplare zum Weitergeben oder Auslegen anfordern.

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