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Wie die Saudis eine neue Zivilisation erschaffen wollen

In der Nähe Israels soll eine Mega-Stadt entstehen. Dort sollen Menschen aller Rassen, Sprachen und Kulturen zusammenfinden. Ein Ort für Macher und Entdecker soll es sein, ein Vorbild für die Menschheit. Dahinter steckt ein Staat, der bisher nicht durch seine Weltoffenheit auffiel.
Ex-Siemenschef Klaus Kleinfeld (l.) ist politischer Berater von Prinz Bin Salman und Chef des Neom-Verwaltungsrates

Einige werden diese uralten Berge betrachten und nichts an ihnen finden. Aber der Rest der Welt wird wissen, dass hier eine neue Art zu leben begann. Entdecken Sie Neom“, sagt die Stimme im Werbevideo. In Kombination mit Landschaftsaufnahmen und Szenen glücklicher Familien zeichnet der Erzähler eine ambitionierte Zukunftsvision: „Ein Land mit einer wahrhaft globalen Kultur, aus allen erdenklichen Erdteilen. Hier schaffen wir gemeinsam die nächste Stufe menschlichen Fortschritts.“

Ein YouTube-Nutzer kommentiert darunter: „Das sieht aus wie eine Werbung aus einem dystopischen Zombie-Film.“ Andere munkeln, in Neom solle ein endzeitlicher Menschentypus herangezüchtet werden. Wieder andere sehen gar Verbindungen zum „Geheimnis Babylon“ aus dem biblischen Buch der Offenbarung und sprechen vom „Elixier Satans“.

Die Idee

Der Name Neom setzt sich zusammen aus dem griechischen Wort „neo“ für „neu“ und dem Anfangsbuchstaben des arabischen Worts für Zukunft „mustaqbal“. Es ist das jüngste Mega-Projekt der Saudis. Für 500 Milliarden Dollar soll im Nordwesten des Königreichs auf einer Fläche größer als Hessen eine Art Stadtstaat der Zukunft entstehen. Neom wird politisch fast völlig autonom sein, es bekommt eigene Gesetze und ein eigenes Steuersystem. Ein Schmelztiegel für Menschen aller Rassen, Hautfarben und Religionen soll es werden und somit Wiege einer neuen Gesellschaft. Kronprinz Mohammed Bin Salman will dort „keine alten Traditionen“. Sogar einen Kommunikationsminister für kulturelles Erbe hat Neom schon. Er heißt Abdulasis Alsanusi und kündigt an: „Neom ist der Ort, an dem die Menschheit wieder zusammenfinden wird.“

Die Stadt soll auch technologisch neue Maßstäbe setzen. Dienstleistungen und Standardprozesse sollen weitestgehend automatisiert sein und die Zahl der Roboter die der Menschen übersteigen. Im Sommer berichtete die Zeitung „Wall Street Journal“ über ein 2.300 Seiten starkes vertrauliches Dokument, das teils ausgefallene Ideen offenbarte. Autofahren werde in Neom nur noch zum Spaß betrieben, „zum Beispiel in einem Ferrari an einer Küstenstraße mit schöner Aussicht“, heißt es dort. Den alltäglichen Transport übernähmen Flugtaxis. Durch künstliche Wolken will man es in der Wüstenregion regnen lassen. Kinder sollen von holografischen Lehrern unterrichtet werden. Genetische Eingriffe könnten Neoms Bewohner stärker und intelligenter machen. Ein künstlicher Mond aus Drohnen werde zudem jede Nacht über dem neuen Land aufgehen. Berater hätten dafür eine Kooperation mit der NASA angeregt. Außerdem hat der Königssohn für den Strand angeordnet: „Ich will, dass der Sand im Dunkeln leuchtet.“

Die Dokumente enthalten jedoch auch Informationen, die weniger nach Freiheit klingen. Neom werde eine „Stadt sein, in der wir alles beobachten können“, steht in den Plänen. Computer würden jede Straftat sofort registrieren und jeder Bürger könne jederzeit geortet werden.

Das Projekt ist Teil der saudischen „Vision 2030“: Kronprinz Bin Salman will die Wirtschaft seines Landes für die Zeit nach dem Öl fit machen. Um das zu erreichen, soll Neom die klügsten Köpfe der Welt anlocken. So werde am Golf ein „neues Silicon Valley“ entstehen, das Saudi-Arabien an die Spitze des technologischen Fortschritts katapultiert. Neom soll sich bis in die Staatsgebiete von Jordanien und Ägypten hinein erstrecken und so die gesamte Region verwandeln. Eine zehn Kilometer lange Brücke über das Rote Meer ist geplant, um die Arabische Halbinsel mit Afrika zu verbinden.

Viel Geld und ein Mord

Der 33-jährige saudische Prinz Bin Salman präsentierte seine Idee im Oktober 2017 auf dem Investitionsforum „Future Investment Initiative“. Potentielle Geldgeber zeigten sich zunächst zurückhaltend. Schließlich verspricht Neom, alles zu sein, was Saudi­Arabien nicht ist: Divers, weltoffen und innovativ. Skeptiker erinnern daran, dass in dem wahhabitischen Königreich drakonische Körperstrafen verhängt werden und Zweifel am Islam per Gesetz verboten sind.

Saudi-Arabien versucht den Spagat zwischen traditionellem Islam und Hightech-Gesellschaft Foto: Neom, Twitter
Saudi-Arabien versucht den Spagat zwischen traditionellem Islam und Hightech-Gesellschaft

Ein Vorfall im Oktober 2018 schien die Vorbehalte weiter zu bestätigen: Der Journalist Dschamal Chaschoggi wurde im Konsulat in Istanbul ermordet – von einem saudischen Spezialkommando. Kaum jemand glaubt, dass Bin Salman davon nichts gewusst habe. Mehrere Länder verhängten daraufhin Sanktionen gegen Saudi-Arabien, auch Deutschland. Großunternehmer und Investoren gingen auf Distanz: Der britische Milliardär Richard Branson sagte, der Fall ändere „die Bereitschaft von jedem von uns im Westen, Geschäfte mit der saudischen Regierung zu machen“.

Andere, wie die Nahostexpertin Gudrun Harrer, mahnen, man dürfe es nicht als bloße PR-Masche abtun, wenn Bin Salman ankündigt, das Reich öffnen und auf einen „moderaten Islam“ setzen zu wollen. Tatsächlich hat der junge Monarch Reformen eingeläutet: Seit 2018 dürfen Frauen Auto fahren und in Begleitung ihrer Familie Fußballstadien besuchen. Auch Kinos wurden wieder erlaubt.

Die Monarchie ist auf das Vertrauen westlicher Investoren angewiesen. Denn selbst die steinreichen Saudis können eine Megastadt, 33-mal so groß wie New York, nicht aus der Portokasse finanzieren. Dabei ist Bin Salman gewillt, das eigene Kronjuwel, den staatlichen Ölproduzenten Aramco, zu verkaufen. Nach mehrmaliger Verschiebung soll im Dezember die erste Aktienemission von insgesamt fünf Prozent Unternehmensanteilen erfolgen. Allein das könnte 100 Milliarden Dollar einspielen, prognostiziert das deutsche „Manager-Magazin“.

Neom nimmt Formen an

Unterdessen hält Ex-Siemenschef Klaus Kleinfeld ungeachtet des Chaschoggi-Mordes zu Bin Salman: Er ist seit 2017 persönlicher Berater des Monarchen und seit August 2018 Chef des Neom-Verwaltungsrates. Laut „Wall Street Journal“ wirken zudem drei der weltweit größten Beratungsunternehmen bei der Planung mit: McKinsey, Boston Consulting und Oliver Wyman. Den Zuschlag für das Management des 500-Milliarden-Projekts hat der amerikanische Konzern Aecom erhalten.

Im Juli erfolgte der erste Spatenstich. Der Flughafen von Neom ist mittlerweile fertig und wird als internationaler Flughafen gelistet. Im September vergab Neom Investitionsmöglichkeiten zum Bau eines Wohngebietes für 30.000 Arbeitskräfte. Es ist auf Erweiterung für mehr als 100.000 Bewohner ausgelegt. Die erste Konstruktionsphase der Stadt soll von 2020 bis 2025 dauern.

Auch auf Neoms YouTube-Kanal tut sich etwas: Das neue Land hat seine PR-Offensive begonnen, indem es sich auch als Anziehungspunkt für Extrem- und Strandsport etablieren will. Sport soll integraler Bestandteil der neomischen Lebensphilosophie werden, um „menschliche Gesundheit und Potential maximal auszuschöpfen“. Zu Jahresbeginn veranstaltete Neom Kite­Surfing-, Wake-Boarding- und Strandfußball-Wettkämpfe. In die Kameras sprechen Sportler aus aller Herren Länder Sätze wie: „Ich bin während meiner professionellen Karriere schon an den verschiedensten Orten gesurft, aber das hier ist auf einem ganz neuen Level“ und „Wir schreiben hier Geschichte“.

In kurzen Videos stellt Neom seine führenden Köpfe für verschiedene Entwicklungssektoren vor. Deren Begeisterung wirkt für ein Werbevideo erstaunlich echt. Der Chef des Energiesektors, Peter Terium, sagt: „Es gibt hier keine Vorbelastung: Wir können unsere eigenen Regularien und Gesetze entwickeln. Wir können ein Markt-Design schaffen, das völlig neu und auf unsere Bedürfnisse zugeschnitten ist“. Es scheint, als sei bei den Wissenschaftlern der Funke übergesprungen. Neom hat den Charme eines Traumlands, das sie selbst nach ihren Vorstellungen erschaffen können.

Geopolitik und Rolle Israels

Die erwähnte Brücke zwischen der Arabischen Halbinsel und dem afrikanischen Festland bringt unweigerlich auch Israel auf den Plan. Denn der Friedensvertrag mit Ägypten sichert Israel freien Zugang zum Roten Meer zu. Nach einer Konvention der Vereinten Nationen würde ein Infrastrukturprojekt, das den Golf von Akaba betrifft, den Vertrag verletzen. Beobachter vermuten, dass hinter den Kulissen längst Verhandlungen laufen. Am Ende wäre eine formale Anerkennung des Staates Israel durch Saudi­Arabien kaum zu vermeiden. Ägypten hat bereits die Inseln Tiran und Sanafir an Saudi-Arabien zurückgegeben. Die Brücke soll über Tiran führen. Die Ägypter hielten die Inseln einst besetzt, um Israel den Zugang zum Roten Meer zu versperren.

Neom, am Roten Meer, liegt an einer strategisch wichtigen maritimen Handelsroute Foto: Neom, Twitter
Neom, am Roten Meer, liegt an einer strategisch wichtigen maritimen Handelsroute

Israel soll bereits angeboten haben, Technologie für Neom zu liefern. Hinzu kommt, dass Neom ähnlich wie Singapur und Dubai an einer strategisch wichtigen maritimen Handelsroute liegt. Fast zehn Prozent des weltweiten Warenverkehrs durchqueren den Suezkanal und damit das Rote Meer. Auch dafür könnte Israel eine wichtige Rolle spielen: Die geplanten Schnellzüge zwischen dem Mittelmeer und Eilat, Israels südlichster Stadt, wären wie ein Suezkanal auf dem Landweg und damit die perfekte Ergänzung zum Seeweg.

Am Ende hängt Neoms Schicksal an der Frage, ob es die Investoren und klugen Köpfe der Welt anlocken kann. Das wiederum hängt davon ab, wie glaubwürdig die Ankündigung von Toleranz und Freiheit ist. Laut dem Werbevideo wird Neom „ein Start-up, so groß wie ein Land“ sein, ein Ort für Macher und Entdecker, in dem die Technologien von morgen erforscht werden. Das klingt irgendwie seltsam vertraut. In einem kleinen Land aus dieser Region ist vieles davon längst Realität: Israel.

Diesen Artikel finden Sie auch in der Ausgabe 6/2019 des Israelnetz Magazins. Sie können die Zeitschrift kostenlos und unverbindlich bestellen unter der Telefonnummer 06441/915152, via E-Mail an info@israelnetz.com oder online. Gerne können Sie auch mehrere Exemplare zum Weitergeben oder Auslegen anfordern.

Von: Timo König

In einer früheren Version des Artikels hieß es, der Vorstandsvorsitzende von Siemens, Joe Kaeser, habe sich nach dem Mord an Dschamal Chaschoggi nicht beirren lassen, am „Future Investment Congress“ teilzunehmen. Richtig ist, dass er einen Tag zuvor doch abgesagt hat. Wir bitten, den Fehler zu entschuldigen.

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