Ein etwas anderer Unabhängigkeitstag

Große Feuer ändern die Pläne zum Unabhängigkeitstag. Die Israelis passen sich der Situation an und feiern trotzdem. Bei einem Grillfest erklärt ein Rabbiner seiner Familie, warum es inmitten der schwierigen Umstände Grund zur Dankbarkeit gibt.
Von Merle Hofer
Israel-Flagge


Es ist Mittwoch, der Gedenktag für die Terror-Opfer und gefallenen Soldaten. Nur wenige Stunden nach der Sirene, die an 25.417 Menschen erinnert, die seit der Staatsgründung getötet wurden, breiten sich Feuer in den Wäldern um Jerusalem aus. An sich ist das nicht ungewöhnlich, doch die starken Winde, die der Wüstenwind Scharav mit sich bringt, sind auch in Jerusalem zu fühlen und selbst für langjährige Jeruschalmis überraschend. Die Ursache ist bisher ungeklärt, vielleicht ist ein Feuerherd unachtsam entstanden, doch in den kommenden Tagen verdichten sich Hinweise, dass es Menschen gibt, die die Feuer bewusst weiter geschürt haben.

In den Nachmittagsstunden evakuieren Sicherheitskräfte etwa 10.000 Einwohner aus den kleinen Ortschaften um Jerusalem. Schnell zeichnet sich ab, dass die für den Abend geplante Zeremonie zum Unabhängigkeitstag im Panzer-Museum von Latrun nicht stattfinden kann. Das israelische Fernsehen zeigt Bilder von durcheinander fliegenden Plastikstühlen und umherwehenden Zelten.

Wenige Regentropfen bringen nicht das gewünschte Ergebnis, der erhoffte Regen bleibt aus, die Löschtrupps kommen nicht hinterher und die Winde treiben das Feuer in weitere Gebiete. Im Laufe des Nachmittags wird klar, dass nicht nur die offizielle Zeremonie auf dem Herzl-Berg ausfallen muss, sondern auch alle anderen offiziellen Feiern im Land. Im Fernsehen wird in den Abendstunden stattdessen die Generalprobe der Herzl-Berg-Zeremonie ausgestrahlt. Zwischendurch wird sie von aktuellen Nachrichten über die anhaltenden Großbrände unterbrochen.

Die Tanzformationen zeigen die für den Unabhängigkeitstag typischen Symbole wie Davidsstern, Menora und israelische Flagge, aber auch die „gelbe Schleife“ und den Slogan „(Bringt sie) nach Hause“. In der Nacht legt sich der beißende Brandgeruch auch über Jerusalem, am Morgen darauf ist der Himmel relativ klar und die Luft wieder rein. Die Straßen können in den frühen Morgenstunden geöffnet werden, doch die Feuerwehr ist weiterhin im Einsatz. Die Nachricht breitet sich aus, dass alle abgesagten Veranstaltungen vom Vorabend am Donnerstagabend nachgeholt werden.

Die traditionellen Grillfeste der Familien am Unabhängigkeitstag können in diesem Jahr nicht in den Wäldern stattfinden. Das hält die Israelis aber nicht davon ab, sich trotzdem zu treffen. Am Mittag hat Familie Assis in ihren Garten eingeladen. Mehr als 20 Familienmitglieder und zwei Gäste aus Deutschland sind der Einladung in einen Jerusalemer Vorort gefolgt. Sie sitzen an einem langen gedeckten Tisch und essen Gegrilltes: Steaks und Hühnchenbrust, Fleischbällchen und Würstchen. Daneben gibt es bunte Salate, gegrillte Fladenbrote, Wasser, Bier und Wein.

Ein besonders schwerer Tag

Elie Assis, Professor für biblische Studien an der Bar-Ilan-Universität in Ramat Gan bei Tel Aviv erklärt: „Seit Gründung des Staates Israel haben wir zwei neue Feiertage etabliert. Den Jerusalem-Tag und den Unabhängigkeitstag. Letzterer ist in jedem Jahr schwer, weil wir direkt davor der Terror-Opfer gedenken und der gefallenen Soldaten. Ihnen verdanken wir, dass wir überhaupt die Unabhängigkeit feiern können. Aber seit anderthalb Jahren ist der Tag besonders schwer. Noch immer führen wir einen schlimmen Krieg und noch immer gibt es 59 Geiseln, die nicht unter uns sind.“

Assis erwähnt den Bruder seines Schwagers, der im vergangenen Oktober im Libanon fiel. „Mit großem Schmerz und schwerem Herzen erinnern wir uns an Mordechai. Aber ich möchte uns daran erinnern, dass wir hier nicht nur irgend ein Grillfest veranstalten, sondern in und trotz diesem Schmerz die Mizva, das Gebot, erfüllen, ein Freudenmahl abzuhalten.“

Der religiöse Jude erklärt: „Heute Morgen haben wir in der Haftara, in den Prophetenbüchern, gelesen. Dort heißt es in Jesaja 10,11: ‚Wie meine Hand die Königreiche der Götter erobert hat, deren Götterbilder die von Jerusalem und Samaria übertrafen, wie ich es mit Samaria und seinen Göttern gemacht habe, so mache ich es auch mit Jerusalem und seinen Göttern.‘“

An dieser Stelle sei von einem Ereignis die Rede, das zur Zeit des Ersten Tempels, in der Regierungszeit des König Hiskia stattfand, als Sanherib Jerusalem erobern wollte. „185.000 Assyrer besetzten die Stadt und es herrschte großes Chaos und eine große Hysterie. Doch Jesaja sagte ihnen: ‚habt keine Angst, die Assyrer können euch nichts anhaben.‘ Er behielt recht: Gott streckte seine Hand aus und Sanherib zog seine Soldaten zurück.“

Assis erklärt weiter: „Danach gab es eine große Messias-Erwartung. Und in Jesaja 12,1 lesen wir: ‚An jenem Tag wirst du sagen: Ich danke dir, Herr. Du hast mir gezürnt, doch dein Zorn hat sich gewendet und du hast mich getröstet.’ Unsere Weisen sagen, dass Gott Hiskia zum Messias machen wollte und Sanherib zu Gog und Magog. Doch weil das Volk Israel Gott nicht dankte, wurde Hiskia nicht zum Messias gemacht.“

Assis führt aus, dass das Volk nicht nur die schlimmen Ereignisse an sich durchmachen, sondern auch dafür danken solle. „Der große Schmerz und Verlust und die großen Schwierigkeiten, die wir in dieser Zeit durchleben, sind ein großer Teil der Ge’ula.“ Die Ge’ula ist die Hoffnung auf die Erlösung.

„In alledem ist Gottes Hand erkennbar“

Der Bibellehrer erinnert an den 7. Oktober 2023: „Als wir vor anderthalb Jahren den großen Angriff aus dem Gazastreifen erlebten, hatten wir sehr große Angst um unsere Existenz. Heute ist unsere Situation eine andere. Natürlich ist es immer noch sehr schwer und trotzdem ist es eine andere Realität. Neben dem Dank an unsere mutigen Soldaten müssen wir unweigerlich die Hand Gottes in all dem erkennen.“

Nach wie vor sei es wichtig, den Schmerz anzuerkennen und sich die Verluste bewusst zu machen. „Auf der anderen Seite wollen wir uns mit diesem Festmahl daran erinnern, was Gott für uns getan hat und wie er uns geführt hat. Wir wollen uns erinnern an die gerechten Menschen, die für uns kämpfen und die dafür sorgen, dass wir hier sitzen können. Aber wir wollen diese Erinnerung und Erkenntnis auch zum Gebet umwandeln. Und wollen uns daran erinnern, dass wir Gott danken, dass er diese mutigen Menschen nutzt, um uns zu retten.“

An diesem Tag solle vor allem das Gebet an Gott gerichtet werden. „Wir wollen, dass diese schlimme Zeit vorbei geht. Wir wollen, dass wir ein Volk werden, das sieht ‚wie sich sein Zorn gewendet hat‘. Wir wollen Ruhe und Frieden und wir wollen Gott dienen. Wir wollen Gott danken mit dem Dank-Psalm 100.“ Assis stimmt an: „Ein Psalm zum Dankopfer. Jauchzet dem HERRN, alle Welt!“

Seine Familie stimmt mit ein: „Dienet dem HERRN mit Freuden, kommt vor sein Angesicht mit Frohlocken! Erkennet, dass der HERR Gott ist! Er hat uns gemacht und nicht wir selbst zu seinem Volk und zu Schafen seiner Weide. Gehet zu seinen Toren ein mit Danken, zu seinen Vorhöfen mit Loben; danket ihm, lobet seinen Namen! Denn der HERR ist freundlich, und seine Gnade währet ewig und seine Wahrheit für und für.“

Trotz und in allem: Chag sameach

Mit Blick auf die Gäste aus Deutschland sagt er: „Auch die Nationen sind Teil der Ge’ula-Prozesses. Sacharja 8 zeigt das ganz deutlich.“ Dort steht in den Versen 22 und 23: „Viele Völker und mächtige Nationen werden kommen, um in Jerusalem den Herrn der Heere zu suchen und den Zorn des Herrn zu besänftigen. So spricht der Herr der Heere: In jenen Tagen werden zehn Männer aus Völkern aller Sprachen einen Mann aus Juda an seinem Gewand fassen, ihn festhalten und sagen: Wir wollen mit euch gehen; denn wir haben gehört: Gott ist mit euch.“ Der zweifache Großvater schließt seine Rede mit den Worten „Chag sameach, frohes Fest“.

Auch diejenigen, denen der Wunsch vorher schwer fiel, sind ermutigt und erinnert worden, dass sie Grund haben, für 77 Jahre Unabhängigkeit Israels zu danken. Nun können auch sie aus vollem Herzen sagen: „Chag sameach, frohes Fest.“

In der Jerusalemer Straßenbahn erzählt wenige Stunden später ein Mann: „Als ich 1961 nach Israel kam, sah Jerusalem noch anders aus. Und Aschdod, die Stadt, in der ich wohne, auch. Alles war Sand.“ Josef ist selbst vor 80 Jahren in Algerien geboren. Lächelnd fügt er hinzu „Heute sind es schöne Städte. In 77 Jahren sind viele gute Dinge entstanden.“

Ebenfalls am Nachmittag kauft im Jerusalemer Stadtzentrum Dvory im Supermarkt ein. Seit dem 7. Oktober arbeitet die Sozialarbeiterin im Reservedienst mit Soldaten. „Die Soldaten sind müde und auch ich weiß manchmal nicht weiter.“ Auf die kursierende Nachricht, dass die großen Feuer am Gedenktag für die Soldaten und Terroropfer mutwillig angefacht wurden, sagt sie: „Dass wir neben dem Krieg von außen nun auch noch den Krieg von innen haben, ist absurd und traurig.“

Sie hält inne und sagt dann bestimmt: „Aber mit Gottes Hilfe werden wir auch diese Krise überstehen.“ Mit einem Lächeln verabschiedet sie sich: „Chag Atzma’ut sameach, einen fröhlichen Unabhängigkeitstag!“

Feiern und Tanzen

Am Abend kommen Tausende Israelis in Jerusalem zusammen. Auf den Bühnen der Stadt wird an die verbliebenen Geiseln erinnert. An den Krieg und die Soldaten. An die, die gefallen sind und die, die immer noch dienen. Familien mit Kindern, Jugendliche und Paare, Soldaten und Studenten.

Foto: Israelnetz/mh
Wegen der Brände wurden viele Auftritte israelischer Künstler um einen Tag verschoben

Die Israelis feiern und tanzen. Fast, als wären die Feiern von langer Hand geplant und als hätte es die gestrigen Feuer nicht gegeben. Und fast, als wäre vergessen, dass die Existenz des kleinen Staates auch nach 77 Jahren nicht selbstverständlich ist, weil es noch immer Menschen und Regierungen gibt, die ihn auslöschen wollen. Wozu rief Eli, der Professor, seine Familie auf? „Wir wollen uns einerseits an das Schwere erinnern und andererseits Gott unseren Dank aussprechen.“

Als Naftali Herz Imber die Nationalhymne schrieb über die zweitausendjährige Hoffnung „ein freies Volk in unserem Land, im Lande Zion und in Jerusalem“ zu sein, da hat er wohl genau an euch gedacht: Eli, Josef und Dvory, sowie die vielen Tanzenden vom Abend! Chag Atzma’ut sameach, Israel!

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