Ehemalige Geisel: „Ein langer Tag, der nicht endet“

Seit sechs Monaten befindet sich Arbel Jehud in Freiheit. Doch sie kann diese nicht genießen, solange ihr Partner und die verbliebenen Geiseln in Gaza bleiben.
Von Israelnetz

NIR OS (inn) – Ein halbes Jahr nach der Freilassung aus der Geiselhaft hat Arbel Jehud ihren heimatlichen Kibbuz Nir Os besucht. Doch ihr Zuhause ist ihr fremd geworden, und die Zeit seit dem 7. Oktober 2023 fühlt sich für sie an wie ein einziger langer Tag – solange sich noch Verschleppte im Gazastreifen befinden. Zu ihnen gehört ihr Partner Ariel Cunio.

Die 29-Jährige kam am 30. Januar nach 482 Tagen Gefangenschaft bei einem Austausch frei. Auf dem Weg von der Propagandabühne der Terror-Organisation Hamas zum Internationalen Roten Kreuz wäre sie von der Menschenmenge fast gelyncht worden.

In der Zeitung „Yediot Aharonot“ hat sie ihre derzeitigen Empfindungen formuliert: „Nichts in mir fühlt sich wie zu Hause an. Nicht in Nir Os. Ich erfahre von Freunden, die ich verloren habe, von einer ganzen Gemeinde, die nicht mehr dieselbe Gemeinde sein wird. Von einer Hölle, die die Menschen, die mir am nächsten sind, durchgemacht haben und hier Tag für Tag durchmachen. Von einem ganzen Staat, der verloren hat und weiter verliert.“

Über die Entführung und ihre Folgen schrieb sie in dem am Mittwoch veröffentlichten Beitrag: „Ariel und ich wurden zusammen aus unserem Bett im Kibbuz Nir Os entführt. Nach drei Stunden in Gaza trennte man ihn von mir. Seit dem 7. Oktober habe ich ihn nicht gesehen, nicht seine Stimme gehört. Ich weiß nicht, wie sein Zustand ist.“

„Keine Kinder und keine Freude“

Die Stimmung in Nir Os macht ihr zu schaffen. Nicht nur stehe ihr Haus leer. Auch die Straße, die einst voller Leben war, sei still: „Es gibt keine Kinder, keine Freude, aber es gibt Staub, und Brandgeruch, eine gelbe Fahne und schwarze Fahnen an den nächstgelegenen Hauseingängen, die wehen und daran erinnern, dass sich hier eine Tragödie ereignet hat. Einer von vier wurde entführt oder ermordet, liebe Menschen, die mich erzogen haben, liebe Menschen, die mit mir aufwuchsen, und diejenigen, die noch gar nicht angefangen hatten mit Aufwachsen.“

Da sich ihr geliebter Partner noch im Gazastreifen befindet, sei nichts von ihr wirklich zurückgekehrt. „Es ist ein langer Tag, der nicht endet. Ich versuche, zu atmen, zu glauben, mich zu stärken. Ein halbes Jahr, in dem ich aussehe wie ich – aber mich weit weg fühle, zerbrochen, zerrissen, ruhig von außen und stürmisch von innen. Eine ganzes halbes Jahr mit Schuld, wegen der kleinsten und grundlegendsten Dinge des Lebens, die Ariel und die restlichen Geiseln noch nicht haben.“

Jehud muss auch mit dem Tod ihres Bruders Dolev zurechtkommen, der am 7. Oktober von den Terroristen ermordet wurde. Erst fast acht Monate später wurde seine Leiche identifiziert. Der Schmerz lebe jede Sekunde in ihr. „Aber ich stoße ab, leugne, bin sicher, dass alles ein großer Irrtum ist und er plötzlich vor mir auftauchen und mir die größte und liebevollste Umarmung geben wird, wie nur er es konnte. Aber er wird nicht auftauchen.“ Da sie für die verbliebenen Geiseln kämpfe, sei kein Raum für Trauer.

„Ich versuche, Ariels Stimme zu sein“, schreibt sie zu ihrem Einsatz. „Die Sehnsucht weicht nicht von mir. Ich stelle ihn mir die ganze Zeit vor. Ob er schlafen konnte. Ob man ihm Wasser gegeben hat. Ob er noch atmet. Ob er spürt, dass ich ihn nicht vergesse, dass ich für ihn kämpfe. Dass ich auf ihn warte. Auf uns warte.“

Israelische Politik kritisiert

An der Politik der israelischen Regierung übte die ehemalige Geisel Kritik: „Die Entscheidungen, die getroffen werden, gefährden die Entführten, und unsere Soldaten, körperlich und seelisch. Und das darf nicht so sein.“ Ein umfassendes Abkommen sei nötig, alle müssten auf einmal nach Hause zurückgeholt werden – „ohne Selektion“. Den Mitstreitern in der Bevölkerung sprach sie ihren tiefen Dank aus.

Nicht nur die Trauer um ihren Bruder, auch ihre eigene Rehabilitation lässt Jehud nicht zu, solange noch Geiseln im Gazastreifen sind. Sie fokussiere sich auf ihren Kampf, sagte sie in einem Video, das in Nir Os entstand.

Seit der Rückkehr empfinde sie einen Spalt zwischen ihr und den Menschen in Israel. Manchmal wolle sie einfach allein sein. Von der Gefangenschaft erzählte sie: „Sobald Verhandlungen platzen, verschlechtern sich die Bedingungen. Die Beziehung verändert sich. Es können Misshandlungen sein, oder Psychoterror. Wenn es das Empfinden gibt, dass die Armee nah ist oder dass über eine Rettung gesprochen wird – wird das zu einer direkten Bedrohung für uns.“

Als sie von dem sie betreffenden Deal erfuhr, hat sie nach eigener Aussage nur ein Gedanke beschäftigt – dass sie auf der Liste war und ihr Partner nicht. Das hat sich ein halbes Jahr nach ihrer Rückkehr nicht geändert. (eh)

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7 Antworten

  1. Liebe Arbel,
    ich verstehe dich gut, obwohl ich das alles nur aus Entfernung erlebe. Auch ich frage mich täglich, gibt man den Geiseln Wasser, bekommen sie etwas zu essen, können sie atmen, ja leben sie überhaupt noch? Aber wen machst du verantwortlich, dass es zu keinem umfassenden Deal kommt, der ALLE Geiseln nach Hause bringt? Ich fürchte, du meinst Nethanjahu, der den Krieg nicht beenden will, bevor Hamas entmilitarisiert ist. Aber es ist die Hamas, die niemals alle Geiseln herauszugeben wird, weil es ihren Untergang bedeutet. Was wäre denn, wenn Nethanjahu für ein Kriegsende bereit wäre? Die Bedrohung an eurer Landesgrenze bliebe, durch Anerkennung eines Staates Palästina werden die Terroristen gestärkt. Sie würden aufrüsten, denn sie bekommen ja volle UN-Unterstützung und sie würden ihr Volk und euch weiter drangsalieren. In 2-3 Jahren würden sie wiederkommen, sie haben es vorausgesagt und wieder Geiseln nehmen.
    Ich fühle dein Leid und ich weiß, es ist schwer, aber ich möchte dir Mut machen. Fülle die langen Tage mit Schönem, das deiner Seele gut tut, malen, musizieren, wandern… Warte weiter mit Sehnsucht auf deinen Liebsten. Ich wünsche dir, dass er zurückkommt.
    Ella

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  2. Shalom,war gestern mit Freunden der IDF in Nir Os.Liebe Arbel,ich verstehe deine Trauer und Verlorenheit!Sei froh das Du nicht wie ich am 9.Okt.dort warst.Es würde Dich noch mehr schmerzen.Wir hoffen das Dein Partner bald zurück kehrt mit allen anderen und Du anfangen kannst mit dem ganzen Dich auseinander zu setzen.Vergessen wirst Du leider nie wie auch wir.Viel Glück. Jerusalem

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  3. Es ist gut, diesen Bericht zu lesen im Gegensatz zu all den Propagandabeiträgen und Kommentaren, den Lügen und das Nichtbenennen des Hamasterrors am 7. Oktober. Das Leid der arabischen Menschen im Gazastreifen kann und soll nicht verschwiegen werden, aber die Ursache dafür ist und bleibt der Überfall am 7. Oktober 2023, das Festhalten der Geiseln, das schamlose Ausnutzen der eigenen Bevölkerung und der Widerstand der Hamas.

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  4. Ich wünsche Arbel Jehud alles Gute.
    Es ist wichtig, dass das Trauma der Geiseln dokumentiert wird, das geschieht in dieser Welt leider zu wenig.

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