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Die ungewöhnliche Geschichte einer Rettung

Die Katholikin Gertruda bewies in der NS-Zeit den Mut, der vielen anderen fehlte: Gegen alle Widerstände rettete sie den jüdischen Jungen Michael Stolowitzky. Dieser hat trotz der furchtbaren Erfahrungen bis heute seinen Humor nicht verloren. In der Gießener Stadtbibliothek erzählte er am Donnerstag von der außergewöhnlichen Geschichte seines Überlebens, die der israelische Schriftsteller Ram Oren in dem Buch "Für dich habe ich es gewagt" nachgezeichnet hat.

„Ohne Gertruda wüsste ich nicht, dass ich Jude bin“, sagt Stolowitzky und lächelt. Die Spannung im Publikum ist greifbar. Als er drei Jahre alt war, lag seine Mutter in einem Wilnaer Krankenhaus im Sterben. Sie hatte die überstürzte Flucht aus Warschau nach dem Einmarsch der Deutschen und die damit verbundene Demütigung nicht verkraftet. Der Vater Jacob hielt sich in Paris auf und war nicht erreichbar. Ihrem katholischen Kindermädchen Gertruda nahm die Mutter auf dem Sterbebett das Versprechen ab, Michael wie ihren eigenen Sohn zu beschützen und schließlich zu Verwandten nach Palästina zu bringen. Um diesen Schwur zu besiegeln, übergab sie dem Kindermädchen ihren Ehering. An seine leibliche Mutter Lydia kann sich Stolowitzky nicht erinnern. „Wenn ich von meiner Mutter spreche, dann meine ich immer Gertruda“, betont er. Nach dem Krieg erfuhr er von Überlebenden, dass sein Vater in Auschwitz ermordet worden war.

Die folgenden Tage und Jahre waren von Angst geprägt. Wenn sie zu ihrer kleinen Wohnung ging, kam Gertruda an einem Plakat vorbei: „Jeder Christ, der Juden hilft, wird erschossen.“ Ein katholischer Pfarrer hatte ihr zwar dokumentiert, dass Michael ihr Sohn sei. Aber als sie bei einem ihrer seltenen gemeinsamen Spaziergänge in eine Kontrolle gerieten, wurden die SS-Unteroffiziere misstrauisch und forderten den Jungen auf, die Hose herunterzulassen. Dies verhinderte in letzter Minute der SS-Offizier Karl Rink. An die Angst, die er damals empfand, erinnert sich Stolowitzky, „als wäre es gestern passiert“. Später kamen die beiden in einem Dorf bei einem Bekannten unter, dessen Frau an Lungentuberkulose litt. Gertruda pflegte die Kranke bis zu deren Tod. Dann machte ihr der Witwer einen Heiratsantrag – unter der Bedingung, dass sie sich von Michael trennen müsse. Sie packte sofort ihre Sachen und floh mit dem Kind in einen nahe gelegenen Bunker.

Nach dem Krieg verbrachten Gertruda und Michael zwei Jahre in einem DP-Lager in Eschwege bei Kassel. Erst dort erfuhr er, was es bedeutet, ein Jude zu sein. „Da gab es entsprechende Schulen, Synagogen, ich lernte etwas Hebräisch.“ Auch der jiddische Einschlag in seinem mit englischen Brocken durchsetzten Deutsch stammt aus dieser Zeit. Seine neue Mutter hatte ihn zu seiner eigenen Sicherheit mit in die Kirche genommen, ohne ihm seine jüdische Herkunft vorzuenthalten. Die Haganah, aus der später die israelische Armee hervorgehen sollte, suchte unterdessen Kandidaten für die illegale Einwanderung ins britische Mandatsgebiet „Palästina“. Für Gertruda sei allerdings kein Platz auf dem Schiff, hieß es. Man sei ihr dankbar, und sie könne nun in ihre polnische Heimat zurückkehren. Doch sie drohte damit, Journalisten von der Weigerung zu erzählen. So erhielt sie als einzige Nichtjüdin einen Platz auf der „Exodus“, jenem Schiff, das durch den gleichnamigen Roman von Leon Uris berühmt wurde. Nach der Ankunft im „gelobten Land“ wollte wiederum Michaels Tante Gertruda, die nun ihre Schuldigkeit getan habe, zurückschicken. Daraufhin brach der Junge den Kontakt zu diesen Verwandten ab.

„Selbst im Krieg gab es gute Menschen in Deutschland“

Heute arbeitet Stolowitzky in den USA, wo er Reisen nach Israel organisiert. Seine erste Kundin war 1977 die Schwester des damaligen US-Präsidenten, Ruth Carter. Einmal im Jahr ist er bei einer Konferenz in Deutschland. In Schulen erzählt er von seinen Kriegserlebnissen. Was empfindet er gegenüber den Deutschen? Heute seien andere Zeiten, sagt der Überlebende der Judenverfolgung. Man könne nicht leben, wenn man immer an die Vergangenheit denkt. „Darüber habe ich keine Kontrolle.“ Die Zukunft könne er hingegen gestalten. Auch im Krieg habe es gute und schlechte Menschen gegeben: „Denken Sie daran: Ein SS-Offizier hat mich gerettet. Und er hatte den Befehl, Juden zu töten.“ Zu dessen Familie nahm er nach dem Weltkrieg Kontakt auf, zudem informierte er die Jerusalemer Gedenkstätte Yad Vashem und die israelische Regierung über die Rettung.

Michael Stolowitzky nimmt das Leben mit Humor. Selbst bei seinen spannenden Erzählungen über die Zeit der Verfolgung bringt er das Publikum immer wieder zum Lachen. Andere Holocaust-Überlebende trifft er nur in Yad Vashem. „Meine Frau und ich sind glücklich und zufrieden“, sagt er. „Wir haben denselben Hintergrund.“ Und er ist fest davon überzeugt, dass ihn Gott beschützt. Seine Frau kam 1942 in Rumänien auf die Welt. Als kleines Kind war sie mit ihren Eltern schon in einem Deportationszug, als ein rumänischer Offizier den Vater erkannte. Er lief neben dem anfahrenden Zug her und holte die Familie heraus. Das Ehepaar Stolowitzky hat einen Sohn und mehrere Enkel.

Selbst wäre er nie auf die Idee gekommen, seine spannenden Erlebnisse zu veröffentlichen. Doch dann erhielt er in New York einen Anruf von dem israelischen Schriftsteller Ram Oren – „das ist sozusagen der israelische John Grisham“. Dieser wollte ein Buch über die „Exodus“ schreiben und hatte gehört, dass Stolowitzky als Kind mit einer Nichtjüdin auf dem Schiff gewesen war. Er bat um ein Interview in Israel – für „ein paar Linien im Buch“. Als er die Geschichte hörte, änderte er seine Pläne und widmete sich den Erfahrungen von Gertruda und Michael. Die ehemalige Kinderfrau blieb Stolowitzkys Mutter, bis sie 1995 als „Gerechte unter den Völkern“ in Israel starb.

Ram Oren: Für dich habe ich es gewagt. Ein Kind, ein Versprechen und eine dramatische Rettung, Aus dem Englischen von Evelyn Reuter, Brunnen, 352 Seiten, 17,95 EUR, ISBN: 978-3-7655-1767-9

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Eine Antwort

  1. Ein ergreifendes und mich tief berührendes Buch.
    Welch Kraft und Stärke Menschen in dieser Zeit hatten. Eine bewundernswerte Frau in so dunklen Zeiten. Welch ein Schicksal für Michael Stolowitzky.

    2

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