Meinung

Das Diktum von Angela Merkel

Die „deutsche Staatsräson“ gegenüber Israel war von Anfang an auslegbar. Der Gazakrieg und die Luftschläge im Iran verstärken die Debatte um den Begriff. Welche Prinzipien sollten die deutsche Israelpolitik bestimmen? Eine kommentierende Analyse
Von Nicolas Dreyer

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) prägte 2008 in ihrer Rede in der Knesset zum 60. Jahrestag der Staatsgründung Israels den Begriff der „deutschen Staatsräson“. Sie erklärte im Wortlaut:

„Jede Bundesregierung und jeder Bundeskanzler vor mir waren der besonderen Verantwortung Deutschlands für die Sicherheit Israel verpflichtet. Diese historische Verantwortung Deutschlands ist Teil der Staatsräson meines Landes. Das heißt, die Sicherheit Israels ist für mich als deutsche Bundeskanzlerin niemals verhandelbar.“

In ihrer festlichen Ansprache würdigte Kanzlerin Merkel die enorme Aufbauleistung der Israelis und gratulierte zu der gewaltigen Errungenschaft. 60 Jahre zuvor hatten die jüdischen Einwohner und Einwanderer einen jüdischen Staat errichtet und ihn 60 Jahre lang nicht nur am Leben gehalten, sondern ihn auch zum Blühen gebracht.

Gedenken an die Schoa als Verpflichtung

Merkel erklärte, dass der „Zivilisationsbruch durch die Schoa“ Deutschland zu einer „immerwährenden Verantwortung für die moralische Katastrophe in der deutschen Geschichte“ verpflichte. Sie führte weiter aus: „Menschlichkeit erwächst aus der Verantwortung für die Vergangenheit“. Die „einzigartigen Beziehungen“, die Deutschland und Israel verbinden, bestünden neben einer erfolgreichen wissenschaftlichen, wirtschaftlichen und technologischen Zusammenarbeit und einem gemeinsamen Jugendwerk vor allem in zwei Bereichen.

Die Bundeskanzlerin betonte, dass diese Beziehungen von den geteilten „Werten von Freiheit, Demokratie und der Achtung der Menschenwürde“ umrahmt seien. Genauso seien auch gemeinsame Interessen von Bedeutung: „Stabilität, wirtschaftliche Prosperität, Sicherheit und Frieden in Europa wie in dieser Region“. Angela Merkel hob hervor, was dies bedeute. Zum einen sei es die Verpflichtung, der Schoa zu gedenken und den Antisemitismus, Rassismus und die Fremdenfeindlichkeit in Deutschland und Europa zu bekämpfen.

Regionale Bedrohung für Israel

Zum anderen sei es die Bedrohung Israels durch den Iran und die Hamas. Merkel beschrieb das iranische Nuklearprogramm als „Gefahr für Frieden und Sicherheit“:

„Wenn der Iran in den Besitz der Atombombe käme, dann hätte das verheerende Folgen – zuerst und vor allem für die Sicherheit und Existenz Israels, dann für die gesamte Region und schließlich, weit darüber hinaus, für alle in Europa und der Welt, für alle, denen die Werte Freiheit, Demokratie und Menschenwürde etwas bedeuten. Das muss verhindert werden.“

Und deshalb setze Deutschland „gemeinsam mit europäischen Partnern auf eine diplomatische Lösung“ und werde sich, „wenn der Iran nicht einlenkt, weiter entschieden für Sanktionen einsetzen“.

Zudem fragte die damalige Kanzlerin: „Oder wie gehen wir damit um, wenn in Umfragen eine deutliche Mehrheit der Befragten in Europa sagt, die größere Bedrohung für die Welt gehe von Israel aus und nicht etwa vom Iran? Schrecken wir Politiker in Europa dann aus Furcht vor dieser öffentlichen Meinung davor zurück, den Iran mit weiteren und schärferen Sanktionen zum Stopp seines Nuklearprogramms zu bewegen?“

Sie ergänzte: „Die Kassam-Angriffe der Hamas müssen aufhören. Terrorangriffe sind ein Verbrechen. Sie bringen keine Lösung in dem Konflikt, der die Region und das tägliche Leben der Menschen in Israel und das Leben der Menschen in den palästinensischen Autonomiegebieten überschattet.“ Zu diesem Komplex regionaler Herausforderungen für Israels Sicherheit zählte die Bundeskanzlerin auch den Libanon und Syrien.

Einsatz für Frieden in Nahost

Angela Merkel schloss ihren Auftritt mit einer Würdigung vorangegangener Bundeskanzler und deren Bekenntnisses „an die Kraft der Freiheit, an die Kraft der Demokratie und an die Kraft der Menschenwürde“. Diese Werte hätten „die Vollendung der Einheit Deutschlands in Frieden und Freiheit und damit die Versöhnung des europäischen Kontinents“ ermöglicht. Dass damals das „Unmögliche möglich“ wurde, gebe auch Anlass zu „Entschlossenheit und Zuversicht“, dass „sich auch jede Anstrengung lohnt, die den Nahen Osten einen großen Schritt näher zu einem friedlichen Miteinander bringt“.

Merkels Erklärung, die „historische“ und „besondere Verantwortung Deutschlands für die Sicherheit Israels“ sei ein „Teil der deutschen Staatsräson“, lässt sich im Kontext ihrer Knesset-Rede also ungefähr wie folgt umreißen: Es gehört zum Selbstverständnis der Bundesrepublik dazu, dass sie die Erinnerung an die Schoa pflegt, Antisemitismus und Intoleranz bekämpft, die vielfältigen deutsch-israelischen Beziehungen umfangreich fördert und Israels Annäherung an die Europäische Union unterstützt.

"Vertrauensvolle Beziehung": Merkel und Netanjahu wollen die Beziehungen zwischen Deutschland und Israel vertiefen. Foto: Johannes Gerloff
„Vertrauensvolle Beziehung“: Merkel und Netanjahu wollten 2014 die Verbindung zwischen Deutschland und Israel vertiefen.

Dabei nimmt Deutschland auch die existentiellen Bedrohungen durch die Feinde Israels ernst und setzt sich auf nationaler und europäischer Ebene diplomatisch für Israels Sicherheit ein, wie zum Beispiel die Verhinderung einer iranischen Atombombe oder die Verringerung der Instabilität im Libanon und in Syrien. Genauso werden Israel und die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) darin unterstützt, eine „Vision von zwei Staaten in sicheren Grenzen und in Frieden“ bilateral zu finden und umzusetzen.

„Staatsräson“ als Zustandsbeschreibung

Merkels Aussagen sind eine realistische Beschreibung tatsächlicher deutscher Politik gegenüber Israel und dem Nahen Osten, wie sie praktisch die gesamte (west-)deutsche Nachkriegsgeschichte prägte. Mit ihrem Diktum der „Staatsräson“ gab sie einer Vielzahl von Faktoren, die auf die deutsche Israel-Politik einwirken, eine „griffige“ und gleichzeitig symbolische, quasi staatstragende Charakteristik.

Merkel war jedoch nicht die erste, die den Begriff nutzte. Wie der Politikwissenschaftler Markus Kaim von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin in einem Beitrag feststellte, hatte bereits der SPD-Politiker Rudolf Dreßler und deutsche Botschafter in Tel Aviv (2000-2005) geschrieben: „Die gesicherte Existenz Israels liegt im nationalen Interesse Deutschlands, ist somit Teil unserer Staatsräson.“ 

Merkels Begriff ist jedoch nicht als im engeren Sinne normativ zu verstehen. Er ist weder ein Grundgesetz-Artikel noch der Paragraf eines Bundesgesetzes. Es ist eine politische Zustandsbeschreibung, auch verbindliche politische Absichtserklärung, jedoch keine rechtlich bindende Verpflichtung. Daraus ergeben sich keine eindeutig definierten Pflichten für Deutschland oder Rechte für Israel im juristischen Sinne, die zum Beispiel vor dem Bundesverfassungsgericht einklagbar wären.

Daher ist der Versuch etwas müßig, diese „Staatsräson“ so auszulegen, als ob sie klar festlegen würde, wie genau die Bundesregierung Israel unterstützen sollte und in welchem Maße sie konkrete israelische Politik kritisieren darf oder eben nicht. Die jeweilige Politik und Konkretisierung der „Staatsräson“ gegenüber Israel wird immer von tagesaktuellen und strukturellen innen- und außenpolitischen Gegebenheiten abhängen. Somit überrascht kaum, wenn die deutsche Solidarität mit sowie die Unterstützung für Israel in ihrer Eindeutigkeit und Entschlossenheit „den Umständen entsprechend“ variiert.

Rüstungskooperation

Ein Aspekt, der in Merkels Rede nicht vorkam, ist die Rüstungskooperation. Dennoch ist sie ein langjähriger und wichtiger Bestandteil der deutsch-israelischen Beziehungen. Sie reicht bis in die 1950er Jahre zurück. Anfänglich waren die deutschen Rüstungslieferungen innenpolitisch kaum umstritten und wurden weitestgehend von der Bundesregierung bezahlt. Der zweite Golfkrieg und die Bedrohung Israels durch den Irak gab 1991 der Bundesregierung unter Helmut Kohl (CDU) den Anlass, sechs U-Boote an Israel zu liefern. Diese sollten die seegestützte nukleare Abschreckung Israels stärken.

Das sechste U-Boot aus dieser Vereinbarung wurde 2024 in Kiel fertiggestellt und soll 2025 nach Israel ausgeliefert werden. Zeitgleich begann der Bau eines siebten Bootes.

Deutschland ist für die Rüstung in Israel ein bedeutender Lieferant, und umgekehrt ist Deutschland für Israel ein wichtiger Abnehmer. Erst seit dem Jahrtausendwechsel gibt es vermehrte Kritik an der deutschen Rüstungshilfe für Israel, vor allem aus Teilen der SPD und Bündnis 90/Die Grünen. 2008 schloss die Bundesregierung mit Israel eine „Vereinbarung über gegenseitige Ausbildung“ ab, die die Zusammenarbeit beider Streitkräfte stärkte. Zum Beispiel bildet seit 2019 die Bundeswehr Drohnenpiloten bei der israelischen Luftwaffe aus. Dem voraus ging die Entscheidung der Bundesregierung 2018, Heron TP-Drohnen von Israel zu leasen. Die Kritik an deutschen Waffenlieferungen nahm in den vergangenen Jahren stetig zu.

„Deutsche Staatsräson“: Vielfältiges Engagement für Israel und seine Sicherheit

Deutsche Waffenlieferungen in den Nahen Osten

An dieser Frage machten sich auch in vergangenen Monaten Diskussionen um die „Staatsräson“ fest. Vorwürfe, Israel würde in seinen Operationen „Eiserne Schwerter“ (seit Oktober 2023) und zuletzt „Gideons Streitwagen“ (seit Mai 2025) zur Bekämpfung der Hamas das Kriegsvölkerrecht und das humanitäre Völkerrecht missachten, führten zu Forderungen und politischen Bemühungen, Israel keine Waffen mehr zu liefern. Selbst die neue Bundesregierung und Bundesaußenminister Johann Wadephul (CDU) erklärten, beides müsste miteinander abgewogen werden; zuletzt allerdings, dass Deutschland weiter Waffen liefern werde, da sich Israel gegen die Hisbollah, die Hamas und den Iran weiter verteidigen können müsse.

Das Thema Rüstung spielte auch in dieser Hinsicht eine Rolle. Schon in den frühen 1980ern sollte die Frage eine Belastungsprobe für die deutsch-israelischen Beziehungen werden. 1980 bis 1981 wollte Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD) insgesamt mehrere hundert Leopard 2-Panzer, Gepard-Flugabwehrpanzer und Marder-Schützenpanzer an Saudi-Arabien liefern. Letztendlich kam es damals nicht dazu; im Juli 1982 wurde das für Deutschland lukrative Geschäft abgesagt. Die deutsche Politik und Öffentlichkeit waren gegenüber dem Waffengeschäft gespalten und Israel machte seine Ablehnung deutlich.

„Geschichtliche Verantwortung“

Der Historiker Hubert Leber untersuchte 2020 den geplanten Panzerexport. Er stellte fest, dass Kanzler Schmidt im Sommer 1981 erkannte, dass das Rüstungsgeschäft die schwer errungenen deutsch-israelischen Beziehungen beschädigen würde. Außenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP) ließ bei einer Sitzung des Bundessicherheitssrates am 3. März 1982 protokollieren, „dass bei Abwägung unserer Gesamtinteressen auch die geschichtliche Verantwortung der Deutschen gegenüber dem jüdischen Volk berücksichtigt wird“ und es dazu „ausdrücklich allgemeines Einverständnis“ in dem Kreis gab.

Menachim Begin war zwischen 1977 und 1983 Premierminister in Israel Foto: USAF personnel
Menachem Begin war zwischen 1977 und 1983 Premierminister in Israel. Er lehnte deutsche Panzerlieferungen an Saudi-Arabien strikt ab.

In Israel werden die gegenwärtigen Schwierigkeiten, die die Bundespolitik während Israels Operation „Eiserne Schwerter“ und „Gideons Streitwagen“ mit Waffenlieferungen an Israel hat, durchaus als „politisches Dilemma“ wahrgenommen. Mit dieser Einschätzung beschrieb die deutsche Journalistin Vera Weidenbach am 3. Juni für die linksliberale israelische Tageszeitung „Ha‘aretz“ die Herausforderung für die neue Bundesregierung unter Friedrich Merz (CDU). Sie analysiert dabei die innen- und außenpolitischen Spannungsfelder der neuen Bundesregierung. Dies seien beispielsweise die Glaubwürdigkeit der deutschen Politik gegenüber Israel im Vergleich zu Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine.

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8 Antworten

  1. Die „deutsche Staatsräson“ gegenüber Israel – wird Israel in der Summe nicht weiterhelfen.
    Israel braucht Freunde, die Israel, die biblische Wahrheit sagen. Wir sollen mit der Trompete laut rufen – die Bibel ist das Kursbuch!
    Lieber Gruß Martin

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  2. Die deut. Staatsräson, das waren schon immer leere Worthülsen, die von Regierenden unterschiedlich gefüllt wurden und so wird es auch bleiben. Merkel mag das ja gut gemeint haben, aber wir sehen, wo wir vor ihrer Rede 2008 standen und an welchem Punkt wir heute sind. Es ist eine gute Absicht, überhaupt nicht verpflichtend und abhängig davon, dass Israel sich gut benimmt. Heißt: Israel benimmt sich schlecht wegen angebl. Genozid, Apartheid, Menschenrechtsverletzung, Kriegsverbrechen….. Nethanjahu würde in DE verhaftet werden müssen, will man sich nicht mit der UN anlegen und die Waffenlieferung bleibt ein dt. Streitthema. Israel wird bis heute von Merkels willkommenen Einwanderern und z.Teil auch von Deutschen gehasst und erniedrigt, weil es sich nicht vergasen und ins Meer treiben lässt. Ein mehr als politisches Dilemma! Merz und Wadephul werden das, wenn überhaupt, höchstens positiver gestalten können. Aber es bleibt: Israel wird zum Laststein für alle Völker! Keiner wird diesen Stein tragen können!
    Sacharja 12

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  3. Der Begriff Staatsräson,Israel betrefffend wirkt inzwischen außerordentlich fad und abgeschmackt, wenn nicht gar heuchlerisch .
    SHALOM

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  4. Ich habe der Dame nie geglaubt, zumal ihr UN Botschafter oft gegen IL bei UNO stimmte. Staatsräson, wurde es nicht von Steinmeier und Baerbock mit Füßen getreten? Er gratulierte Mullahs zum Jahrestag Revolution und nach Atomdeal war er einer der ersten Minister im Iran für Verträge. Die Aussenministerin war gegen Israel nach dem 7.10. als Krieg nach Massaker begann. Sie war Abendessen mit Demonstranten pro Hamas. Gegen Hisbollah sollten nach ihrer Meinung IL Waffen schweigen. Für Geiselbefreiung tat sie nichts. Staatsräson ungültig bei d e n meisten Ministern und Abgeordneten. Für uns Juden keine Religionsfreiheit mehr in der BRD. Keine 100% Sicherheit mehr für uns, auch beginnend mit Merkels Gästen. Selfie Kanzlerin. Der Satz: Wir schaffen das! Ein Witz. Shalom

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    1. Sie beschreiben die Probleme ohne Lösung sehr treffend. Wenn wir nicht weiterwissen, Jahwe hat immer gute Ideen! Er ist immer für uns erreichbar und freut sich, wenn wir nach ihm rufen! Lieber Gruß Martin

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  5. Viele Menschen werden in Deutschland angefeindet oder sogar körperlich angegriffen, weil sie Christen sind. Die Anzahl der gläubigen Muslime Wächst in der EU Schritt für Schritt. Manche Experten sagen, dass 2025 jeder 7. EU-Bürger Muslim sein wird.

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  6. Merkels „deutsche Staatsräson“ und Karl Lagerfeld: „Nach dem Mord von Nazi-Deutschland an Millionen Juden könne die Bundesregierung heute nicht Millionen der schlimmsten Feinde der Juden ins Land holen.

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