Noch heute wacht Marko Feingold drei, vier Mal im Jahr schweißgebadet in der Nacht auf. „Man wird es nicht los“, sagt er über seine Erlebnisse in den Konzentrationslagern. Er habe nach 1945 Mut fassen müssen, zu erzählen, was sich abgespielt hat. Der erste Wunsch sei von katholischen Schwestern gekommen. „Die wollten wissen: Wie war das wirklich?“ Feingold, hochbetagt, erzählt seine Geschichte. Dabei ist er weder sentimental noch anklagend. Nein, er lässt hin und wieder Humor aufblitzen. Gerade so viel, als wolle er den tragischen Ereignissen, die er erlebte, etwas von ihrer zentnerschweren Last nehmen.
„Im Alter von 103 Jahren ist er zu erwarten“, sagt Feingold und richtet sich nach zwei Stunden Vortrag über sein Leben noch einmal auf für ein Pressefoto. Marko Feingold fürchtet sich nicht vor dem Tod. Er hat ihn in jungen Jahren oft gesehen, gerochen, seine kalte und harte Hand durch sadistische Helfershelfer mehrfach verspürt. „Wenn ich Glück habe, dauert‘s noch ein bisserl länger, bis die Stunde kommt“, sagt er sanft mit wienerischem Schmäh in der Stimme und gentlemanhaftem Charme. „Nein, fürchten tue ich mich nicht.“ Feingold strahlt, fein gekleidet, makellos frisiert und glatt rasiert sieht er neben der Schauspielerin und Moderatorin des Abends, Mirjam Weichselbraun, immer noch aus wie ein rüstiger Rentner in den 70ern. Die rund 300 Besucher der Veranstaltung am Donnerstag im Jüdischen Museum in Berlin haben sich am Ende des Vortrages aus Ehrfurcht von den Plätzen erhoben und applaudieren. Jedem hier ist klar: Da ist einer der letzen Zeitzeugen der Scho‘ah, der authentische Einblicke in diese furchtbare Zeit gegeben kann.
Vier Konzentrationslager überlebt
Der Jude Marko Feingold hat während des Nationalsozialismus gleich vier Konzentrationslager überlebt. Feingold wuchs in Wien auf. Dort absolvierte er ab 1927 eine Lehre zum kaufmännischen Angestellten. Nach dem Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich verlor er seine Arbeit und beschloss, gemeinsam mit seinem Bruder Ernst als Handelsvertreter in Italien seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Weil sein Pass abzulaufen drohte, ging er 1938 nach Wien zurück, wo er verhaftet wurde. Ihm gelang zunächst noch einmal die Flucht in die Tschechoslowakei, von dort wurde er aber nach Polen ausgewiesen, um erneut mit gefälschten Papieren nach Prag zurückzukehren. Dort wurde Feingold letztlich 1939 verhaftet und in das Konzentrationslager Auschwitz deportiert. Über die Konzentrationslager Neuengamme und Dachau kam er schließlich 1941 ins KZ Buchenwald. Dort erlebte er, abgemagert bis auf die Knochen, die Befreiung. „Es ist sinnlos, darüber zu sprechen, nur das Gehirn hat noch gearbeitet.“
Feingold erinnert sich an den Tag der Befreiung in Buchenwald, den 11. April 1945. Die SS-Wachleute hätten sich nach und nach aus dem Staub gemacht. Feingold sagt, dass die Selbstbefreiung von Buchenwald eine Lüge sei. „Nicht ein Wort ist wahr“, sagte der 103-Jährige. „In keinem Buch, das in Ostdeutschland gedruckt wurde, steht, wie die Selbstbefreiung stattgefunden hat“, sagte er den rund 300 Zuhörern. „Aber sie wird immer erwähnt, und in den Schulen in Ostdeutschland ist es immer hervorgehoben worden. Kein Mensch in Ostdeutschland will heute zur Kenntnis nehmen, dass das nicht stimmt.“ Marko Feingold hat die Hölle überlebt, sein Bruder Ernst wurde vergast.
„Es hat sich nichts geändert“
Seit 1945 lebt Marko Feingold in Salzburg. Traurig stimmt die Zuschauer eine Einschätzung des Scho‘ah-Überlebenden: „Es hat sich nichts geändert“, sagt Feingold. „Der Antisemitismus ist in ganz Österreich, auf der ganzen Welt geblieben, wie er war.“ Damit er alle Zweifel, die aufkommen könnten, aus der Welt schaffen kann, nimmt Feingold zu den Vorträgen einen Koffer mit. Darin bewahrt er Dokumente auf, mit denen er alles belegen kann. Feingold äußert sich anerkennend über die Aufarbeitung der Scho‘ah in Deutschland: „Ihr seid‘s Berliner, und ich bin Österreicher. Das traut man sich bei uns nicht zu machen. Ihr habt viel mehr aufgearbeitet wie wir. Auch nicht genug, aber viel mehr.“ In Österreich habe man alles belassen, denn „wir sind verschwägert mit den kriminellen Verbrechern, den kriminellen Attentätern – da hat einer den anderen geschützt“.
Seine Lebensgeschichte hat Feingold 2012 veröffentlicht. Das Buch trägt den Titel „Wer einmal gestorben ist, dem tut nichts mehr weh“. (nob)Religiöse Leiter aus Israel besuchen Auschwitz (inn)
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