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Zum Abriss freigegeben – Die letzte Phase des Gazarückzugs

Viel erzählt der Sprecher der israelischen Armee nicht, wenn er Journalisten durch den Gusch Katif fährt – oder durch das, was von den blühenden israelischen Siedlungen noch übrig geblieben ist. Fast täglich bietet die israelische Armee Reportern diese Touren an – aber die meisten Journalisten kommen aus Israel. In der Weltöffentlichkeit haben die verblüffend ähnlichen Bilder aus New Orleans die Story von der Siedlungsräumung längst verdrängt.

Die meisten Wohnhäuser sind mittlerweile dem Erdboden gleich gemacht. Auf öffentlichen Gebäuden, Synagogen und einzelnen Einrichtungen, die zur Infrastruktur gehören, wie etwa Wasserreservoirs, ist in grüner Farbe auf Hebräisch „Nicht zum Abriss“ aufgesprüht. Gerade über die Frage, was mit den Synagogen geschehen soll, wird noch immer heftig in der israelischen Öffentlichkeit diskutiert. Jetzt soll das Oberste Gericht Israels entscheiden, ob die israelische Armee tun darf, was das jüdische Volk seinen Verfolgern Jahrhunderte lang als traumatische Erfahrung vorgeworfen hat: Synagogen zerstören.

Aber das meiste, was ohne schützende Militär-Graffiti war, liegt zerstört am Boden. Zerzaust und mitgenommen, wie nach einem Wirbelsturm, ragen Baumreste zwischen den Trümmerhaufen hervor. Davor stehen eine Esszimmereinrichtung oder eine Wohnzimmergarnitur, aber auch andere brauchbare Materialien wie Fensterrahmen, Dachlatten oder Dachziegel, säuberlich in Plastikfolie eingespannt, die noch darauf warten, abgeholt zu werden. Israel hinterlässt den Palästinensern außer der Infrastruktur, das heißt Straßen, Wasser- und Stromleitungen, nichts Brauchbares. Auch die Straßenlaternenpfosten werden abgebaut.

Tiefe Löcher zeugen davon, dass der „Keren Kajemet LeIsrael“, der Jüdische Nationalfonds, der für die Aufforstung des Landes Israel zuständig ist, mehr als 1.000 ausgewachsene Bäume ausgegraben hat, um sie nach Israel umzupflanzen. Auch der Johannesbrotbaum am Eingang von Kfar Darom, der an die Ermordung des Ortsrabbiners Schimon Biran erinnerte, ist samt der Gedenktafel an den tragischen 27. Mai 1992 verschwunden. Überall, an Mauern und Betonklötzen steht: „Wir werden zurückkehren und uns rächen!“ Und: „Scharon, die Würmer warten schon!“ Oder: „Scharon, fahr zur Hölle!“

Die Synagoge von Kfar Darom ist gezeichnet von den schwersten Handgemengen, die es im Rahmen der Siedlungsräumung gab. Alles ist voller Müll, Wasserflaschen, Stacheldraht, gebrauchte Kinderwindeln, eine Trillerpfeife, und das alles überzogen von einer Schicht aus Staub, getrockneter Farbe und anderen undefinierten Flüssigkeiten. In den Damentoiletten sind die Kloschüsseln ausgebaut und stehen vor der jeweiligen Tür zum Abholen bereit. Unten, im Gottesdienstraum betet ein einsamer Soldat. Auf dem Dach liegt unter Müll begraben, zerfetzt und verbogen, das riesige Schild, das auf der Fassade des Gotteshauses noch vor wenigen Wochen in die Welt hinaus geschrieen hatte: „Kfar Darom wird kein zweites Mal fallen!“

Die israelischen Häuser entlang der traditionellen Nord-Süd-Hauptverkehrsstraße des Gazastreifens haben den schweren Bulldozern der israelischen Armee offensichtlich erfolgreicheren Widerstand geboten als andere Gebäude. Wegen des ständigen Beschusses und der Bedrohung durch Raketen- und Bombenangriffe war hier jedes Haus eine Festung. Jetzt stehen Bauarbeiter mit Presslufthämmern auf den noch stehenden unteren Stockwerken und tragen, Brocken um Brocken, die Bunker ab.

Reger Verkehr belebt die Straßen des Gusch Katif. Israelische Urlauber oder Demonstranten werden nicht mehr in das Gebiet gelassen, das die israelische Armee bis Mitte September vollkommen geräumt und den Palästinensern übergeben haben will. Auch Journalisten dürfen nur noch in organisierten Gruppen einreisen. Aber Fuhrunternehmer und Kranfahrer, Abbruchunternehmen und sogar einige ehemalige Bewohner, die im August so medienwirksam aus ihren Häusern gezerrt wurden, bewegen sich offensichtlich frei in den Siedlungen, um alles mitzunehmen, was noch irgendwie verwendbar ist.

Wo einst das einzige Hotel des Gusch Katif, „Maos HaJam“, am schönsten und menschenleersten Strand Israels stand, durchstöbern Muwassi-Beduinen die Trümmer. Sie laden Zaunreste, Holz und verbogene Fensterrahmen auf einen alten Mercedes-Lastwagen und den Karren, der hinter einem mürrisch vor sich hinkauenden Esel steht. Der Esel trägt das orange Band der Abzugsgegner am Halfter. Suleiman plappert fröhlich in hebräischer Sprache auf die neugierigen Reporter ein. Die Muwassi waren für ihre guten Beziehungen mit den israelischen Siedlern bekannt. Jetzt erzählt er in die Fernsehkamera, wie froh er sei, endlich wieder sein Land betreten zu dürfen – und meldet damit neben vielen anderen palästinensischen Arabern seine Besitzrechte an.

In Neveh Dekalim, der größten Siedlung im Gusch Katif, ist es dasselbe Bild. Auf der Straße liegt die orange Flagge des Gusch Katif in den Staub getreten. In der Synagoge hat sich ein Graffiti-Künstler viel Mühe gegeben: „Wir werden wieder zurückkehren!“ Auf dem Boden des Gebets- und Lehrhauses, das jeder Einrichtung entkleidet ist, liegen zwei Plakate: „Wer aus den Wehen des Messias gerettet werden will, vertiefe sich in die Torah!“ Die Bilder zeigen die Feinde des jüdischen Volkes: Römer, Kreuzfahrer, Nazis und muslimische Kämpfer, die betende Juden angreifen. An der Wand des zweiten, daneben liegenden Gebetsraumes steht auf Arabisch an die Wand gekritzelt: „Hamas“. Offensichtlich haben sich schon erste Spähtrupps aus den nahe gelegenen Palästinenserstädten in die weitgehend geräumte Siedlung vorgewagt.

Am Ortsrand von Neveh Dekalim sind die beiden israelischen Soldaten, die uns begleiten, plötzlich verschwunden. Irgendwie haben wir sie verloren. Meterhohe Betonmauern schützen die jüdische Siedlung vor Beschuss der palästinensischen Nachbarn. Ein israelischer Merkava-Panzer schwenkt nervös sein Geschützrohr hin und her. Und dann liegt vor uns in Rufweite das palästinensische Flüchtlingslager Chan Junis. Von den Dächern der kahlen, mehrstöckigen Beton- und Hohlblockbauten wehen palästinensische Flaggen und vor allem die grüne Fahne der radikal-islamischen Hamasbewegung, die nur zu gerne das Machtvakuum im Gazastreifen ausfüllen würde.

Zwei palästinensische Polizisten lösen sich aus dem Gewirr der zerschossenen Häuserfronten und stapfen gemächlich durch die Sanddünen auf die Journalistengruppe und den hinter ihnen stehenden israelischen Panzer zu. Streng orientalisch werden ausgiebig die Hände geschüttelt und Höflichkeitsformeln ausgetauscht, bevor sie in aller Seelenruhe erklären: „Eigentlich schade, dass uns das israelische Verbindungsbüro nicht Bescheid gesagt hat, dass ihr kommt. Dann hätten wir uns vorbereiten können und müssten Euch jetzt nicht warnen, dass hier scharf geschossen wird.“ Mit einem Handschlag verabschieden sie sich freundlich und marschieren wieder nach Chan Junis zurück.

Auf dem Rückweg zum Militärbus tauchen unsere beiden israelischen Militärsprecher wieder auf und meinen, sie hätten uns nicht begleiten können, weil sie das Gelände dort oben neben dem Panzer ohne kugelsichere Westen nicht betreten dürften. Die Ruhe um den israelischen Gazarückzug kann nach europäischen Maßstäben höchstens als „relativ“ bezeichnet werden. Täglich wird im Gazastreifen geschossen, täglich fallen palästinensische Raketen und Granaten auf israelisch kontrolliertes Gebiet. Dass die Palästinenser bislang nicht getroffen haben, ist für beide Seiten von Vorteil: Die israelische Regierung kann ihren Bürgern auch weiterhin klarmachen, dass der Rückzug keine Flucht unter Feuer ist, während die palästinensischen Freiheitskämpfer ihrer Bevölkerung beweisen können, dass sie die unschlagbare israelische Armee vertreiben.

Zu den Fotos von Johannes Gerloff

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