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Wohlwollende Kritik der messianisch-jüdischen Bewegung

Als "unterstützende Kritik der messianisch-jüdischen Bewegung" war der Vortrag gedacht, den Dan Juster in der zweiten Septemberwoche im Jerusalemer Caspari-Zentrum hielt. Im Spannungsfeld zwischen Judentum und Christentum, in den Führungsstrukturen der Bewegung, die heute weltweit nach eigenen Angaben mehrere Hunderttausend Mitglieder haben soll, und in der Liturgie sieht der amerikanisch-stämmige Theologe eine ganze Reihe von Fragen, die er liebevoll-kritisch unter die Lupe nahm.

Die messianisch-jüdische Bewegung hat ihre Wurzeln in der amerikanischen Jesus-Bewegung der 1970er Jahre. Die zentrale Aussage, die bei allen Unterschieden wohl alle Mitglieder dieser mittlerweile weltweiten Bewegung unterschreiben könnten, ist: Juden, die an Jesus als den Messias Israels glauben, sind dazu berufen, sich als Teil ihres Volkes zu identifizieren, so Juster. Dabei redet der Jesus-gläubige Jude, wie viele seiner Glaubensgenossen, nicht von „Jesus“, sondern verwendet auch im Englischen die hebräische Form dieses Namens: „Yeshua“.

Daniel C. Juster zählt sich selbst seit 1972 zur messianisch-jüdischen Bewegung und ist heute Direktor von „Tikkun International“, „einem Netzwerk von Emissären in Israel und weltweit, die sich um die Wiederherstellung Israels und die Einheit von Juden und Nichtjuden im Leib des Messias“ bemüht. Neun Jahre lang hat der promovierte Theologe als Generalsekretär der Union messianisch-jüdischer Gemeinden fungiert, deren Gründungsdirektor er auch ist. 22 Jahre war er Seniorpastor der „Beth Messiah Congregation“ und Mitbegründer des „Messiah Biblical Institute“ mit Zweigstellen in mehreren Ländern.

„Jüdisches Leben muss in der Torah verwurzelt sein“, erläuterte Juster zunächst seinen eigenen Standpunkt. Allerdings müsse diese Bindung an das Wort der unter Christen als „Altes Testament“ bekannten Heiligen Schrift „im Rahmen einer Ordnung des Neuen Bundes umgesetzt werden. Yeshua muss das Zentrum unseres Lebens, unserer Liturgie und unserer Lehre sein.“

Nicht alles halten, was in der Bibel steht

Als Herausforderung, welche die messianisch-jüdische Existenz ständig begleitet, sieht Juster das Verhältnis von Torah, Neuem Bund, Gnade und Gesetz. Niemand glaube heute, „dass wir alles halten müssen, was in der Bibel geschrieben steht. Selbst ultra-orthodoxe Juden bringen heute keine Tieropfer mehr.“ Andererseits würde es selbst von Christen de facto als selbstverständlich akzeptiert, dass auch Aussagen des Alten Testaments, die nicht explizit im Neuen Testament unterstrichen werden, nach wie vor Gültigkeit haben. So werden beispielsweise die alttestamentlichen Inzestgesetze im Neuen Testament nirgendwo angesprochen. Trotzdem sind diese Allgemeingut der christlichen Ethik.

Christliche wie jüdische Tradition sieht Juster mit kritischer Freundlichkeit: „Es gibt viel Weisheit in der Kirchengeschichte, gerade auch, wo es um die Umsetzung des Gesetzes geht.“ Gleichzeitig plädiert er als messianischer Jude für eine kritische Anwendung des rabbinischen Judentums, besonders der Dinge, die „gut und schön“ sind.

Mit Stirnrunzeln sieht der 62-Jährige die bindungsscheue und anti-intellektuelle Orientierung weiter Teile der Bewegung, deren Großteil nach wie vor in den USA beheimatet ist. In der Diskussion um die charismatische Erneuerung müsse unterschieden werden, was „rein kulturell bedingte Ausdrucksformen“, was „schlicht Spinnerei“ sei und wo es tatsächlich um eine echte Manifestation des Heiligen Geistes gehe.

Kritik an messianischer Liturgie

Im Bereich der Liturgie der messianischen Bewegung bemängelt Dr. Juster, dass „unsere freie Anbetung inhaltslos ist“, und schlägt vor, die Anbetung der Wesley-Brüder oder des Grafen Zinzendorf neu zu entdecken und anzufangen, „unsere Theologie wieder zu singen. Dabei muss das Zentrum Leben, Tod, Auferstehung und Wiederkunft Yeshuas sein.“

Ein großes Problem sieht Dan Juster darin, dass sich „Leute der messianisch-jüdischen Bewegung aus falscher Motivation anschließen. Sie kommen nicht, weil sie einen speziellen Ruf für das jüdische Volk haben, sondern weil sie das traditionelle Christentum als Kompromiss mit dem Heidentum ablehnen.“ Als ganz verheerend sieht er die so genannte Ephraim-Bewegung, die behauptet, europäische und nordamerikanische Christen seien die Nachfahren der verschollenen zehn Stämme des israelitischen Nordreiches und sollten sich deshalb des messianisch-jüdischen Bewegung anschließen.

Die messianisch-jüdische Bewegung in den Vereinigten Staaten hat eindeutig Maßstäbe für die Bewegung in Russland, Europa, Lateinamerika und Israel gesetzt. Einzigartig für Lateinamerika ist das Marranen-Problem. Während der mittelalterlichen Judenverfolgungen wurden viele Juden in Spanien zum Übertritt ins Christentum gewaltsam gezwungen. Viele praktizierten ihren Glauben im Untergrund. Laut Juster gibt es bis heute echte krypto-jüdische Traditionen in spanisch- und portugiesischsprachigen Familien. Andererseits stellt sich aber die Frage, wie mit denjenigen Menschen umzugehen ist, die zwar für sich einen Marrannen-Hintergrund behaupten, diesen aber nicht belegen können. Eine besondere Herausforderung sieht er zudem gegenüber Judenchristen, die in traditionellen Kirchen eine Heimat gefunden haben. Er will sie dazu ermutigen, ihre jüdische Identität zu erkennen und auszuleben, ohne dadurch die Kirchen zu entfremden.

In Israel beobachtet er eine „atemberaubende Leidenschaft“ unter jungen Leuten, die es geschafft haben, durch die Armeezeit hindurch an ihrem Glauben an Jesus festzuhalten. Probleme der messianisch-jüdischen Bewegung im jüdischen Staat identifiziert er aufgrund des charismatisch-anticharismatischen Schismas und in einer Ekklesiologie der Unabhängigkeit, die sich niemandem unterordnen wolle. Fatal sei schließlich die Einstellung, dass das Leben im Land Israel, eine zionistische Einstellung und die Beherrschung der hebräischen Sprache ein Ersatz für die Auseinandersetzung mit der Frage der Stellung der Torah und des rabbinischen Judentums sei: „Auch im Land Israel müssen wir unsere geistigen Väter ehren.“ Die anti-traditionelle und anti-rabbinische Einstellung werde im modernen Staat Israel noch dadurch genährt, dass man sich dort nicht automatisch an eine heidnische Umwelt assimiliert, wenn man jüdische Traditionen vernachlässigt.

Neue Gemeinden in Äthiopien

Die Identitätsbildung äthiopisch-stämmiger Israelis, die an Jesus glauben, ist ein ganz neues Feld, das bislang innerhalb der messianisch-jüdischen Bewegung so nicht vorhanden war. Dr. Dan Juster berichtet von zwei neuen messianisch-jüdischen Gemeinden in Äthiopien. Das Besondere dieser Gemeinden sei, dass sie tatsächlich 100-prozentig jüdisch sind – während viele messianisch-jüdische Gemeinden in Israel, Russland, Europa und Amerika einen großen Anteil von nichtjüdischen Gemeindegliedern haben. Juster sieht bei all diesen Konfliktpunkten eine „große Notwendigkeit an Dialog, Denkarbeit und Gebet“.

Im Nachgespräch zu dem Vortrag, der von etwa 20 Interessierten besucht wurde, wurden Fragen einer messianisch-jüdischen Halacha (Ordnung für das tägliche Leben), der apostolischen Sukzession und des nicht unproblematischen Verhältnisses der messianisch-jüdischen Bewegung mit der Missionsorganisation „Jews for Jesus“ (Juden für Jesus) angesprochen. „Erst in jüngster Zeit hat Jews for Jesus jüdische Gläubige aufgefordert, sich nicht in ihrer nicht-jüdischen Umwelt zu assimilieren“, erklärte Juster, der persönlich eine sehr gute Beziehung mit dem Missionswerk pflegt.

In seiner Funktion als Vorstandsmitglied der Initiative „Toward Jerusalem Council II“, die einen Dialog zwischen messianischen Juden und der römisch-katholischen Kirche betreibt, besuchte Dr. Juster vor ein paar Jahren Rom. Bei einer Begegnung im Vatikan meinte der damalige Kardinal Josef Ratzinger: „Wenn ihr Leute seid, wer ihr vorgebt zu sein, dann ist die Wiederkunft Jesu näher, als wir dachten.“

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