Was Juden und Christen miteinander verbindet

Als Reiseleiter war der Schoa-Überlebende Israel Yaoz oft mit Christen in Israel unterwegs. Das brachte ihn zum Nachdenken über Gemeinsamkeiten und Unterschiede der jüdischen und christlichen Tradition.
Von Israelnetz
Israel Yaoz (1928–2018)

Der 2018 verstorbene Holocaust-Überlebende Israel Yaoz befasste sich intensiv mit dem Verhältnis von Juden und Christen. Nachstehend dokumentiert Israelnetz einen seiner Vorträge in redigierter Form; der Vortrag behandelt moralische Schnittmengen zwischen Judentum und Christentum.

Liebe Freunde!

Die meisten Stellungnahmen erhält man von frommen Christen, von wiedergeborenen Christen oder von wiedergeborenen messianischen Juden; ich selbst bin ein durchschnittlicher Jude, ein Nachkomme vom Stamme Levi. Von der jüdischen Gemeinde wurden Priester und Leviten immer sehr hoch geschätzt. So ist es nur verständlich, dass diese Kaste über viele Jahrhunderte hindurch stolz darauf war, die Erinnerung an ihre edle Abstammung aufrecht zu erhalten.

Als Reiseführer in Israel habe ich die Ehre, viele christliche Gruppen begleiten zu dürfen. Ich kam zu dem Ergebnis, dass das Christentum sowie das Judentum ein und dieselbe Botschaft verkünden. Zweitausend Jahre lang haben Christen genauso wie Juden aus welchen Gründen auch immer die Unterschiede ihrer Anschauung hervorgehoben. Sie versuchten, ihren Standpunkt zu beweisen, aber niemand unterstrich, was wir gemeinsam haben, und das ist wesentlich mehr als das, was uns trennt.

Viel zu oft gab es zerstörerische Mächte, welche die Oberhand bekamen und das Feuer des Hasses schürten, welches dann auch schließlich im Holocaust seinen Höhepunkt erreichte. Es brauchte diese schreckliche Tragödie, um zum Nachdenken zu kommen und nach Antworten zu suchen auf die Frage: Wie und warum konnte so etwas geschehen?

Im zwölften Jahrhundert schrieb der bekannte Rabbiner Jehuda Halevi (circa 1074–1141): Das Christentum und der Islam sind Vorbereitungen auf die letzten messianischen Tage, Früchte des Baumes (Israel), den sie schließlich und endlich als ihre Wurzel anerkennen müssen, auch wenn sie es zur Zeit noch ignorieren.

Im dreizehnten Jahrhundert verkündete der französische Rabbiner Menachem Me’iri (ben Salomo, 1249–1306), dass diejenigen, welche die sieben Gesetze Noahs einhalten, den gleichen Anteil am Ewigen Leben erhalten, wie wir Juden, die auf die 613 Gebote verpichtet sind, die uns von Mose überliefert wurden (vergleiche Genesis 9,11–3 sowie der Talmudtraktat Sanhedrin 56a/b). [Die Gesetze Noahs sind: keinen Götzendienst begehen, nicht Gott (ver)fluchen, nicht morden, nicht stehlen, keine Sexualverbrechen begehen, nicht grausam mit Tieren umgehen, Rechtspflege üben.]

Missionierung im Dialog?

Eine oft diskutierte Frage in christlichen Kreisen lautet, ob es erlaubt sei, im Rahmen eines Dialoges mit Juden zu missionieren, oder ob dies vielleicht sogar erwünscht sei. Das Wort Dialog bedeutet, dass eine Angelegenheit zwischen zwei gleichwertigen Partnern diskutiert wird; sobald eine Missionierung anfängt, sind es keine gleichwertigen Partner mehr.

Vielleicht gibt es dann eine Diskussion, aber keinen Dialog mehr. Wenn wir zu den frühesten Stufen der Christenheit zurückblicken, entdecken wir, dass Jesus und seine Lehren von unzähligen Juden willkommen geheißen wurden; wenn wir die Geschichte der Speisung der Fünftausend lesen, lernen wir, dass sie kamen, um seine Worte zu hören, nicht um mit Nahrung versorgt zu werden. In Wirklichkeit wussten diese Tausenden (Frauen und Kinder nicht mitgerechnet) nicht, als sie früh morgens kamen, dass Jesus ihnen an diesem Abend zu essen geben würde.

Juden hörten Jesus und jubelten ihm zu

Wer waren diese Leute? Kanaaniter? Heiden? Philister? Römer? Griechen? Nein! Es waren Juden, fromme Juden, die täglich in ihre Synagogen gingen. Aus welchen Menschen bestand die Menge, die bei der Bergpredigt zuhörte? War Pontius Pilatus unter ihnen? Nein! Juden und nur Juden!

Wer waren diese vielen Menschen, die ihm bei seinem triumphalen Einzug in die Heilige Stadt, nach Jerusalem, zujubelten? Wer waren die Kranken auf den Tragen, die zu ihm nach Genezareth gebracht wurden, und wer waren die Leute, die sie trugen? Juden und nur Juden!

Wer waren die Männer, die ihn einluden und aufforderten, in ihre Synagogen zu kommen, um dort auch vor ihren Gefährten zu predigen? Wer waren die Töchter Jerusalems, die ihn auf seinem Weg nach Golgatha beklagten? Wer kümmerte sich um sein Begräbnis? Ein frommer Jude.

Wer waren die Apostel? Wer waren die ersten Leute, die an seine Auferstehung glaubten (bis zur Taufe des Hauptmannes Cornelius)? Welchen Glauben hatten seine Geschwister? Wie hoch war doch diese Zahl von Juden im Vergleich zu einer Handvoll Politiker und Hohepriester, die aus Furcht vor den Römern oder eben, um diese zufriedenzustellen, ihn der Willkür eines blutrünstigen und absoluten Herrschers, wie Pontius Pilatus einer war, auslieferten. Und zu guter Letzt frage ich mich, über wen Jesus sprach, als er sagte: Was immer ihr dem geringsten meiner Brüder getan habt, das habt ihr mir getan! (Matthäus 25,40–46)

Ohne Talmud wäre Judentum veraltet

So wenden wir uns nun dem geringsten seiner Brüder zu und fragen uns: Wie christlich ist das rabbinische Judentum? Ich beziehe mich hier auf das Judentum der letzten zweitausend Jahre. Das Judentum der letzten zweitausend Jahre bedeutet das Alte Testament plus Talmud; ohne die Lehren des Talmuds wäre das Judentum eine veraltete Religion, die sich nur um das Opfern von hunderten, von tausenden von Tieren im Tempel von Jerusalem dreht, um Gott zu dienen.

Siebzig Stiere wurden insgesamt am Laubhüttenfest im Tempel geschlachtet. Wenn aber der Talmud uns lehrt, dass dies in der Absicht geschah, stellvertretend für die siebzig Völker der Welt befreundete genauso wie feindselige, benachbarte wie entfernte und unbekannte Völker Gott um Vergebung zu bitten, dann zeugt dies von einer noch nie da gewesenen moralischen Gesinnung (vergleiche im Talmud den Traktat Sukka 55b).

Der Talmud diskutiert auf vielen Paginas das Zitat: Auge um Auge, Zahn um Zahn (Exodus 21,24); eine Aussage, die jedoch niemals von den beteiligten Gelehrten wörtlich genommen wird. Im Gegenteil handelt es sich um Fragen der finanziellen Entschädigung: Wäre diese Person ein Sklave, wie hoch wäre seine Wertminderung, wie viel wäre für seine medizinische Behandlung nötig, wie hoch wäre der Verlust durch einen Arbeitsausfall? und so weiter. Man addiert das Ganze und verlangt dann die entsprechende Summe.

Vermutlich deutete auch Jesus diese Stelle genauso, als er sie in seiner Bergpredigt zitierte. Er plädiert bei seinen Zuhörern jedoch dafür, nicht einmal eine finanzielle Entschädigung zu verlangen, um einen endlosen Kreis des Feilschens zu verhindern (zum Beispiel Matthäus 5,28–32). Die Einzigen, die diesem Text eine tendenziöse Wertung gaben, waren diejenigen, welche die Juden des Alten Testaments verunglimpfen wollten, und welche sich so von ihnen zu distanzieren versuchten, obwohl das Alte Testament ja auch ein Teil ihres Kanons ist.

Pessach und Ostern als Feste derBefreiung

Das Passahfest (Pessach) ist das Fest zur Erinnerung an die Befreiung Israels aus der Knechtschaft in Ägypten. Ostern ist für das Christentum das Fest der Befreiung aus der Knechtschaft der Sünde. Während des Sederabends, des festlichsten Abendmahls des jüdischen Jahres, rezitiert der Familienvater die zehn Plagen, die Ägypten befielen.

Jedes Mitglied der Familie, auch das allerjüngste Kind, taucht seinen kleinen Finger in das Glas Wein, das vor ihm steht und träufelt einen Tropfen daneben; insgesamt zehnmal wird jeweils ein Tropfen Wein vergossen, um auf symbolische Art und Weise auszudrücken, dass man niemals Freude am Leid eines Anderen haben darf, auch dann nicht, wenn der Andere sein schlimmster Feind ist. (Ich kann Ihnen versichern, dass niemand in Israel glücklich darüber ist, wenn Palästinenser im Gazastreifen oder an anderen Grenzen getötet werden.)

Der Talmud sagt, dass die Engel im Himmel beginnen wollten, Gott eine Hymne zu singen und zu jubeln, weil Er die gottlosen Ägypter ertrinken ließ; aber Gott rügte sie: Meine Geschöpfe sterben und da wollt ihr singen? (Talmudtraktate Megillah 10b und Sanhedrin 39b) Wie kann Gott die bösen Ägypter als seine Geschöpfe bezeichnen?!

Solche Midraschim, moralische Erzählungen im Talmud, berühren die Seele eines Volkes mehr, als die Geschichten aus der Bibel. Die Bibel sagt uns, dass die Ägypter bis auf den letzten Mann ertranken; im Deutschen, genauso wie im Hebräischen, bleibt die Frage offen, ob auch der allerletzte Mann ertrank; der Talmud behauptet, dass der Pharao der letzte Mann war, der überlebte; ihm wurde bewusst, wer der wahre Gott ist, er tat Buße und wurde ein gottesfürchtiger Mann.

Die jüdische Tradition legt dem Pharao folgende Worte in den Mund: Wer ist wie Du unter den Göttern? (vergleiche Exodus 15,11) Dieser Midrasch löst auch ein Problem für einen gläubigen Juden: Wie könnte irgendein Jude, sei es Mose oder Mirjam, auch nur in Erwägung ziehen, dass es Götter geben könnte? Nein, es war der überlebende Pharao, der diese Worte ausrief!

All das ist schon sehr lange her, so lasst uns zu jüngeren Tagen übergehen. Lasst uns einen Brief lesen, den Papa Joseph, ein einfacher jüdischer Holzfäller in Polen, an seine Kinder schrieb, einige Tage, bevor er von den Nazis ermordet wurde.

Lesko, 6. September 1942

Liebe Kinder,

ich teile euch mit, dass ich mich aufgerafft habe, meine Lage zu beschreiben. Und zwar ist der Ort Ustrzyki Dolne[1] gestern ausgesiedelt worden. Heute gehen alle Männer, Frauen und Kinder von hier weg. . . so wie die Leute von Ustrzyki Dolne. Wir gehen nicht weit in ein Dorf bei Linsk.[2]

Dort arbeitet unser Samuel schon die ganze Zeit, und man sagt, dass dort 3.000 arbeitsfähige Männer zurückbleiben sollen, und der Rest wird von der örtlichen Bevölkerung gefangen genommen und für eine Belohnung den Nazis übergeben. Aus der ganzen Region Sanik (Sanok) werden circa 15.000 Seelen ausgesiedelt. Nun versteht ihr schon meine Lage, und die aller Juden.

Es scheint mir, dass seit der Zeit der Zerstörung Jerusalems etwas Ähnliches nicht passiert ist. Das heißt, liebe Kinder, dass, soweit wir feststellen müssen, dieser Brief ein Abschiedsbrief ist, und zwar ein Abschied von Euch und auch von dieser Welt. Denn solche Leute wie ich haben nichts mehr zu erwarten.

Aber bei uns im Talmud steht: Sogar wenn ein scharfes Schwert auf dem eigenen Hals liegt, darf man auf göttliche Gnade hoffen (Talmudtraktat Berachot 10a). Der Allmächtige, gesegnet sei Er, kann noch eingreifen, wenn der Brief Euch noch beizeiten erreicht. Wie wir mit unseren irdischen Augen sehen, ist das alles vom Himmel beschlossen. Wenn es ein göttlicher Beschluss ist, muss jeder Jude es mit Liebe auf sich nehmen, und sich dessen bewusst sein, dass er ein Sühneopfer (Akedah, so heißt die Opferung Isaaks durch Abraham)[3] ist, für sich und ganz Israel. Wenn dies der Wille des Schöpfers ist, ist es nicht zu vermeiden.

Liebe Kinder, ihr sollt bloß nicht meinen, dass ich völlig verzweifelt bin, denn solange man die Augen offen hat, gibt es Hoffnung. Allenfalls könnte der Schöpfer der Welt noch Rettung bringen. Ihr Kinder, wenn der Allmächtige, gesegnet sei Er, euch retten wird, und ihr mit Seinem Willen überleben werdet, sollt ihr nicht vergessen, dass ihr einen Vater gehabt habt auf dieser Welt, und du, Mosche,[4] sollst einen Zettel (das heißt einen Gebetszettel für die Klagemauer) in meinen Namen einem Zaddik[5] geben, der von den weißrussischen Chassiden abstammt, und wenn Schlomo am Leben bleibt und gesund sein wird, sage ihm Ähnliches, und dann wird er schon wissen, was zu tun ist. Ich schreibe euch auch die Adresse von unserem Israel auf: I. Weiss, Ben Jehudastr. 161, Tel Aviv, PALÄSTINA.

Wenn du mit Gottes Hilfe überleben wirst, sollt ihr auch sofort Kontakt aufnehmen mit ihm. Schreibt ihm, er solle zu meinem Gedächtnis ein Gebet beten an den Heiligen Stätten. Wenn der große Lehrer von Leipzig noch da ist, sollt ihr zu meinem Gedächtnis einen Brief an ihn senden. Ihr Kinder sollt beim rechten Glauben bleiben und Eure Jiddischkeit pflegen und darauf vertrauen, dass der Allmächtige Euch helfen wird, und Ihr noch Gutes erwarten dürft. Ich hoffe bei Gott, dass Ihr jungen Kinder das Gute auch sehen werdet. Ich bitte Euch, mich nicht zu vergessen, und auch den Schöpfer nicht, und dass Ihr bis zum Ende Eurem Judentum treu bleiben werdet.

Liebe Feitsche, ich verstehe jetzt Deine unglückliche Lage, aber was kann ich dafür, dass Du in so einer sündigen Generation geboren wurdest. Du hast noch nicht angefangen zu leben, von dem Moment, an dem Du geboren bist, bis zum heutigen Tag. Aber wenn der Ewige helfen wird, und Du überleben wirst, wirst Du die schöne Seite des Lebens noch genießen. Nur möge der Herr Dich hüten vor jeder Versuchung. Bete zum Herrn, und erwähne, dass Du noch nicht gesündigt hast, und Er möge Dir helfen.

Jetzt, liebe Kinder, habe ich nicht mehr viel Zeit zum Schreiben. Verbleibt gesund und stark, und vergesst den Allmächtigen nicht bis zur letzten Minute, und auch mich nicht. Aber wenn Gott uns helfen wird, werden wir uns wieder begegnen, denn bei Gott ist alles Licht. Ihr sollt euch auch das Leben nicht nehmen, denn es ist ein Geschenk vom Himmel. Ich bete nur, Ihr Kinder, dass Er Euch helfen wird, und dass ihr nicht in Versuchung kommt. Wenn Ihr am Leben bleibt, sollt Ihr an Samuel Leb schreiben, in der Stadt. . . in der Region Sanik. Ich nehme an, dass er dort weiterarbeiten wird. Bleibt gesund und stark. Ich grüße euch mit vielen Küssen. Dieser Brief soll Euch einst erinnern, dass Ihr je mal einen Vater gehabt habt auf dieser Welt. Ich wünsche Euch Kindern zum kommenden Neujahr eine gute Einschreibung und Versiegelung (im himmlischen Buch des Lebens). Ein gutes und gesegnetes Jahr, von Eurem Papa Joseph.

Brief im Bibelseminar

Aufgrund der Intifada in den Jahren 2001 bis 2005 konnte ich meiner Arbeit als Reiseführer in Israel nicht nachgehen und so reiste ich zweimal die Woche nach Jerusalem, um an einem Bibelseminar teilzunehmen. Am Holocaust-Gedenktag widmete unsere Lehrerin ihren Unterricht dieser Katastrophe und las uns den oben angeführten Brief vor; er war auf Jiddisch in hebräischer Schreibschrift geschrieben.

Es war der originale Brief, den ihr Großvater Joseph geschrieben hatte, einige Tage bevor er liquidiert wurde, gemeinsam mit so vielen anderen Juden. Ich bat sie um Erlaubnis, den Brief kopieren zu dürfen und versuchte, ihn in richtiges Deutsch zu übersetzen. Dabei traf mich besonders die Tatsache, dass jeder Satz des Vaterunsers auf die eine oder andere Art und Weise in diesem Brief vertreten ist. Und das, obwohl dieser Mann, ein frommer Jude, sicherlich noch nie dieses Gebet gehört, geschweige denn gelesen hatte:

Vater unser, der Du bist im Himmel, geheiligt werde Dein Name, Dein Reich komme, Dein Wille geschehe, wie im Himmel so auf Erden, unser tägliches Brot gib uns heute und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern, und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen (zum Beispiel Matthäus 6,9–13).

Ich wiederhole, jedes Wort dieses Gebets ist im oben angeführten Brief vertreten, sogar das Gebot, nachsichtig zu sein gegenüber unseren Feinden. Kein Wort wie Feind, keine Deutschen, keine Nazis, keine Rache, kein Fluch, kein Blut. . . nur die Frage: Was können wir dafür, dass wir in einer solch sündigen Generation leben? Was die Frage offen lässt, wer ist sündig: Sie? Ich? Er? Wir?

Als meine Enkelin sechs Jahre alt und in der ersten Klasse der Volksschule war, wurde ein Großvater am Holocaust-Gedenktag eingeladen, den Kindern von den Leiden während der Verfolgung zu berichten; am Ende frage er die Kinder, ob sie irgendwelche Fragen hätten. Natürlich meldete sich zuerst niemand. . . doch meine Enkelin zeigte auf! Was möchtest du fragen? Sie sagte: Wenn ich eine kleine Sünde begehe, kann ich die ganze Nacht nicht schlafen; wie konnten die Deutschen schlafen?

Der Brief und diese Frage zeugen von der gleichen Gesinnung. . . wie diese Tropfen Wein am Passahabend, so wie Gottes Rüge gegen Seine Engel, so wie der wiedergeborene Pharao. . . Ich möchte noch einmal betonen, dieser einfache Holzfäller aus den Wäldern Polens war weder ein Rabbiner noch ein Gelehrter, sondern nur ein frommer Jude, so wie Hunderttausende, wenn nicht Millionen, die dem Pfad Gottes folgten.

Keine Freude über Tod des Feindes

In einem weiteren Midrasch[6], diesmal mit Bezug zum Laubhüttenfest (Sukkot) sowie dem Fest der Wochen (Schavuot), trägt uns die Bibel dreimal auf: Seid fröhlich an eurem Fest (Deuteronomium 16,11.14; Levitikus 23,40). Jedoch hinsichtlich des Passahfestes wurde nicht geboten: Du sollst jubeln! Warum nicht? Weil so viele Ägypter starben.

Überdies: Während der ganzen sieben Tage des Laubhüttenfestes beten wir die Lobpsalmen (Psalm 113–118). Aber am Passahfest beten wir sie nur am ersten Tag und in der vorhergehenden Nacht (siehe Matthäus 26,30). Warum? Weil geschrieben steht: Wenn dein Feind fällt, dann sei nicht schadenfroh, und wenn er stolpert, dann lass dein Herz sich nicht daran erfreuen (Sprüche 24, 17). Bleibt nur noch die Frage: Wie jüdisch ist das Neue Testament; wie christlich ist das Judentum?!

Als es 1982 der israelischen Armee gelang, Jasser Arafat und seine Anhänger (die PLO) zu zwingen, den Libanon zu verlassen und nach Libyen zu fliehen, begann der damalige israelische Premierminister Menachem Begin (1913–1992), der ja als besonders stur galt, seine offizielle Ansprache in der Knesset mit den Worten: Ich habe heute Vieles zu berichten, aber erinnern wir uns an das Wort aus der Schrift: Wenn dein Feind fällt, dann sei nicht schadenfroh, und wenn er stolpert, dann lasse dein Herz sich nicht daran erfreuen.

Von Israel Yaoz sel. A.

Zum Autor

Israel Yaoz ist 1928 in Gelsenkirchen geboren. Während des Nationalsozialismus musste er in die Niederlande fliehen; von 1943 bis 1945 war er im Konzentrationslager Bergen-Belsen inhaftiert. Israel ist der einzige Schoa-Überlebende seiner siebenköpfigen Familie. 1948 wanderte er aus den Niederlanden nach Israel aus, wo er zuerst seinen Militärdienst leistete. Später wurde er Reiseleiter und half über fünf Jahrzehnte lang mit großem Engagement deutschsprachigen und besonders christlichen Reise- und Pilgergruppen dabei, unbekannte Aspekte und Dimensionen Israels und des Judentums, und damit auch die Wurzeln des christlichen Glaubens, zu entdecken. Er verstarb im Frühjahr 2018.

Der Vortrag wurde am 5. Januar 2013 persönlich von Israel Yaoz kommuniziert. Er wurde aus Gründen der Verständlichkeit posthum redigiert und herausgegeben von Nicolas Dreyer, Otto-Friedrich-Universität Bamberg. Besonderer Dank gilt den Hinterbliebenen von Israel Yaoz, die 2018 die Genehmigung für eine Veröffentlichung seines Vortrages erteilten, sowie Frau Brigitta Rosema (Karlsruhe) für die Verbindung zur Familie Yaoz in Israel. Ebenso gebührt Herrn Shimon Briman (Universität Haifa) Dank für seine Unterstützung beim Verständnis des im Vortrag von Israel Yaoz zitierten jiddischsprachigen Briefes.


[1] Die im Brief erwähnten Ortschaften, die große jüdische Bevölkerungsanteile hatten, liegen in der polnischen Region Karpatenvorland in Galizien. Die Region wurde im September 1939 teils von der deutschen Wehrmacht, und teils von der Roten Armee besetzt; die Grenze verlief entlang des Flusses San. Die Ortschaft Lesko, die eine jüdische Bevölkerung von ungefähr 60 Prozent hatte, befand sich zuerst unter sowjetischer Herrschaft. Im Juni 1941 wurde das Gebiet von der deutschen Wehrmacht besetzt. In der folgenden Zeit wurde die jüdische Bevölkerung in Ghettos und Arbeitslager (zum Beispiel das Konzentrationslager Zaslav) gezwungen. Es begannen Erschießungen und die Massenvernichtung, vor allem in den Vernichtungslagern Belzec und Sobibor.

[2] Linsk war die Bezeichnung der jüdischen Bevölkerung für Lesko.

[3] Genesis 22,1–19; der hebräische Begriff Akedah meint präziser die Bindung Isaaks.

[4] Mosche und Feitsche sind die Namen des Sohnes und der Tochter des Verfassers des Briefes.

[5] Gerechter, Rechtschaffener; das geistliche Oberhaupt in chassidischen Dynastien.

[6] Jalkut Schimoni (Anthologie aus dem 12. Jahrhundert von Midraschim des Rabbiners Simon Kara) zum Kapitel 23 im Wochenabschnitt Emor (Sage [den Priestern], Levitikus 2124).

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4 Antworten

  1. Mir geht das Herz auf bei diesem Bericht. Das ist es, was ich hier oft schon moniert habe, dass man die Juden hier als die hinstellt, die nicht richtig glauben, nicht hören wollen, was ihnen von uns gepredigt wird und auch unser christlicher Glaube nicht dem entspricht, was Gott sich wünscht. Anstatt dies immer wieder zu proklamieren, sollten wir lieber schauen, was uns und unsere jüdischen Freunde verbindet, „das ist wesentlich mehr als das, was uns trennt.“
    Ich möchte meine jüdischen Freunde als gleichwertige Partner sehen und weise sie deshalb nicht zurecht, denn ich möchte beim Missionieren lieber oben beschriebenen Dialog als endlose Zeigefinger-Diskussionen.
    „Die Juden hörten Jesus und jubelten ihm zu.“ Das wird auch wieder so kommen.
    Und bis dahin liebe ich das jüdische Volk so wie es ist und bete für unser aller Errettung!
    Ella 🙏🎗🇮🇱

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  2. Was verbindet Juden und Christen miteinander? Alles, sagt unser Bischof, bester Bibelnenner von allen. Im Moment erleiden Christen und Juden das gleiche Schicksal: der Totalitarismus bedroht beide gleichermaßen.

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