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Vor Koalitionsverhandlungen: Vorprogrammierte Fehleinschätzung

Verzweifelt versuchen europäische Kommentatoren das Ergebnis der israelischen Parlamentswahlen in gemeinhin verständliche Raster zu pressen. Da ist vom "Rechtsruck" die Rede, der dann erklärt wird und dessen Folgen in düsteren Farben prognostiziert werden. Eine radikale Rechtsregierung unter Benjamin Netanjahu erscheint wie ein schwarzes Gespenst am Horizont des von einem "Friedensprozess" rosig gefärbten Polit-Firmaments. Doch bestehen diese Analysen angesichts der Realität in Israel?

Richtig ist, dass der Block säkularer Mitte-Links-Parteien von 39 Sitzen in der 16. Knesset auf jetzt 16 Mandate in der 18. Knesset geschrumpft ist. Gleichzeitig haben aber auch die so genannten „Siedlerparteien“ im gleichen Zeitraum 50 Prozent ihrer Mandate eingebüßt. Wenn man dann noch die Tatsache einbezieht, dass die Pensionärspartei – eine Partei für reine Protestwähler – gar nicht mehr vertreten ist, dann muss man der israelischen Wählerschaft einen Ruck in Richtung Vernunft und Zentrum bescheinigen.

Klischees nicht haltbar

Bei näherer Betrachtung widersprechen die Tatsachen den gängigen Klischees. Viele westliche Beobachter hatten auf einen Wahlsieg des „gemäßigten“ Duos Livni-Barak gehofft. Doch kein anderer hat die Palästinenser militärisch so hart angepackt wie der Sozialist Ehud Barak. Keine andere Partei hat so viele israelische Siedlungen im umstrittenen Westjordanland gebaut, wie die „linke“ Arbeitspartei. Und Zippi Livni stammt aus derselben „Kinderstube“ wie Benjamin Netanjahu – während dessen Regierungszeit übrigens so viel Land an die Palästinenser abgetreten wurde, wie unter keinem anderen israelischen Regierungschef.

Neben den nationalreligiösen Wahlverlierern sind die ultra-orthodoxen Parteien die „natürlichen“ Koalitionspartner Netanjahus. Doch das aschkenasische Torahjudentum vertritt eine Klientel, die grundsätzlich Schwierigkeiten mit einem jüdischen Staat hat. Von manchen dieser Ultraorthodoxen wird der moderne Staat Israel gar als Gotteslästerung aufgefasst, weil erst der Messias als politischer Führer des jüdischen Volkes auftreten soll. Und im Blick auf die sefardische Schas-Partei meinte der Friedensarchitekt Jossi Beilin mit Berufung auf einen engen Vertrauten des geistlichen Schas-Oberhauptes Rabbi Ovadia Josef: „Wenn man dem Rebbe klar machen kann, dass es gut für die Juden ist, Jerusalem an die Araber abzutreten, wird der auch einer Abgabe Jerusalems an die Araber zustimmen.“

Was bleibt also von der „rechten Einstellung“ dieser Parteien? Sie wollen vor allem die Finanzierung ihrer großen Familien, ihrer ultraorthodoxen Bildungseinrichtungen, den Schutz der jüdischen Ehe und Familie sowie der jüdischen Reinheitsgebote in der Öffentlichkeit sicherstellen – und sind da (nach Abzug des Judentums) letztendlich sozialistischer als die Sozialisten. Vergessen werden darf auch nicht, dass die Schas-Partei ein nicht geringes arabisches Wählerpotential hat. Die israelischen Araber fühlen sich den orientalischen Juden enger verbunden als den aus Europa oder Amerika stammenden Israelis.

„Schreckgespenst Lieberman“

Der große Wahlgewinner – und gleichzeitig das übergroße Schreckgespenst westlicher Beobachter – ist der Populist Avigdor Lieberman. Seine Partei „Israel Beiteinu“ („Israel, unsere Heimat“) hat von vier Sitzen in der 16. Knesset auf 11 Sitze in der zurückliegenden Legislaturperiode zugelegt und jetzt 15 Mandate errungen – oder, was noch beeindruckender klingt: mehr als 200 Prozent zugelegt. Der bullig und direkt auftretende Lieberman wohnt in der Siedlung Nokdim im Gusch Etzion (südlich von Jerusalem) und kann aufgrund seines schweren russischen Akzents seine Herkunft nicht verleugnen. Europäern fällt es nicht schwer, die Vorwürfe „Rassist“ oder „Faschist“ zu übernehmen, wenn der Politiker an die eine Million russischer Neueinwanderer appelliert.

Aber was bleibt nach Abzug des israelischen Wahlkampfes, der gemeinhin auch im persönlichen Bereich mit sehr harten Bandagen geführt wird? Dem alten Siedleraktivisten Eljakim HaEtzni aus Kirijat Arba bei Hebron fällt es sehr schwer, in Lieberman einen „Rechten“ zu erkennen: „Der ist doch für einen Palästinenserstaat und will Gebiete an die Palästinenser abtreten, die selbst der linken Meretz-Partei heilig sind!“

Lieberman will der demografischen Bedrohung des jüdischen Staates dadurch begegnen, dass er israelische Siedlungsgebiete im Westjordanland gegen Gebiete austauscht, die von israelischen Arabern bewohnt werden. In den vergangenen Jahren wurden zudem unter israelischen Arabern Stimmen laut, die ihrer Sympathie für Hisbollah-Führer Scheich Hassan Nasrallah oder die palästinensische Hamas offen Ausdruck verliehen haben. Diese Leute will er auf die palästinensische Seite schicken. Liebermans Slogan „Keine Staatsbürgerschaft ohne Loyalität“ ist nicht nur israelischen Juden sympathisch, sondern auch Nichtjuden, die dem Staat Israel gegenüber sehr loyal sind, wie etwa den Drusen.

Benjamin Netanjahu liegt daran, eine große Koalition zu erreichen. Wenn beispielsweise Ehud Barak Verteidigungsminister bliebe und Zippi Livni Außenministerin, gäbe ihm das vor allem im Blick auf das Ausland sehr viel mehr Handlungsspielraum. Zumindest fiele es Amerikanern und Europäern sehr viel schwerer, effektiven Druck auszuüben. Ob eine große Koalition der Mitte einen gravierenden Unterschied im Blick auf Israels Realpolitik machen würde, bleibt fraglich.

Einigkeit über Palästinenser

Die gesamte Bandbreite der israelischen Bevölkerung ist sich heute einig, dass man die Palästinenser loswerden will. Dazu braucht man einen Palästinenserstaat – ganz gleich, ob man das zu schaffende Gebilde nun „Staat“ oder „Autonomie“ nennen wird. Man ist sich auch einig, dass die Palästinenser niemals vollkommen unabhängig sein werden – und sich etwa iranische Militärberater ins Land holen oder gar eine Luftwaffe oder Panzerarmee aufbauen dürfen. Einig ist man sich in der israelischen Bevölkerung schließlich auch noch, dass der ständige Raketenbeschuss aus dem Gazastreifen nicht hinnehmbar ist.

Europäern und Amerikanern ist – als Gegengewicht zum palästinensischen Terror – vor allem die Siedlungspolitik Israels ein Dorn im Auge. Doch auch in dieser Frage gibt es höchstens aus der Perspektive einer verzerrten europäischen Wahrnehmung große Alternativen bei unterschiedlichen Koalitionsoptionen. Kein Kind auf israelischer Seite glaubt heute noch an „Land für Frieden“. Selbst der Friedensnobelpreisträger und Staatspräsident Schimon Peres hat eingestanden, dass der von ihm selbst befürwortete einseitige Rückzug aus dem Gazastreifen ein fataler Fehler war.

Die vielleicht größte Herausforderung der neuen Regierung Israels ist die atomare Bedrohung durch den Iran. Doch während in dieser Frage in Europa noch abgewogen und diskutiert wird, ist sich das israelische Volk auch hier einig: Vernichtungsdrohungen gegenüber dem jüdischen Volk und seinem Staat werden nach der Erfahrung des Holocausts nie mehr als leere Drohungen aufgefasst werden. Entscheidend ist im Blick auf den Iran, wie effektiv und konsequent die Bemühungen des Westens sein werden, zu verhindern, dass die Mullahkratie in Teheran zur Atommacht wird.

Bleibt noch die Innenpolitik in Israel. Und da zeichnet sich tatsächlich ein Unterschied ab, den verschiedenartige Koalitionen machen könnten. Erstmals in der Geschichte des modernen jüdischen Staates Israel steht eine Koalition der Mitte in Aussicht, die beispielsweise die Einführung einer Zivilehe durchsetzen könnte. Das bedeutete dann etwa, dass russische Israelis oder messianische Juden, die von keiner der traditionellen Religionsgemeinschaften Israels als „koscher“ betrachtet werden, nicht mehr ins Ausland reisen müssten, um heiraten zu können. Aber auch da gibt es Fragezeichen. Ausgerechnet Avigdor Lieberman, der (aus Sicht der Orthodoxen) die schweinefleischfressenden und wodkasaufenden Russen vertritt, wird eine enge Freundschaft mit dem ehemaligen Chef der orthodoxen Schas-Partei, Arijeh Deri, nachgesagt.

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